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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

Er soll sich nur bewußt bleiben, daß sein Thun lediglich dadurch eine"
sittlichen Wert, und er selbst die Daseinsberechtigung in der menschlichen
Gesellschaft gewinnt, daß er dazu beiträgt, das geistige Kapital der Mensch¬
heit zu vermehren. Mehr als jeder andre ist der Denker der Gesellschaft,
von der er getragen wird, zum Danke verpflichtet, und es müßte als eine
Verletzung der sozialen Pflicht bezeichnet werden, wenn einer sich in ein Lieb¬
lingsstudium vergrabend wie der Geizige im Genusse aufgehäufter geistiger
Schätze schwelgen wollte, statt die von ihm gefundnen Goldkörner der Er¬
kenntnis dem geistigen Besitze der Menschheit hinzuzufügen und als dienendes
Glied mit andern an der Vergrößerung dieses Besitztums planmüßig zu
arbeiten.

Es kommt hinzu, daß auch in seiner rein geistigen Entwicklung der
Einzelne sich in wesentlicher Abhängigkeit vom Ganzen befindet. Was die
Vorfahren gedacht und geschafft haben, wird zum Bildungsmittel für die Nach¬
kommen, und wie die Erzeugung neuer materieller Güter nur möglich ist mit
Hilfe bereits vorhandner Ergebnisse früherer Arbeit, so schreitet auch die
Forschung überall nur auf Grund überlieferter Wahrheiten zu neuen Ent¬
deckungen fort. Es ist eine kaum zu entscheidende Frage, welches die Haupt-
ursache beim Zustandekommen eines Fortschrittes auf geistigem Gebiete nicht nur,
sondern alles Fortschrittes überhaupt sei, ob die Thätigkeit einzelner hervor¬
ragender Persönlichkeiten oder die durch lange Zeiträume hindurch aufgehäufte
Wirksamkeit von ganzen Massen. Je nach ihrer Beantwortung unterscheiden
sich zwei Hauptrichtungen der geschichtsphilosophischen Auffassung. Während
Männer wie Carlisle in England und neuerdings Fr. Nietzsche bei uns mit
Entschiedenheit die Lehre verfochten haben, daß die Menschheit ausschließlich
durch einzelne schöpferische Geister vorwärts gebracht werde, ist für den Posi-
tivismus das Bestreben charakteristisch, die Leistung des Einzelnen durchweg
als verschwindend gegenüber der Wirkung der Massen, und die hervorragende
Persönlichkeit nicht als ans sich selbst ruhend, sondern als ein Erzeugnis der
Umgebung aufzufassen, aus der sie hervortritt. Es ist bekannt, daß Taine u. a.
diesen Gesichtspunkt, der verwandt ist mit dem durch Darwin in die Zoologie
eingeführten, in der Geschichtschreibung mit Geschick zur Geltung gebracht
haben, worauf hier nicht weiter einzugehen ist. Von demselben Gesichtspunkt
aus hat nun aber der Positivismus auch seine Forderung, den Wert der wissen¬
schaftlichen Arbeit nach sozialphilosophischen Prinzipien zu beurteilen, und diese
Prinzipien für ihren Betrieb maßgebend zu macheu, zu begründen gesucht.
"Ungeachtet aller ihrer Begabung, so sagt z. B. Laffitte,*) hätten die Aristoteles,
Archimedes oder Descartes sicher nichts geschaffen, wenn sie auf ihre Kräfte
allein angewiesen gewesen wären. Und ist denn eine solche Begabung übrigens



^) Ju 'seinem Oours <1s xlulosopdis ^rsiniürs, Paris 1889.
Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

Er soll sich nur bewußt bleiben, daß sein Thun lediglich dadurch eine»
sittlichen Wert, und er selbst die Daseinsberechtigung in der menschlichen
Gesellschaft gewinnt, daß er dazu beiträgt, das geistige Kapital der Mensch¬
heit zu vermehren. Mehr als jeder andre ist der Denker der Gesellschaft,
von der er getragen wird, zum Danke verpflichtet, und es müßte als eine
Verletzung der sozialen Pflicht bezeichnet werden, wenn einer sich in ein Lieb¬
lingsstudium vergrabend wie der Geizige im Genusse aufgehäufter geistiger
Schätze schwelgen wollte, statt die von ihm gefundnen Goldkörner der Er¬
kenntnis dem geistigen Besitze der Menschheit hinzuzufügen und als dienendes
Glied mit andern an der Vergrößerung dieses Besitztums planmüßig zu
arbeiten.

