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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Viktor sehr

hatte, ist bekannt; mir eines, ein Großes freilich, fehlte: man kam über das
Gefühl nicht hinaus, einer Verlornen Kolonie anzugehören. Im übrigen waren
Petersburg und Rußland auch uuter der liberalisireuden Ära Alexanders II.
Hehn nicht annehmlicher geworden. Denn migeblendet durch deu Enthu¬
siasmus des Inlandes und den willfährigen Beifall des Westens durchschaute
er von Anbeginn die Hoffnungslosigkeit dieser Reformen, die nur eine neue
Art Potemkiuscher Dörfer, eine "Kulturmaskerade" zur Täuschung des euro¬
päischen Publikums waren.

Mit ganzer und wärmster Teilnahme dagegen verfolgte er das gleich¬
zeitige Aufsteigen Deutschlands. Er wartete nur auf den Eintritt seiner
Pensionsberechtigung, um im Herbst 1873 nach Berlin überzusiedeln. Hier
verbrachte er die siebzehn Jahre bis zu seinem Tode. Was er sich von Berlin
versprach, wurde ihm freilich in mehr als einer Hinsicht dort nur unvoll¬
ständig erfüllt. Zunächst mußte er dieselbe optische Täuschung büßen, der so
mancher andre die Begründung des neuen Reiches vom Auslande her an¬
sehende Deutsche unterlegen ist: er kam erfüllt mit den großen und schönen
Umrissen, in denen es sich ihm in der Ferne dargestellt hatte, und nun in
der Nähe stieß er hart auf so viel kleinliche, häßliche, unfertige Einzelformen,
auf die Schmach der Gründerzeit, auf den ganzen Lärm und Dunst deS in
Eile zur Großstadt sich umarbeitenden Berlins, die den der Stille gewöhnten nervös
zusammenzucken machten. Im Bürgertum mürrische Verkleinerungssucht oder
deutschtümelnde Prahlerei; im Parlament und in der Presse doktrinäre Phrasen,
in etwas andre Tonart übersetzt dieselben, die er an der Newa hatte verachten
lernen -- und wo, ja wo in aller Welt die läuternde, hebende, adelnde Wir¬
kung der großen Ereignisse auf die Nation? Auf so vielen Punkten enttäuscht,
verletzt, ^and er erst in der Reaktion einer scharfgespitzten Kritik einiges Be¬
hagen wieder. Er sah sich als alternden Mann in einer neuen Zeit, aber es
war viel zu viel Leben und Sinn für Realität in ihm, als daß er aufgehört
hätte, die fortrollende Bewegung mit eifrigem, zuweilen leidenschaftlichem An¬
teil zu verfolgen, und es schien ihm uicht sowohl eine Veränderung seiner
selbst als der Welt zu sein, wenn er, der entschiedne Freisinnige von ehedem,
jetzt als Reaktionär dastand, als den er sich ironisch selbst zu bezeichnen Pflegte.
Seine bleibende Überzeugung hat er noch in einer Vorrede vom Jahre 1887 bei¬
läufig dahin zusammengefaßt, daß "wahrhaft konservativ" soviel sei, wie "in
historischer Anknüpfung progressiv." Wir würden gegen Hehns Sinn handeln,
wollten wir bei dieser Gelegenheit über eine besondre Zielscheibe seiner Kritik
mit Schweigen hinweggleiten. Er gab einen nicht geringen Teil der ihn ab¬
stoßenden Erscheinungen im neuen Deutschland dem Umstande schuld, daß Ele¬
mente eines uus grundfremden Volkes, des jüdische"?, schneller und in größerer
Menge uns zuflössen, als wir uns um- und einzuschmelzen vermöchten; wie
es deun eines seiner Lieblingsprobleme war, dem Gegensatz zwischen semitischer


Viktor sehr

hatte, ist bekannt; mir eines, ein Großes freilich, fehlte: man kam über das
Gefühl nicht hinaus, einer Verlornen Kolonie anzugehören. Im übrigen waren
Petersburg und Rußland auch uuter der liberalisireuden Ära Alexanders II.
Hehn nicht annehmlicher geworden. Denn migeblendet durch deu Enthu¬
siasmus des Inlandes und den willfährigen Beifall des Westens durchschaute
er von Anbeginn die Hoffnungslosigkeit dieser Reformen, die nur eine neue
Art Potemkiuscher Dörfer, eine „Kulturmaskerade" zur Täuschung des euro¬
päischen Publikums waren.

Mit ganzer und wärmster Teilnahme dagegen verfolgte er das gleich¬
zeitige Aufsteigen Deutschlands. Er wartete nur auf den Eintritt seiner
Pensionsberechtigung, um im Herbst 1873 nach Berlin überzusiedeln. Hier
verbrachte er die siebzehn Jahre bis zu seinem Tode. Was er sich von Berlin
versprach, wurde ihm freilich in mehr als einer Hinsicht dort nur unvoll¬
ständig erfüllt. Zunächst mußte er dieselbe optische Täuschung büßen, der so
mancher andre die Begründung des neuen Reiches vom Auslande her an¬
sehende Deutsche unterlegen ist: er kam erfüllt mit den großen und schönen
Umrissen, in denen es sich ihm in der Ferne dargestellt hatte, und nun in
der Nähe stieß er hart auf so viel kleinliche, häßliche, unfertige Einzelformen,
auf die Schmach der Gründerzeit, auf den ganzen Lärm und Dunst deS in
Eile zur Großstadt sich umarbeitenden Berlins, die den der Stille gewöhnten nervös
zusammenzucken machten. Im Bürgertum mürrische Verkleinerungssucht oder
deutschtümelnde Prahlerei; im Parlament und in der Presse doktrinäre Phrasen,
in etwas andre Tonart übersetzt dieselben, die er an der Newa hatte verachten
lernen — und wo, ja wo in aller Welt die läuternde, hebende, adelnde Wir¬
kung der großen Ereignisse auf die Nation? Auf so vielen Punkten enttäuscht,
verletzt, ^and er erst in der Reaktion einer scharfgespitzten Kritik einiges Be¬
hagen wieder. Er sah sich als alternden Mann in einer neuen Zeit, aber es
war viel zu viel Leben und Sinn für Realität in ihm, als daß er aufgehört
hätte, die fortrollende Bewegung mit eifrigem, zuweilen leidenschaftlichem An¬
teil zu verfolgen, und es schien ihm uicht sowohl eine Veränderung seiner
selbst als der Welt zu sein, wenn er, der entschiedne Freisinnige von ehedem,
jetzt als Reaktionär dastand, als den er sich ironisch selbst zu bezeichnen Pflegte.
Seine bleibende Überzeugung hat er noch in einer Vorrede vom Jahre 1887 bei¬
läufig dahin zusammengefaßt, daß „wahrhaft konservativ" soviel sei, wie „in
historischer Anknüpfung progressiv." Wir würden gegen Hehns Sinn handeln,
wollten wir bei dieser Gelegenheit über eine besondre Zielscheibe seiner Kritik
mit Schweigen hinweggleiten. Er gab einen nicht geringen Teil der ihn ab¬
stoßenden Erscheinungen im neuen Deutschland dem Umstande schuld, daß Ele¬
mente eines uus grundfremden Volkes, des jüdische«?, schneller und in größerer
Menge uns zuflössen, als wir uns um- und einzuschmelzen vermöchten; wie
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/316>, abgerufen am 26.06.2024.