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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft im Lichte der soziale" Idee

Entwicklung der Gesellschaft ein Streben zu einer Regelung der Produktion
und einer zweckmüßigen Verteilung des Kapitals bekundet, so ist kein Grund
einzusehen, weshalb auf das geistige Kapital, das wertvollste von allen, nicht
dasselbe Verfahren Anwendung finden sollte. Mit Feldern, Wäldern, Berg¬
werken und Gewässern gehen wir haushälterisch um, da wäre es doch wirklich
seltsam, wenn der Gebrauch unsers kostbarsten Gutes, desjenigen, von
dem die Erzeugung aller andern Güter abhängt, allein der Willkür über¬
lassen wäre."

So ergiebt sich denn als zweiter Punkt des positivistischen Programms
die Forderung einer Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, ähnlich der, die
der Sozialismus für die äußere Arbeit verlangt. Die von Comte aufgestellte
Ordnung aller Wissenschaften, mit der dieser Denker eine nähere Darlegung
der Aufgaben und Methoden jeder einzelnen verband, läßt sich gewissermaßen
als die theoretische Vorarbeit hierzu betrachten; bei Lafsitte gewinnt ans
Grund dessen der Plan, nach dem in Zukunft die wissenschaftliche Forschung
betrieben werden sollte, schon bestimmtere Gestalt. Es erscheint merkwürdig,
ist aber doch ganz folgerecht, daß darin die ausgebildetsten Wissenschaften,
Mathematik und Astronomie, ganz zurückgesetzt werden, weil sie schon
längst die Dienste geleistet haben, die mau überhaupt von ihnen erwarten
könne; sie seien in gesellschaftlicher Hinficht erschöpft, und es sollten ihnen des¬
halb nur soviel Kräfte gewidmet werden, als nötig sind, um den vorhandnen
Besitz an Kenntnissen der Nachwelt zu überliefern. "Mathematische und astro¬
nomische Forschungen bedeuten heutzutage nur noch ein Spiel des Geistes,
eine Art, die Zeit hinzubringen, wie es viele andre giebt," denn "was kann es
nützen, ob wir die Entfernungen der Planeten noch um einige tausend Meilen
genauer .kennen als jetzt, ob diese und jene neuen Kurven und ihre Eigen¬
schaften aufgefunden werden?" Und ähnlich lautet das Urteil auch über die
theoretische Physik; denn für die Zwecke der Anwendung genüge durchweg eine
annähernde Kenntnis der Gesetze, nach denen die physikalischen Wirkungen er¬
folgen, eine unbedingte Genauigkeit sei nicht erreichbar, sei aber auch uicht nötig,
und alle auf ihre Erreichung verwandte Mühe verloren. Als die Gebiete
dagegen, auf die alle Kräfte zu wenden sind, werden Biologie, Soziologie und
Psychologie bezeichnet: "Hier drängen sich die Probleme und bieten in dem
Maße, wie sie sich verallgemeinern, immer größere Schwierigkeit dar; ein
Feld ohne Grenzen steht denen offen, die nach dem Ruhme des Entdeckers
trachten und vor Schwierigkeiten nicht zurückschrecken." Wie groß sei noch
unsre Unkenntnis des physischen Lebens, das die Grundlage der geistigen Be¬
thätigungen des Menschen bildet, und welche entscheidenden Fragen harrten noch
in den andern genannten Gebieten ihrer Losung! Nur die Psychologie könne
die Entscheidung liefern, ob z. V. der Mensch verantwortlich sei für seine
Thaten oder nicht, von der die ganze Strafgesetzgebung abhängt; in der


Die Wissenschaft im Lichte der soziale» Idee

Entwicklung der Gesellschaft ein Streben zu einer Regelung der Produktion
und einer zweckmüßigen Verteilung des Kapitals bekundet, so ist kein Grund
einzusehen, weshalb auf das geistige Kapital, das wertvollste von allen, nicht
dasselbe Verfahren Anwendung finden sollte. Mit Feldern, Wäldern, Berg¬
werken und Gewässern gehen wir haushälterisch um, da wäre es doch wirklich
seltsam, wenn der Gebrauch unsers kostbarsten Gutes, desjenigen, von
dem die Erzeugung aller andern Güter abhängt, allein der Willkür über¬
lassen wäre."

