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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

Menschheit eingedrungen ist, sie doch allmählich alles Glaubens, aller Über¬
lieferung beraubt hat; so ist die religiöse Kultur vernichtet, ohne daß jedoch
eine durchgreifende wissenschaftliche an ihre Stelle getreten wäre." Durch
derartige Erwägungen scheint freilich die Frage nahe gelegt zu sein, ob nicht
ein Mißverhältnis bestehe zwischen der Entwicklung der Verhältnisse der Ge¬
sellschaft im allgemeinen und der der wissenschaftlichen Forschung im besondern,
ob nicht die eine der andern vorausgeeilt sei, sodaß wir das Bild eines
Körpers hätten, dessen Kopf unverhältnismäßig größer und entwickelter ist,
als die übrigen Glieder, und Leistungen vollführt, die das Maß dessen, was
er naturgemäß für das Ganze zu leiste" hätte, weit überschreiten.

Es giebt ja um zwar Leute, die annehmen, daß der Kopf (um im Bilde
zu bleiben) nicht für den Körper, sondern vielmehr dieser sür den Kopf ge¬
schaffen sei, daß alle "niedern" Lebensthätigkeiten nur daheim, um die höchste, die
geistige Thätigkeit, zu ermöglichen. Hier steht jedoch der Positivist ans einem ganz
andern Standpunkte. So wie aus der modernen Biologie eine psychologische
Richtung hervorgewachsen ist, die die geistigen Fähigkeiten als durch die Be¬
dürfnisse des physischen Lebens entwickelt zu verstehen sucht, und Wahrneh¬
mung, Erinnerung, Denken u. s. w. als Teile der Ausrüstung betrachtet, durch
die das Einzelwesen zur Erhaltung seiner selbst und seiner Art befähigt wird,
so gilt dem Positivisten die geistige Arbeit auch als eine Verrichtung des
Gesellschaftswesens, die durch seine Lebensbedürfnisse gefordert wird und
deshalb zugleich in diesen Bedürfnissen den Maßstab für ihre gesunde Ent¬
wicklung findet. Die heutige Menschheit ist, nach der Ansicht Laffittes, endlich
zu dem Bewußtsein gekommen, daß ihre Endaufgabe die ist, einen möglichst
vollkommen entwickelten gesellschaftlichen Verband der Einzelnen zu verwirk¬
lichen; "bevor diese Einsicht erwacht war, konnte man es dein wissenschaftlichen
Arbeiter nicht zum Vorwurf machen, wenn er sich nur durch das Interesse
seiner subjektiven Befriedigung geleitet auf dieses oder jenes Gebiet verlegte;
nunmehr muß jedoch alle Forschung als müßig und ungerechtfertigt gelten, die
vom sozialen Gesichtspunkt aus betrachtet keinen Zweck hat, oder die, wenn sie
anch an sich nicht nutzlos ist, keinem dringenden sozialen Bedürfnis ent¬
spricht." Infolge des bisherigen Entwicklungsganges der Wissenschaften
kenne man jetzt so ziemlich den Umfang des ganzen Gebietes möglicher
Forschung, und wenn die Arbeit auch noch nicht überall abgeschlossen sei, so
sei doch in allen Richtungen bereits ein Anfang gemacht, und es sei deshalb
an der Zeit, daß die wissenschaftliche Arbeit nach einem einheitlichen Plane
getrieben werde, und dieser Plan könne nur bestimmt werden dnrch die Rück¬
sicht ans den Wert, den die Beschäftigung mit diesem oder jenem besondern
Gegenstande für die menschliche Gesellschaft habe. Keinesfalls aber dürfe es
der Laune und dem Belieben der Einzelnen anheimgestellt bleiben, welche
Forschungsgebiete hauptsächlich zu bearbeiten seien. "Wenn sich in der


Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

Menschheit eingedrungen ist, sie doch allmählich alles Glaubens, aller Über¬
lieferung beraubt hat; so ist die religiöse Kultur vernichtet, ohne daß jedoch
eine durchgreifende wissenschaftliche an ihre Stelle getreten wäre." Durch
derartige Erwägungen scheint freilich die Frage nahe gelegt zu sein, ob nicht
ein Mißverhältnis bestehe zwischen der Entwicklung der Verhältnisse der Ge¬
sellschaft im allgemeinen und der der wissenschaftlichen Forschung im besondern,
ob nicht die eine der andern vorausgeeilt sei, sodaß wir das Bild eines
Körpers hätten, dessen Kopf unverhältnismäßig größer und entwickelter ist,
als die übrigen Glieder, und Leistungen vollführt, die das Maß dessen, was
er naturgemäß für das Ganze zu leiste» hätte, weit überschreiten.

