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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

Sozialwissenschaft handele es sich um die Lebensfragen der Menschheit, denn
nnr auf Grund der Kenntnis der natürlichen Gesetze, nach denen sich auch die
gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln, und der Beziehungen, in denen hier
jeder Teil zum Ganzen steht, sei ein thätiger Einfluß der Menschheit ans die
Gestaltung ihrer zukünftige" Schicksale denkbar. "Heutzutage genügt es nicht
mehr, um regieren zu können, daß mau den Geist und die Kühnheit eines
Richelieu oder Cäsar besitze, es ist ein Wissen nötig, das zu ihrer Zeit ganz
überflüssig war. Das Schicksal eines Landes ist nicht mehr wie ehedem von
dein der andern fast ganz unabhängig, vielmehr steht die kleinste Nation in
Beziehungen, die sich über den ganzen Erdball erstrecken, und ein genaues
Studium dieser Beziehungen politischer und wirtschaftlicher Art ist notwendig,
um furchtbaren Verwicklungen vorzubeugen, die den Bestand der Gesittung
überhaupt bedrohen."

Daß in den hier wiedergegebenen Anschauungen vieles Treffende ent¬
halten ist, läßt sich nicht verkennen. Unstreitig muß die wissenschaftliche
Arbeit von irgend einem einheitlichen leitenden Gesichtspunkte beherrscht sein,
dein die Einzelbestrebungen sich unterordnen; und gerade heute ist ihre
"Organisation" in diesem allgemeinen Sinn ein dringendes Bedürfnis. Denn
infolge der auch auf wissenschaftlichem Gebiete so weit gehenden Arbeitsteilung
ist der Einzelfvrscher vielfach in Gefahr, sich im Kleinen zu verlieren, die
Fähigkeit der Unterscheidung des Wichtigen und des Unwichtigen, der Haupt-
Wissenschaften und der bloßen Hilfswissenschaften einzubüßen. Nur die Bornirt-
heit kann behaupten, daß es einen Unterschied des Wichtigen und des weniger
Wichtigen in der Wissenschaft nicht gebe, daß die Erforschung des Lebens und
die Entwicklungsgeschichte der Blattläuse eine ebenso bedeutsame wissenschaftliche
Aufgabe sei, wie das Studium der Funktion eines menschlichen Organs, daß die
Menschheit eil, gleich hohes Interesse daran habe, den Aufbau des Zeustempels
in Olympia und die Vorgänge bei der französischen Revolution von 178!) genau
zu kennen u. s. w. Muß sich der Einzelne auch notwendig darauf beschränken,
eine besondre wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, so sollte er doch darüber
klar sein, in welchem Verhältnis diese zu der Gesamtaufgabe steht, in deren
Bearbeitung sich die Gesamtheit aller Forscher teilt, und deren Lösung des¬
halb freilich auch nur vou deu vereinten Anstrengungen vieler Geschlechter
zu erwarten ist. Diese Gesamtaufgabe aber kann nicht darin bestehen, das
menschliche Wissen über alles uur irgend Wißbare auszudehnen; all¬
wissend wird nicht einmal die Menschheit als Gesamtwesen jemals werden
können, denn das Reich der Wahrheit ist grenzenlos, und es kann nicht gleich-
giltig sein, welcher Provinz dieses unbekannte" Reiches der Forscher sich zu¬
fällig zuwendet. Ein handgreiflicher Unsinn wäre es ja, wenn z. B. alle
geistigen Arbeiter damit beschäftigt werden sollten, zunächst einmal eine Über¬
sicht aller vorhandenen Arten und Unterarten der Naturkörper mit Wissenschaft-


Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

Sozialwissenschaft handele es sich um die Lebensfragen der Menschheit, denn
nnr auf Grund der Kenntnis der natürlichen Gesetze, nach denen sich auch die
gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln, und der Beziehungen, in denen hier
jeder Teil zum Ganzen steht, sei ein thätiger Einfluß der Menschheit ans die
Gestaltung ihrer zukünftige» Schicksale denkbar. „Heutzutage genügt es nicht
mehr, um regieren zu können, daß mau den Geist und die Kühnheit eines
Richelieu oder Cäsar besitze, es ist ein Wissen nötig, das zu ihrer Zeit ganz
überflüssig war. Das Schicksal eines Landes ist nicht mehr wie ehedem von
dein der andern fast ganz unabhängig, vielmehr steht die kleinste Nation in
Beziehungen, die sich über den ganzen Erdball erstrecken, und ein genaues
Studium dieser Beziehungen politischer und wirtschaftlicher Art ist notwendig,
um furchtbaren Verwicklungen vorzubeugen, die den Bestand der Gesittung
überhaupt bedrohen."