So ergiebt sich denn als zweiter Punkt des positivistischen Programms
die Forderung einer Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, ähnlich der, die
der Sozialismus für die äußere Arbeit verlangt. Die von Comte aufgestellte
Ordnung aller Wissenschaften, mit der dieser Denker eine nähere Darlegung
der Aufgaben und Methoden jeder einzelnen verband, läßt sich gewissermaßen
als die theoretische Vorarbeit hierzu betrachten; bei Lafsitte gewinnt ans
Grund dessen der Plan, nach dem in Zukunft die wissenschaftliche Forschung
betrieben werden sollte, schon bestimmtere Gestalt. Es erscheint merkwürdig,
ist aber doch ganz folgerecht, daß darin die ausgebildetsten Wissenschaften,
Mathematik und Astronomie, ganz zurückgesetzt werden, weil sie schon
längst die Dienste geleistet haben, die mau überhaupt von ihnen erwarten
könne; sie seien in gesellschaftlicher Hinficht erschöpft, und es sollten ihnen des¬
halb nur soviel Kräfte gewidmet werden, als nötig sind, um den vorhandnen
Besitz an Kenntnissen der Nachwelt zu überliefern. „Mathematische und astro¬
nomische Forschungen bedeuten heutzutage nur noch ein Spiel des Geistes,
eine Art, die Zeit hinzubringen, wie es viele andre giebt," denn „was kann es
nützen, ob wir die Entfernungen der Planeten noch um einige tausend Meilen
genauer .kennen als jetzt, ob diese und jene neuen Kurven und ihre Eigen¬
schaften aufgefunden werden?" Und ähnlich lautet das Urteil auch über die
theoretische Physik; denn für die Zwecke der Anwendung genüge durchweg eine
annähernde Kenntnis der Gesetze, nach denen die physikalischen Wirkungen er¬
folgen, eine unbedingte Genauigkeit sei nicht erreichbar, sei aber auch uicht nötig,
und alle auf ihre Erreichung verwandte Mühe verloren. Als die Gebiete
dagegen, auf die alle Kräfte zu wenden sind, werden Biologie, Soziologie und
Psychologie bezeichnet: „Hier drängen sich die Probleme und bieten in dem
Maße, wie sie sich verallgemeinern, immer größere Schwierigkeit dar; ein
Feld ohne Grenzen steht denen offen, die nach dem Ruhme des Entdeckers
trachten und vor Schwierigkeiten nicht zurückschrecken." Wie groß sei noch
unsre Unkenntnis des physischen Lebens, das die Grundlage der geistigen Be¬
thätigungen des Menschen bildet, und welche entscheidenden Fragen harrten noch
in den andern genannten Gebieten ihrer Losung! Nur die Psychologie könne
die Entscheidung liefern, ob z. V. der Mensch verantwortlich sei für seine
Thaten oder nicht, von der die ganze Strafgesetzgebung abhängt; in der


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[0308] Die Wissenschaft im Lichte der soziale» Idee Entwicklung der Gesellschaft ein Streben zu einer Regelung der Produktion und einer zweckmüßigen Verteilung des Kapitals bekundet, so ist kein Grund einzusehen, weshalb auf das geistige Kapital, das wertvollste von allen, nicht dasselbe Verfahren Anwendung finden sollte. Mit Feldern, Wäldern, Berg¬ werken und Gewässern gehen wir haushälterisch um, da wäre es doch wirklich seltsam, wenn der Gebrauch unsers kostbarsten Gutes, desjenigen, von dem die Erzeugung aller andern Güter abhängt, allein der Willkür über¬ lassen wäre." So ergiebt sich denn als zweiter Punkt des positivistischen Programms die Forderung einer Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, ähnlich der, die der Sozialismus für die äußere Arbeit verlangt. Die von Comte aufgestellte Ordnung aller Wissenschaften, mit der dieser Denker eine nähere Darlegung der Aufgaben und Methoden jeder einzelnen verband, läßt sich gewissermaßen als die theoretische Vorarbeit hierzu betrachten; bei Lafsitte gewinnt ans Grund dessen der Plan, nach dem in Zukunft die wissenschaftliche Forschung betrieben werden sollte, schon bestimmtere Gestalt. Es erscheint merkwürdig, ist aber doch ganz folgerecht, daß darin die ausgebildetsten Wissenschaften, Mathematik und Astronomie, ganz zurückgesetzt werden, weil sie schon längst die Dienste geleistet haben, die mau überhaupt von ihnen erwarten könne; sie seien in gesellschaftlicher Hinficht erschöpft, und es sollten ihnen des¬ halb nur soviel Kräfte gewidmet werden, als nötig sind, um den vorhandnen Besitz an Kenntnissen der Nachwelt zu überliefern. „Mathematische und astro¬ nomische Forschungen bedeuten heutzutage nur noch ein Spiel des Geistes, eine Art, die Zeit hinzubringen, wie es viele andre giebt," denn „was kann es nützen, ob wir die Entfernungen der Planeten noch um einige tausend Meilen genauer .kennen als jetzt, ob diese und jene neuen Kurven und ihre Eigen¬ schaften aufgefunden werden?" Und ähnlich lautet das Urteil auch über die theoretische Physik; denn für die Zwecke der Anwendung genüge durchweg eine annähernde Kenntnis der Gesetze, nach denen die physikalischen Wirkungen er¬ folgen, eine unbedingte Genauigkeit sei nicht erreichbar, sei aber auch uicht nötig, und alle auf ihre Erreichung verwandte Mühe verloren. Als die Gebiete dagegen, auf die alle Kräfte zu wenden sind, werden Biologie, Soziologie und Psychologie bezeichnet: „Hier drängen sich die Probleme und bieten in dem Maße, wie sie sich verallgemeinern, immer größere Schwierigkeit dar; ein Feld ohne Grenzen steht denen offen, die nach dem Ruhme des Entdeckers trachten und vor Schwierigkeiten nicht zurückschrecken." Wie groß sei noch unsre Unkenntnis des physischen Lebens, das die Grundlage der geistigen Be¬ thätigungen des Menschen bildet, und welche entscheidenden Fragen harrten noch in den andern genannten Gebieten ihrer Losung! Nur die Psychologie könne die Entscheidung liefern, ob z. V. der Mensch verantwortlich sei für seine Thaten oder nicht, von der die ganze Strafgesetzgebung abhängt; in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/308>, abgerufen am 26.06.2024.