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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Viktor Hehn

und arischer Naturnulage in die Tiefen nachzuspüren (sehr schön z. B. in den
letzten zwei Seiten der "Gedanken über Goethe"). Ihm, dem Sohne eines
Grenzlandes, in dem der Deutsche mit Finnen, Letten und Slawen zusammen¬
stößt, war der Blick für fremdes Volkstum besonders geschärft, und er rea-
girte bei der Berührung damit empfindlicher, in Sympathie wie in Antipathie,
als es deu Binneulandsbewohnern geläufig ist. Ein ungünstiges Vorurteil in
der in Frage stehenden Richtung war ihm, soviel wir sehen, von Haus aus nicht
eigen. Gegen die Unterdrückung der Juden in Rußland ist er wiederholt nud
mit Nachdruck publizistisch aufgetreten (Baltische Monatsschrift Band 7, Heft 6,
Band 8, Heft 5) und einen im Jahre 1862 geschriebenen Aufsatz "Blick auf
die Geschichte der Juden in Europa" (ebenda, Band 6, Heft 2) schloß er mit
dem Ausdruck guter Hoffnungen für ihre Entwicklung mit und in dein
deutschen Volke. Allerdings in Berlin und in den siebziger Jahren stimmten
sich ihm diese Hoffnungen beträchtlich herab. Wir haben diesen Punkt nicht
übergehen wollen, weil bei dem Erscheinen seiner "Gedanken über Goethe" ein
Teil der Presse ihn mit dem Rufe: ein Antisemit! kurzweg abthun zu können
glaubte. Er war Antisemit, wie er Reaktionär war.

Wir kommen an ein weiteres Kapitel der Enttäuschung. Hehn war mit
dem Wunsche nach Berlin gekommen, rüstig weiter zu arbeiten. Er empfand
die hohe Anerkennung, mit der seine "Kulturpflanzen und Haustiere" auf¬
genommen worden waren, wie ein nodlssss obliZs. Seine Geisteskräfte waren
ungeschwächt, die dem Alter nie ersparten Plagen nicht allzu unfreundlich.
Aber es stellten sich äußere Schwierigkeiten seinem Vorsatz entgegen, die zu
überwinden ihm nicht gelang. In Se. Petersburg hatte er inmitten eines nie
versagenden, vom Publikum wenig benutzten Bücherschatzes, fast wie deren
Alleinherr, an der Spitze eiuer Schar von Handlangern gewaltet. Hier in
Berlin war er, da er eine eigne Büchersammlung nicht besaß, sowenig als die
Mittel, sie sich noch anzulegen, allein auf die königliche Bibliothek angewiesen,
deren Geschäftsgang forderte, daß jedes einzusehende Werk einen Tag zuvor
bestellt werde, deren starke Frequenz fortwährende Kollision in der Benutzung
unvermeidlich machte, die ein brauchbares Lesezimmer damals noch nicht besaß.
Diesen Hemmungen sich geduldig zu fügen, sich eine ganz neue auf sie angepaßte
Arbeitstechnik auszubilden, fühlte er sich nicht mehr imstande, und so mußte
er sich darein ergeben, sein wissenschaftliches Lebenswerk mit einem vorzeitigen
Feierabend zu schließen. Die 1874 erschienene kulturgeschichtliche Studie über
das Salz war ein im wesentlichen schon in Petersburg entstandenes Neben¬
erzeugnis, das Buch über Italien (1879) ein Wiederabdruck älterer Auf¬
sätze, die Sammlung "Gedanken über Goethe" (1887) Bruchstück von Bruch¬
stücken.

Viktor Hehn war Junggesell, und vielleicht wird mancher oder manche
daraus gewisse in seinen Schriften unverkennbare Schroffheiten psychologisch


Viktor Hehn

und arischer Naturnulage in die Tiefen nachzuspüren (sehr schön z. B. in den
letzten zwei Seiten der „Gedanken über Goethe"). Ihm, dem Sohne eines
Grenzlandes, in dem der Deutsche mit Finnen, Letten und Slawen zusammen¬
stößt, war der Blick für fremdes Volkstum besonders geschärft, und er rea-
girte bei der Berührung damit empfindlicher, in Sympathie wie in Antipathie,
als es deu Binneulandsbewohnern geläufig ist. Ein ungünstiges Vorurteil in
der in Frage stehenden Richtung war ihm, soviel wir sehen, von Haus aus nicht
eigen. Gegen die Unterdrückung der Juden in Rußland ist er wiederholt nud
mit Nachdruck publizistisch aufgetreten (Baltische Monatsschrift Band 7, Heft 6,
Band 8, Heft 5) und einen im Jahre 1862 geschriebenen Aufsatz „Blick auf
die Geschichte der Juden in Europa" (ebenda, Band 6, Heft 2) schloß er mit
dem Ausdruck guter Hoffnungen für ihre Entwicklung mit und in dein
deutschen Volke. Allerdings in Berlin und in den siebziger Jahren stimmten
sich ihm diese Hoffnungen beträchtlich herab. Wir haben diesen Punkt nicht
übergehen wollen, weil bei dem Erscheinen seiner „Gedanken über Goethe" ein
Teil der Presse ihn mit dem Rufe: ein Antisemit! kurzweg abthun zu können
glaubte. Er war Antisemit, wie er Reaktionär war.

