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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Viktor Hehn

Macht; nicht eine, sondern die Voraussetzung menschlicher und europäischer
Bildung; der feste Maßstab für die wechselnden Gestaltungen des Heute und
Morgen.

Zum andern, nach seinem Blute, war er Livländer. Ein Sohn des
deutsche" Kvlvnisteustnmmes, an dessen Wurzel, nachdem er siebenhundert Jahre
aufrecht gestanden hat, nun die mörderische Axt gelegt ist. Deutschland ist
dieser Kolonie nicht nur eine ohnmächtige, sondern anch eine vergeßliche Mutter
gewesen. Wer hat, bis vor kurzem, im mindesten darnach gefragt, was hier
von deutschem Geistesleben sich fvrtzeugte? Freilich, seine Kräfte^ wurden fast
nnsnahmslvs vom russischen Ervbererstnate aufgebraucht, in der Verwaltung,
der Diplomatie, dem Heere. Immer blieb noch ein Überschuß von Thätigkeit
ans idealem Gebiete, deren Umkreis in der Universität Dorpat und der Se. Peters¬
burger Akademie der Wissenschaften -- was wäre diese ohne ihre baltischen
Mitglieder? -- noch nicht beschlossen ist. Als der Verfasser dieser Zeilen vor
etlichen Jahren das Verzeichnis der auswärtigen Mitglieder des InMwt <>o
l^-anve durchblätterte, fand er unter den acht ans das russische Reich
fallenden nicht weniger als vier seiner baltischen Landsleute. Erst in den
letzten zwei Jahrzehnten haben die Deutschen der Ostseeprovinzen, im eignen
Lande mit alleu Martern des geistigen Todes bedroht, in ziemlicher Zahl sich
nach Deutschland gewendet und damit einige Aufmerksamkeit auf ihren Stamm
gelenkt. Aber es ist dafür gesorgt, daß man bald wieder aufhören wird von
baltischen Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern zu sprechen: sie werden nicht in
Rußland, nicht in Deutschland, am wenigsten in den Ostseeprovinzen selbst zu
finden sein.

Was Viktor Hehn ein Pietätsrecht erworben hat, nicht vergessen zu werden,
sind seine übrigens nichts weniger als zahl- oder umfangreichen Schriften. Es
giebt Bücher, darunter vorzügliche, die für uns nichts als Bücher sind, und deren
Lesung keine Frage nach der Person ihres Verfassers zurückläßt. Viktor Hehns
Bücher sind keine von diesen; jede Zeile in ihnen ist von einem starken Duft per¬
sönlichen Wesens durchdrungen. Wessen Persönlichkeit aber wäre zu verstehen ohne
Kenntnis des Bodens und der Luft, in der sie groß wurde? Ein Nekrolog in
der Münchner Allgemeinen Zeitung (Beilage zum 11. April d. I.) giebt von
Lebensnachrichten über ihn ziemlich dasselbe, was auch wir in Erfahrung ge¬
bracht habe". Viktor Hehn war geboren zu Odenpäh bei Dorpat den
8. Oktober 1813. Die Familie stammte von einem gegen die Mitte des acht¬
zehnten Jahrhunderts (beiläufig bemerkt: die Zeitgrenze, um die der bis dahin
ziemlich stetige Strom deutscher Einwanderung sehr dünn zu werden begann) aus
Franken berufenen Geistlichen und Schulmann. Landpfarrer war auch Hehns
Vater. Die gesellschaftliche Stellung der baltischen Pastoren war noch mehr,
als sie es ist, von der ihrer Standesgenossen in Deutschlnud gründlich
verschieden, was sich äußerlich unter anderm darin kundgiebt, daß sie mit dein


Greiizbvten III 1L90 M
Viktor Hehn

Macht; nicht eine, sondern die Voraussetzung menschlicher und europäischer
Bildung; der feste Maßstab für die wechselnden Gestaltungen des Heute und
Morgen.

Zum andern, nach seinem Blute, war er Livländer. Ein Sohn des
deutsche» Kvlvnisteustnmmes, an dessen Wurzel, nachdem er siebenhundert Jahre
aufrecht gestanden hat, nun die mörderische Axt gelegt ist. Deutschland ist
dieser Kolonie nicht nur eine ohnmächtige, sondern anch eine vergeßliche Mutter
gewesen. Wer hat, bis vor kurzem, im mindesten darnach gefragt, was hier
von deutschem Geistesleben sich fvrtzeugte? Freilich, seine Kräfte^ wurden fast
nnsnahmslvs vom russischen Ervbererstnate aufgebraucht, in der Verwaltung,
der Diplomatie, dem Heere. Immer blieb noch ein Überschuß von Thätigkeit
ans idealem Gebiete, deren Umkreis in der Universität Dorpat und der Se. Peters¬
burger Akademie der Wissenschaften — was wäre diese ohne ihre baltischen
Mitglieder? — noch nicht beschlossen ist. Als der Verfasser dieser Zeilen vor
etlichen Jahren das Verzeichnis der auswärtigen Mitglieder des InMwt <>o
l^-anve durchblätterte, fand er unter den acht ans das russische Reich
fallenden nicht weniger als vier seiner baltischen Landsleute. Erst in den
letzten zwei Jahrzehnten haben die Deutschen der Ostseeprovinzen, im eignen
Lande mit alleu Martern des geistigen Todes bedroht, in ziemlicher Zahl sich
nach Deutschland gewendet und damit einige Aufmerksamkeit auf ihren Stamm
gelenkt. Aber es ist dafür gesorgt, daß man bald wieder aufhören wird von
baltischen Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern zu sprechen: sie werden nicht in
Rußland, nicht in Deutschland, am wenigsten in den Ostseeprovinzen selbst zu
finden sein.

