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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Viktor sehr

Adel des Landes im oomwvrowrn und oormbium stehen; manchen sagte man
nach, daß sie sich mehr mit ihrem Grundbesitz als ihrer geistlichen Herde zu
schaffen machten; viele waren als Gelehrte geschätzt, auch litterarisch thätig,
wofür Ed. Winkelmanns Libliotlisvii I^vorlas IiiZtoricii reichliche Belege giebt.
Länger als in Deutschland, bis ziemlich tief in dieses Jahrhundert (bei den
Ältern zum Teil durch die Nähe von Königsberg und Kant veranlaßt) stand
der Rationalismus in Blüte, und Hehns Vater that nichts Beispielloses, als
er, um sich selbst treu zu bleiben, seinem geistlichen Amt entsagte und eine"
bürgerlichen Beruf (als Jurist) ergriff. So mag der antiromantische Zug
und der relative Mangel an Fühlung mit der christlichen Welt, den wir in
Hehns Schriften wahrnehmen, schon in der Luft des Vaterhauses gelegen
haben; um so herrischer war darin die Verehrung der klassischen Dichtung,
der griechisch-römischen wie der deutschen, Goethes zumal. Im Jahre 1830
begann Hehn an der Landesuniversität Dorpat Philologie und Geschichte zu
studiren. Dann, in Berlin, zog ihn die Hegelsche Philosophie in ihren Zauber¬
kreis. Hegel mit Geringschätzung zu behandeln, ist seit geraumer Zeit Sitte,
Hehn dagegen bekannte sich bis zum Ende ihm zu großem Danke verpflichtet.
Mit Hegelscher Terminologie hat er seine Schriften nie verunziert, höchstens
daß er in Parenthese hie und da einmal auf sie verweist; in welchem Sinne
er aber Hegelsche Anschauungen in sich fortleben fühlte, läßt beispielsweise die
Vorrede zu "Italien" (zweite Auflage) erkennen oder das dritte Kapitel aus
den "Gedanken über Goethe."

Um die Mitte der vierziger Jahre, uach Überwindung einer Zwischen¬
existenz als Gymnasiallehrer in dem Landstädtchen Pernau, wurde Hehn
Lektor der deutschen Sprache und Litteratur an der Universität Dorpat.
Es galt,'diese bis dahin unvertretenen Fächer erst einzubürgern. Der akade¬
mische Erfolg war glänzend, aber kurz, Selbst die Ostseeprovinzen waren nicht
zu tief in politisches Stillleben versunken, um nicht von der Bewegung des
Jahres 1848, natürlich nur im Geiste, nicht in der That, einen Widerhall zu
verspüren. Eine geistreiche, warmherzige Frau, die Baronin Vrüningk, ge-
borne Fürstin Liven, in deren Hause in Dorpat Viktor Hehn freundschaftlich
aus- und eingegangen war, machte auf einer Reise in Deutschland die Bekannt¬
schaft einiger Radikalen, durch die sie bestimmt wurde, die Flucht Gottfried
Kinkels mit einem Geldbeitrag zu unterstützen. Die Folge war, in der freie"
Stadt Hamburg, ein Überfall preußischer Geheimpolizei, die die in Beschlag
genommenen Papiere an die russische weitergab. Darunter fanden sich nun
Briefe Viktor Hehns. Er wurde in Dorpat verhaftet und in die Residenz
gebracht. In einer unter dem Wasserspiegel der Newa gelegenen Käsematte,
in strengster Absperrung, in der Tracht und mit der Kost eines gemeinen
Verbrechers wartete er seines Urteils -- wochenlang. Da die Untersuchung
nicht das geringste gegen die Verdächtigte" ergab -- mit Hehn zugleich war


Viktor sehr

Adel des Landes im oomwvrowrn und oormbium stehen; manchen sagte man
nach, daß sie sich mehr mit ihrem Grundbesitz als ihrer geistlichen Herde zu
schaffen machten; viele waren als Gelehrte geschätzt, auch litterarisch thätig,
wofür Ed. Winkelmanns Libliotlisvii I^vorlas IiiZtoricii reichliche Belege giebt.
Länger als in Deutschland, bis ziemlich tief in dieses Jahrhundert (bei den
Ältern zum Teil durch die Nähe von Königsberg und Kant veranlaßt) stand
der Rationalismus in Blüte, und Hehns Vater that nichts Beispielloses, als
er, um sich selbst treu zu bleiben, seinem geistlichen Amt entsagte und eine»
bürgerlichen Beruf (als Jurist) ergriff. So mag der antiromantische Zug
und der relative Mangel an Fühlung mit der christlichen Welt, den wir in
Hehns Schriften wahrnehmen, schon in der Luft des Vaterhauses gelegen
haben; um so herrischer war darin die Verehrung der klassischen Dichtung,
der griechisch-römischen wie der deutschen, Goethes zumal. Im Jahre 1830
begann Hehn an der Landesuniversität Dorpat Philologie und Geschichte zu
studiren. Dann, in Berlin, zog ihn die Hegelsche Philosophie in ihren Zauber¬
kreis. Hegel mit Geringschätzung zu behandeln, ist seit geraumer Zeit Sitte,
Hehn dagegen bekannte sich bis zum Ende ihm zu großem Danke verpflichtet.
Mit Hegelscher Terminologie hat er seine Schriften nie verunziert, höchstens
daß er in Parenthese hie und da einmal auf sie verweist; in welchem Sinne
er aber Hegelsche Anschauungen in sich fortleben fühlte, läßt beispielsweise die
Vorrede zu „Italien" (zweite Auflage) erkennen oder das dritte Kapitel aus
den „Gedanken über Goethe."