Wir kommen an ein weiteres Kapitel der Enttäuschung. Hehn war mit
dem Wunsche nach Berlin gekommen, rüstig weiter zu arbeiten. Er empfand
die hohe Anerkennung, mit der seine „Kulturpflanzen und Haustiere" auf¬
genommen worden waren, wie ein nodlssss obliZs. Seine Geisteskräfte waren
ungeschwächt, die dem Alter nie ersparten Plagen nicht allzu unfreundlich.
Aber es stellten sich äußere Schwierigkeiten seinem Vorsatz entgegen, die zu
überwinden ihm nicht gelang. In Se. Petersburg hatte er inmitten eines nie
versagenden, vom Publikum wenig benutzten Bücherschatzes, fast wie deren
Alleinherr, an der Spitze eiuer Schar von Handlangern gewaltet. Hier in
Berlin war er, da er eine eigne Büchersammlung nicht besaß, sowenig als die
Mittel, sie sich noch anzulegen, allein auf die königliche Bibliothek angewiesen,
deren Geschäftsgang forderte, daß jedes einzusehende Werk einen Tag zuvor
bestellt werde, deren starke Frequenz fortwährende Kollision in der Benutzung
unvermeidlich machte, die ein brauchbares Lesezimmer damals noch nicht besaß.
Diesen Hemmungen sich geduldig zu fügen, sich eine ganz neue auf sie angepaßte
Arbeitstechnik auszubilden, fühlte er sich nicht mehr imstande, und so mußte
er sich darein ergeben, sein wissenschaftliches Lebenswerk mit einem vorzeitigen
Feierabend zu schließen. Die 1874 erschienene kulturgeschichtliche Studie über
das Salz war ein im wesentlichen schon in Petersburg entstandenes Neben¬
erzeugnis, das Buch über Italien (1879) ein Wiederabdruck älterer Auf¬
sätze, die Sammlung „Gedanken über Goethe" (1887) Bruchstück von Bruch¬
stücken.

Viktor Hehn war Junggesell, und vielleicht wird mancher oder manche
daraus gewisse in seinen Schriften unverkennbare Schroffheiten psychologisch


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[0317] Viktor Hehn und arischer Naturnulage in die Tiefen nachzuspüren (sehr schön z. B. in den letzten zwei Seiten der „Gedanken über Goethe"). Ihm, dem Sohne eines Grenzlandes, in dem der Deutsche mit Finnen, Letten und Slawen zusammen¬ stößt, war der Blick für fremdes Volkstum besonders geschärft, und er rea- girte bei der Berührung damit empfindlicher, in Sympathie wie in Antipathie, als es deu Binneulandsbewohnern geläufig ist. Ein ungünstiges Vorurteil in der in Frage stehenden Richtung war ihm, soviel wir sehen, von Haus aus nicht eigen. Gegen die Unterdrückung der Juden in Rußland ist er wiederholt nud mit Nachdruck publizistisch aufgetreten (Baltische Monatsschrift Band 7, Heft 6, Band 8, Heft 5) und einen im Jahre 1862 geschriebenen Aufsatz „Blick auf die Geschichte der Juden in Europa" (ebenda, Band 6, Heft 2) schloß er mit dem Ausdruck guter Hoffnungen für ihre Entwicklung mit und in dein deutschen Volke. Allerdings in Berlin und in den siebziger Jahren stimmten sich ihm diese Hoffnungen beträchtlich herab. Wir haben diesen Punkt nicht übergehen wollen, weil bei dem Erscheinen seiner „Gedanken über Goethe" ein Teil der Presse ihn mit dem Rufe: ein Antisemit! kurzweg abthun zu können glaubte. Er war Antisemit, wie er Reaktionär war. Wir kommen an ein weiteres Kapitel der Enttäuschung. Hehn war mit dem Wunsche nach Berlin gekommen, rüstig weiter zu arbeiten. Er empfand die hohe Anerkennung, mit der seine „Kulturpflanzen und Haustiere" auf¬ genommen worden waren, wie ein nodlssss obliZs. Seine Geisteskräfte waren ungeschwächt, die dem Alter nie ersparten Plagen nicht allzu unfreundlich. Aber es stellten sich äußere Schwierigkeiten seinem Vorsatz entgegen, die zu überwinden ihm nicht gelang. In Se. Petersburg hatte er inmitten eines nie versagenden, vom Publikum wenig benutzten Bücherschatzes, fast wie deren Alleinherr, an der Spitze eiuer Schar von Handlangern gewaltet. Hier in Berlin war er, da er eine eigne Büchersammlung nicht besaß, sowenig als die Mittel, sie sich noch anzulegen, allein auf die königliche Bibliothek angewiesen, deren Geschäftsgang forderte, daß jedes einzusehende Werk einen Tag zuvor bestellt werde, deren starke Frequenz fortwährende Kollision in der Benutzung unvermeidlich machte, die ein brauchbares Lesezimmer damals noch nicht besaß. Diesen Hemmungen sich geduldig zu fügen, sich eine ganz neue auf sie angepaßte Arbeitstechnik auszubilden, fühlte er sich nicht mehr imstande, und so mußte er sich darein ergeben, sein wissenschaftliches Lebenswerk mit einem vorzeitigen Feierabend zu schließen. Die 1874 erschienene kulturgeschichtliche Studie über das Salz war ein im wesentlichen schon in Petersburg entstandenes Neben¬ erzeugnis, das Buch über Italien (1879) ein Wiederabdruck älterer Auf¬ sätze, die Sammlung „Gedanken über Goethe" (1887) Bruchstück von Bruch¬ stücken. Viktor Hehn war Junggesell, und vielleicht wird mancher oder manche daraus gewisse in seinen Schriften unverkennbare Schroffheiten psychologisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/317>, abgerufen am 26.06.2024.