Was Viktor Hehn ein Pietätsrecht erworben hat, nicht vergessen zu werden,
sind seine übrigens nichts weniger als zahl- oder umfangreichen Schriften. Es
giebt Bücher, darunter vorzügliche, die für uns nichts als Bücher sind, und deren
Lesung keine Frage nach der Person ihres Verfassers zurückläßt. Viktor Hehns
Bücher sind keine von diesen; jede Zeile in ihnen ist von einem starken Duft per¬
sönlichen Wesens durchdrungen. Wessen Persönlichkeit aber wäre zu verstehen ohne
Kenntnis des Bodens und der Luft, in der sie groß wurde? Ein Nekrolog in
der Münchner Allgemeinen Zeitung (Beilage zum 11. April d. I.) giebt von
Lebensnachrichten über ihn ziemlich dasselbe, was auch wir in Erfahrung ge¬
bracht habe«. Viktor Hehn war geboren zu Odenpäh bei Dorpat den
8. Oktober 1813. Die Familie stammte von einem gegen die Mitte des acht¬
zehnten Jahrhunderts (beiläufig bemerkt: die Zeitgrenze, um die der bis dahin
ziemlich stetige Strom deutscher Einwanderung sehr dünn zu werden begann) aus
Franken berufenen Geistlichen und Schulmann. Landpfarrer war auch Hehns
Vater. Die gesellschaftliche Stellung der baltischen Pastoren war noch mehr,
als sie es ist, von der ihrer Standesgenossen in Deutschlnud gründlich
verschieden, was sich äußerlich unter anderm darin kundgiebt, daß sie mit dein


Greiizbvten III 1L90 M
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[0313] Viktor Hehn Macht; nicht eine, sondern die Voraussetzung menschlicher und europäischer Bildung; der feste Maßstab für die wechselnden Gestaltungen des Heute und Morgen. Zum andern, nach seinem Blute, war er Livländer. Ein Sohn des deutsche» Kvlvnisteustnmmes, an dessen Wurzel, nachdem er siebenhundert Jahre aufrecht gestanden hat, nun die mörderische Axt gelegt ist. Deutschland ist dieser Kolonie nicht nur eine ohnmächtige, sondern anch eine vergeßliche Mutter gewesen. Wer hat, bis vor kurzem, im mindesten darnach gefragt, was hier von deutschem Geistesleben sich fvrtzeugte? Freilich, seine Kräfte^ wurden fast nnsnahmslvs vom russischen Ervbererstnate aufgebraucht, in der Verwaltung, der Diplomatie, dem Heere. Immer blieb noch ein Überschuß von Thätigkeit ans idealem Gebiete, deren Umkreis in der Universität Dorpat und der Se. Peters¬ burger Akademie der Wissenschaften — was wäre diese ohne ihre baltischen Mitglieder? — noch nicht beschlossen ist. Als der Verfasser dieser Zeilen vor etlichen Jahren das Verzeichnis der auswärtigen Mitglieder des InMwt <>o l^-anve durchblätterte, fand er unter den acht ans das russische Reich fallenden nicht weniger als vier seiner baltischen Landsleute. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten haben die Deutschen der Ostseeprovinzen, im eignen Lande mit alleu Martern des geistigen Todes bedroht, in ziemlicher Zahl sich nach Deutschland gewendet und damit einige Aufmerksamkeit auf ihren Stamm gelenkt. Aber es ist dafür gesorgt, daß man bald wieder aufhören wird von baltischen Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern zu sprechen: sie werden nicht in Rußland, nicht in Deutschland, am wenigsten in den Ostseeprovinzen selbst zu finden sein. Was Viktor Hehn ein Pietätsrecht erworben hat, nicht vergessen zu werden, sind seine übrigens nichts weniger als zahl- oder umfangreichen Schriften. Es giebt Bücher, darunter vorzügliche, die für uns nichts als Bücher sind, und deren Lesung keine Frage nach der Person ihres Verfassers zurückläßt. Viktor Hehns Bücher sind keine von diesen; jede Zeile in ihnen ist von einem starken Duft per¬ sönlichen Wesens durchdrungen. Wessen Persönlichkeit aber wäre zu verstehen ohne Kenntnis des Bodens und der Luft, in der sie groß wurde? Ein Nekrolog in der Münchner Allgemeinen Zeitung (Beilage zum 11. April d. I.) giebt von Lebensnachrichten über ihn ziemlich dasselbe, was auch wir in Erfahrung ge¬ bracht habe«. Viktor Hehn war geboren zu Odenpäh bei Dorpat den 8. Oktober 1813. Die Familie stammte von einem gegen die Mitte des acht¬ zehnten Jahrhunderts (beiläufig bemerkt: die Zeitgrenze, um die der bis dahin ziemlich stetige Strom deutscher Einwanderung sehr dünn zu werden begann) aus Franken berufenen Geistlichen und Schulmann. Landpfarrer war auch Hehns Vater. Die gesellschaftliche Stellung der baltischen Pastoren war noch mehr, als sie es ist, von der ihrer Standesgenossen in Deutschlnud gründlich verschieden, was sich äußerlich unter anderm darin kundgiebt, daß sie mit dein Greiizbvten III 1L90 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/313>, abgerufen am 26.06.2024.