Daß in den hier wiedergegebenen Anschauungen vieles Treffende ent¬
halten ist, läßt sich nicht verkennen. Unstreitig muß die wissenschaftliche
Arbeit von irgend einem einheitlichen leitenden Gesichtspunkte beherrscht sein,
dein die Einzelbestrebungen sich unterordnen; und gerade heute ist ihre
„Organisation" in diesem allgemeinen Sinn ein dringendes Bedürfnis. Denn
infolge der auch auf wissenschaftlichem Gebiete so weit gehenden Arbeitsteilung
ist der Einzelfvrscher vielfach in Gefahr, sich im Kleinen zu verlieren, die
Fähigkeit der Unterscheidung des Wichtigen und des Unwichtigen, der Haupt-
Wissenschaften und der bloßen Hilfswissenschaften einzubüßen. Nur die Bornirt-
heit kann behaupten, daß es einen Unterschied des Wichtigen und des weniger
Wichtigen in der Wissenschaft nicht gebe, daß die Erforschung des Lebens und
die Entwicklungsgeschichte der Blattläuse eine ebenso bedeutsame wissenschaftliche
Aufgabe sei, wie das Studium der Funktion eines menschlichen Organs, daß die
Menschheit eil, gleich hohes Interesse daran habe, den Aufbau des Zeustempels
in Olympia und die Vorgänge bei der französischen Revolution von 178!) genau
zu kennen u. s. w. Muß sich der Einzelne auch notwendig darauf beschränken,
eine besondre wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, so sollte er doch darüber
klar sein, in welchem Verhältnis diese zu der Gesamtaufgabe steht, in deren
Bearbeitung sich die Gesamtheit aller Forscher teilt, und deren Lösung des¬
halb freilich auch nur vou deu vereinten Anstrengungen vieler Geschlechter
zu erwarten ist. Diese Gesamtaufgabe aber kann nicht darin bestehen, das
menschliche Wissen über alles uur irgend Wißbare auszudehnen; all¬
wissend wird nicht einmal die Menschheit als Gesamtwesen jemals werden
können, denn das Reich der Wahrheit ist grenzenlos, und es kann nicht gleich-
giltig sein, welcher Provinz dieses unbekannte« Reiches der Forscher sich zu¬
fällig zuwendet. Ein handgreiflicher Unsinn wäre es ja, wenn z. B. alle
geistigen Arbeiter damit beschäftigt werden sollten, zunächst einmal eine Über¬
sicht aller vorhandenen Arten und Unterarten der Naturkörper mit Wissenschaft-


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[0309] Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee Sozialwissenschaft handele es sich um die Lebensfragen der Menschheit, denn nnr auf Grund der Kenntnis der natürlichen Gesetze, nach denen sich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln, und der Beziehungen, in denen hier jeder Teil zum Ganzen steht, sei ein thätiger Einfluß der Menschheit ans die Gestaltung ihrer zukünftige» Schicksale denkbar. „Heutzutage genügt es nicht mehr, um regieren zu können, daß mau den Geist und die Kühnheit eines Richelieu oder Cäsar besitze, es ist ein Wissen nötig, das zu ihrer Zeit ganz überflüssig war. Das Schicksal eines Landes ist nicht mehr wie ehedem von dein der andern fast ganz unabhängig, vielmehr steht die kleinste Nation in Beziehungen, die sich über den ganzen Erdball erstrecken, und ein genaues Studium dieser Beziehungen politischer und wirtschaftlicher Art ist notwendig, um furchtbaren Verwicklungen vorzubeugen, die den Bestand der Gesittung überhaupt bedrohen." Daß in den hier wiedergegebenen Anschauungen vieles Treffende ent¬ halten ist, läßt sich nicht verkennen. Unstreitig muß die wissenschaftliche Arbeit von irgend einem einheitlichen leitenden Gesichtspunkte beherrscht sein, dein die Einzelbestrebungen sich unterordnen; und gerade heute ist ihre „Organisation" in diesem allgemeinen Sinn ein dringendes Bedürfnis. Denn infolge der auch auf wissenschaftlichem Gebiete so weit gehenden Arbeitsteilung ist der Einzelfvrscher vielfach in Gefahr, sich im Kleinen zu verlieren, die Fähigkeit der Unterscheidung des Wichtigen und des Unwichtigen, der Haupt- Wissenschaften und der bloßen Hilfswissenschaften einzubüßen. Nur die Bornirt- heit kann behaupten, daß es einen Unterschied des Wichtigen und des weniger Wichtigen in der Wissenschaft nicht gebe, daß die Erforschung des Lebens und die Entwicklungsgeschichte der Blattläuse eine ebenso bedeutsame wissenschaftliche Aufgabe sei, wie das Studium der Funktion eines menschlichen Organs, daß die Menschheit eil, gleich hohes Interesse daran habe, den Aufbau des Zeustempels in Olympia und die Vorgänge bei der französischen Revolution von 178!) genau zu kennen u. s. w. Muß sich der Einzelne auch notwendig darauf beschränken, eine besondre wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, so sollte er doch darüber klar sein, in welchem Verhältnis diese zu der Gesamtaufgabe steht, in deren Bearbeitung sich die Gesamtheit aller Forscher teilt, und deren Lösung des¬ halb freilich auch nur vou deu vereinten Anstrengungen vieler Geschlechter zu erwarten ist. Diese Gesamtaufgabe aber kann nicht darin bestehen, das menschliche Wissen über alles uur irgend Wißbare auszudehnen; all¬ wissend wird nicht einmal die Menschheit als Gesamtwesen jemals werden können, denn das Reich der Wahrheit ist grenzenlos, und es kann nicht gleich- giltig sein, welcher Provinz dieses unbekannte« Reiches der Forscher sich zu¬ fällig zuwendet. Ein handgreiflicher Unsinn wäre es ja, wenn z. B. alle geistigen Arbeiter damit beschäftigt werden sollten, zunächst einmal eine Über¬ sicht aller vorhandenen Arten und Unterarten der Naturkörper mit Wissenschaft-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/309>, abgerufen am 26.06.2024.