Es kommt hinzu, daß auch in seiner rein geistigen Entwicklung der
Einzelne sich in wesentlicher Abhängigkeit vom Ganzen befindet. Was die
Vorfahren gedacht und geschafft haben, wird zum Bildungsmittel für die Nach¬
kommen, und wie die Erzeugung neuer materieller Güter nur möglich ist mit
Hilfe bereits vorhandner Ergebnisse früherer Arbeit, so schreitet auch die
Forschung überall nur auf Grund überlieferter Wahrheiten zu neuen Ent¬
deckungen fort. Es ist eine kaum zu entscheidende Frage, welches die Haupt-
ursache beim Zustandekommen eines Fortschrittes auf geistigem Gebiete nicht nur,
sondern alles Fortschrittes überhaupt sei, ob die Thätigkeit einzelner hervor¬
ragender Persönlichkeiten oder die durch lange Zeiträume hindurch aufgehäufte
Wirksamkeit von ganzen Massen. Je nach ihrer Beantwortung unterscheiden
sich zwei Hauptrichtungen der geschichtsphilosophischen Auffassung. Während
Männer wie Carlisle in England und neuerdings Fr. Nietzsche bei uns mit
Entschiedenheit die Lehre verfochten haben, daß die Menschheit ausschließlich
durch einzelne schöpferische Geister vorwärts gebracht werde, ist für den Posi-
tivismus das Bestreben charakteristisch, die Leistung des Einzelnen durchweg
als verschwindend gegenüber der Wirkung der Massen, und die hervorragende
Persönlichkeit nicht als ans sich selbst ruhend, sondern als ein Erzeugnis der
Umgebung aufzufassen, aus der sie hervortritt. Es ist bekannt, daß Taine u. a.
diesen Gesichtspunkt, der verwandt ist mit dem durch Darwin in die Zoologie
eingeführten, in der Geschichtschreibung mit Geschick zur Geltung gebracht
haben, worauf hier nicht weiter einzugehen ist. Von demselben Gesichtspunkt
aus hat nun aber der Positivismus auch seine Forderung, den Wert der wissen¬
schaftlichen Arbeit nach sozialphilosophischen Prinzipien zu beurteilen, und diese
Prinzipien für ihren Betrieb maßgebend zu macheu, zu begründen gesucht.
„Ungeachtet aller ihrer Begabung, so sagt z. B. Laffitte,*) hätten die Aristoteles,
Archimedes oder Descartes sicher nichts geschaffen, wenn sie auf ihre Kräfte
allein angewiesen gewesen wären. Und ist denn eine solche Begabung übrigens



^) Ju 'seinem Oours <1s xlulosopdis ^rsiniürs, Paris 1889.
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[0304] Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee Er soll sich nur bewußt bleiben, daß sein Thun lediglich dadurch eine» sittlichen Wert, und er selbst die Daseinsberechtigung in der menschlichen Gesellschaft gewinnt, daß er dazu beiträgt, das geistige Kapital der Mensch¬ heit zu vermehren. Mehr als jeder andre ist der Denker der Gesellschaft, von der er getragen wird, zum Danke verpflichtet, und es müßte als eine Verletzung der sozialen Pflicht bezeichnet werden, wenn einer sich in ein Lieb¬ lingsstudium vergrabend wie der Geizige im Genusse aufgehäufter geistiger Schätze schwelgen wollte, statt die von ihm gefundnen Goldkörner der Er¬ kenntnis dem geistigen Besitze der Menschheit hinzuzufügen und als dienendes Glied mit andern an der Vergrößerung dieses Besitztums planmüßig zu arbeiten. Es kommt hinzu, daß auch in seiner rein geistigen Entwicklung der Einzelne sich in wesentlicher Abhängigkeit vom Ganzen befindet. Was die Vorfahren gedacht und geschafft haben, wird zum Bildungsmittel für die Nach¬ kommen, und wie die Erzeugung neuer materieller Güter nur möglich ist mit Hilfe bereits vorhandner Ergebnisse früherer Arbeit, so schreitet auch die Forschung überall nur auf Grund überlieferter Wahrheiten zu neuen Ent¬ deckungen fort. Es ist eine kaum zu entscheidende Frage, welches die Haupt- ursache beim Zustandekommen eines Fortschrittes auf geistigem Gebiete nicht nur, sondern alles Fortschrittes überhaupt sei, ob die Thätigkeit einzelner hervor¬ ragender Persönlichkeiten oder die durch lange Zeiträume hindurch aufgehäufte Wirksamkeit von ganzen Massen. Je nach ihrer Beantwortung unterscheiden sich zwei Hauptrichtungen der geschichtsphilosophischen Auffassung. Während Männer wie Carlisle in England und neuerdings Fr. Nietzsche bei uns mit Entschiedenheit die Lehre verfochten haben, daß die Menschheit ausschließlich durch einzelne schöpferische Geister vorwärts gebracht werde, ist für den Posi- tivismus das Bestreben charakteristisch, die Leistung des Einzelnen durchweg als verschwindend gegenüber der Wirkung der Massen, und die hervorragende Persönlichkeit nicht als ans sich selbst ruhend, sondern als ein Erzeugnis der Umgebung aufzufassen, aus der sie hervortritt. Es ist bekannt, daß Taine u. a. diesen Gesichtspunkt, der verwandt ist mit dem durch Darwin in die Zoologie eingeführten, in der Geschichtschreibung mit Geschick zur Geltung gebracht haben, worauf hier nicht weiter einzugehen ist. Von demselben Gesichtspunkt aus hat nun aber der Positivismus auch seine Forderung, den Wert der wissen¬ schaftlichen Arbeit nach sozialphilosophischen Prinzipien zu beurteilen, und diese Prinzipien für ihren Betrieb maßgebend zu macheu, zu begründen gesucht. „Ungeachtet aller ihrer Begabung, so sagt z. B. Laffitte,*) hätten die Aristoteles, Archimedes oder Descartes sicher nichts geschaffen, wenn sie auf ihre Kräfte allein angewiesen gewesen wären. Und ist denn eine solche Begabung übrigens ^) Ju 'seinem Oours <1s xlulosopdis ^rsiniürs, Paris 1889.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/304>, abgerufen am 26.06.2024.