Es giebt ja um zwar Leute, die annehmen, daß der Kopf (um im Bilde
zu bleiben) nicht für den Körper, sondern vielmehr dieser sür den Kopf ge¬
schaffen sei, daß alle „niedern" Lebensthätigkeiten nur daheim, um die höchste, die
geistige Thätigkeit, zu ermöglichen. Hier steht jedoch der Positivist ans einem ganz
andern Standpunkte. So wie aus der modernen Biologie eine psychologische
Richtung hervorgewachsen ist, die die geistigen Fähigkeiten als durch die Be¬
dürfnisse des physischen Lebens entwickelt zu verstehen sucht, und Wahrneh¬
mung, Erinnerung, Denken u. s. w. als Teile der Ausrüstung betrachtet, durch
die das Einzelwesen zur Erhaltung seiner selbst und seiner Art befähigt wird,
so gilt dem Positivisten die geistige Arbeit auch als eine Verrichtung des
Gesellschaftswesens, die durch seine Lebensbedürfnisse gefordert wird und
deshalb zugleich in diesen Bedürfnissen den Maßstab für ihre gesunde Ent¬
wicklung findet. Die heutige Menschheit ist, nach der Ansicht Laffittes, endlich
zu dem Bewußtsein gekommen, daß ihre Endaufgabe die ist, einen möglichst
vollkommen entwickelten gesellschaftlichen Verband der Einzelnen zu verwirk¬
lichen; „bevor diese Einsicht erwacht war, konnte man es dein wissenschaftlichen
Arbeiter nicht zum Vorwurf machen, wenn er sich nur durch das Interesse
seiner subjektiven Befriedigung geleitet auf dieses oder jenes Gebiet verlegte;
nunmehr muß jedoch alle Forschung als müßig und ungerechtfertigt gelten, die
vom sozialen Gesichtspunkt aus betrachtet keinen Zweck hat, oder die, wenn sie
anch an sich nicht nutzlos ist, keinem dringenden sozialen Bedürfnis ent¬
spricht." Infolge des bisherigen Entwicklungsganges der Wissenschaften
kenne man jetzt so ziemlich den Umfang des ganzen Gebietes möglicher
Forschung, und wenn die Arbeit auch noch nicht überall abgeschlossen sei, so
sei doch in allen Richtungen bereits ein Anfang gemacht, und es sei deshalb
an der Zeit, daß die wissenschaftliche Arbeit nach einem einheitlichen Plane
getrieben werde, und dieser Plan könne nur bestimmt werden dnrch die Rück¬
sicht ans den Wert, den die Beschäftigung mit diesem oder jenem besondern
Gegenstande für die menschliche Gesellschaft habe. Keinesfalls aber dürfe es
der Laune und dem Belieben der Einzelnen anheimgestellt bleiben, welche
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[0307] Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee Menschheit eingedrungen ist, sie doch allmählich alles Glaubens, aller Über¬ lieferung beraubt hat; so ist die religiöse Kultur vernichtet, ohne daß jedoch eine durchgreifende wissenschaftliche an ihre Stelle getreten wäre." Durch derartige Erwägungen scheint freilich die Frage nahe gelegt zu sein, ob nicht ein Mißverhältnis bestehe zwischen der Entwicklung der Verhältnisse der Ge¬ sellschaft im allgemeinen und der der wissenschaftlichen Forschung im besondern, ob nicht die eine der andern vorausgeeilt sei, sodaß wir das Bild eines Körpers hätten, dessen Kopf unverhältnismäßig größer und entwickelter ist, als die übrigen Glieder, und Leistungen vollführt, die das Maß dessen, was er naturgemäß für das Ganze zu leiste» hätte, weit überschreiten. Es giebt ja um zwar Leute, die annehmen, daß der Kopf (um im Bilde zu bleiben) nicht für den Körper, sondern vielmehr dieser sür den Kopf ge¬ schaffen sei, daß alle „niedern" Lebensthätigkeiten nur daheim, um die höchste, die geistige Thätigkeit, zu ermöglichen. Hier steht jedoch der Positivist ans einem ganz andern Standpunkte. So wie aus der modernen Biologie eine psychologische Richtung hervorgewachsen ist, die die geistigen Fähigkeiten als durch die Be¬ dürfnisse des physischen Lebens entwickelt zu verstehen sucht, und Wahrneh¬ mung, Erinnerung, Denken u. s. w. als Teile der Ausrüstung betrachtet, durch die das Einzelwesen zur Erhaltung seiner selbst und seiner Art befähigt wird, so gilt dem Positivisten die geistige Arbeit auch als eine Verrichtung des Gesellschaftswesens, die durch seine Lebensbedürfnisse gefordert wird und deshalb zugleich in diesen Bedürfnissen den Maßstab für ihre gesunde Ent¬ wicklung findet. Die heutige Menschheit ist, nach der Ansicht Laffittes, endlich zu dem Bewußtsein gekommen, daß ihre Endaufgabe die ist, einen möglichst vollkommen entwickelten gesellschaftlichen Verband der Einzelnen zu verwirk¬ lichen; „bevor diese Einsicht erwacht war, konnte man es dein wissenschaftlichen Arbeiter nicht zum Vorwurf machen, wenn er sich nur durch das Interesse seiner subjektiven Befriedigung geleitet auf dieses oder jenes Gebiet verlegte; nunmehr muß jedoch alle Forschung als müßig und ungerechtfertigt gelten, die vom sozialen Gesichtspunkt aus betrachtet keinen Zweck hat, oder die, wenn sie anch an sich nicht nutzlos ist, keinem dringenden sozialen Bedürfnis ent¬ spricht." Infolge des bisherigen Entwicklungsganges der Wissenschaften kenne man jetzt so ziemlich den Umfang des ganzen Gebietes möglicher Forschung, und wenn die Arbeit auch noch nicht überall abgeschlossen sei, so sei doch in allen Richtungen bereits ein Anfang gemacht, und es sei deshalb an der Zeit, daß die wissenschaftliche Arbeit nach einem einheitlichen Plane getrieben werde, und dieser Plan könne nur bestimmt werden dnrch die Rück¬ sicht ans den Wert, den die Beschäftigung mit diesem oder jenem besondern Gegenstande für die menschliche Gesellschaft habe. Keinesfalls aber dürfe es der Laune und dem Belieben der Einzelnen anheimgestellt bleiben, welche Forschungsgebiete hauptsächlich zu bearbeiten seien. „Wenn sich in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/307>, abgerufen am 26.06.2024.