Um die Mitte der vierziger Jahre, uach Überwindung einer Zwischen¬
existenz als Gymnasiallehrer in dem Landstädtchen Pernau, wurde Hehn
Lektor der deutschen Sprache und Litteratur an der Universität Dorpat.
Es galt,'diese bis dahin unvertretenen Fächer erst einzubürgern. Der akade¬
mische Erfolg war glänzend, aber kurz, Selbst die Ostseeprovinzen waren nicht
zu tief in politisches Stillleben versunken, um nicht von der Bewegung des
Jahres 1848, natürlich nur im Geiste, nicht in der That, einen Widerhall zu
verspüren. Eine geistreiche, warmherzige Frau, die Baronin Vrüningk, ge-
borne Fürstin Liven, in deren Hause in Dorpat Viktor Hehn freundschaftlich
aus- und eingegangen war, machte auf einer Reise in Deutschland die Bekannt¬
schaft einiger Radikalen, durch die sie bestimmt wurde, die Flucht Gottfried
Kinkels mit einem Geldbeitrag zu unterstützen. Die Folge war, in der freie»
Stadt Hamburg, ein Überfall preußischer Geheimpolizei, die die in Beschlag
genommenen Papiere an die russische weitergab. Darunter fanden sich nun
Briefe Viktor Hehns. Er wurde in Dorpat verhaftet und in die Residenz
gebracht. In einer unter dem Wasserspiegel der Newa gelegenen Käsematte,
in strengster Absperrung, in der Tracht und mit der Kost eines gemeinen
Verbrechers wartete er seines Urteils — wochenlang. Da die Untersuchung
nicht das geringste gegen die Verdächtigte» ergab — mit Hehn zugleich war


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[0314] Viktor sehr Adel des Landes im oomwvrowrn und oormbium stehen; manchen sagte man nach, daß sie sich mehr mit ihrem Grundbesitz als ihrer geistlichen Herde zu schaffen machten; viele waren als Gelehrte geschätzt, auch litterarisch thätig, wofür Ed. Winkelmanns Libliotlisvii I^vorlas IiiZtoricii reichliche Belege giebt. Länger als in Deutschland, bis ziemlich tief in dieses Jahrhundert (bei den Ältern zum Teil durch die Nähe von Königsberg und Kant veranlaßt) stand der Rationalismus in Blüte, und Hehns Vater that nichts Beispielloses, als er, um sich selbst treu zu bleiben, seinem geistlichen Amt entsagte und eine» bürgerlichen Beruf (als Jurist) ergriff. So mag der antiromantische Zug und der relative Mangel an Fühlung mit der christlichen Welt, den wir in Hehns Schriften wahrnehmen, schon in der Luft des Vaterhauses gelegen haben; um so herrischer war darin die Verehrung der klassischen Dichtung, der griechisch-römischen wie der deutschen, Goethes zumal. Im Jahre 1830 begann Hehn an der Landesuniversität Dorpat Philologie und Geschichte zu studiren. Dann, in Berlin, zog ihn die Hegelsche Philosophie in ihren Zauber¬ kreis. Hegel mit Geringschätzung zu behandeln, ist seit geraumer Zeit Sitte, Hehn dagegen bekannte sich bis zum Ende ihm zu großem Danke verpflichtet. Mit Hegelscher Terminologie hat er seine Schriften nie verunziert, höchstens daß er in Parenthese hie und da einmal auf sie verweist; in welchem Sinne er aber Hegelsche Anschauungen in sich fortleben fühlte, läßt beispielsweise die Vorrede zu „Italien" (zweite Auflage) erkennen oder das dritte Kapitel aus den „Gedanken über Goethe." Um die Mitte der vierziger Jahre, uach Überwindung einer Zwischen¬ existenz als Gymnasiallehrer in dem Landstädtchen Pernau, wurde Hehn Lektor der deutschen Sprache und Litteratur an der Universität Dorpat. Es galt,'diese bis dahin unvertretenen Fächer erst einzubürgern. Der akade¬ mische Erfolg war glänzend, aber kurz, Selbst die Ostseeprovinzen waren nicht zu tief in politisches Stillleben versunken, um nicht von der Bewegung des Jahres 1848, natürlich nur im Geiste, nicht in der That, einen Widerhall zu verspüren. Eine geistreiche, warmherzige Frau, die Baronin Vrüningk, ge- borne Fürstin Liven, in deren Hause in Dorpat Viktor Hehn freundschaftlich aus- und eingegangen war, machte auf einer Reise in Deutschland die Bekannt¬ schaft einiger Radikalen, durch die sie bestimmt wurde, die Flucht Gottfried Kinkels mit einem Geldbeitrag zu unterstützen. Die Folge war, in der freie» Stadt Hamburg, ein Überfall preußischer Geheimpolizei, die die in Beschlag genommenen Papiere an die russische weitergab. Darunter fanden sich nun Briefe Viktor Hehns. Er wurde in Dorpat verhaftet und in die Residenz gebracht. In einer unter dem Wasserspiegel der Newa gelegenen Käsematte, in strengster Absperrung, in der Tracht und mit der Kost eines gemeinen Verbrechers wartete er seines Urteils — wochenlang. Da die Untersuchung nicht das geringste gegen die Verdächtigte» ergab — mit Hehn zugleich war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/314>, abgerufen am 26.06.2024.