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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

nicht selbst ein Erzeugnis der Menschheit im ganzen? Haben jene ungewöhn¬
lichen Köpfe sich selbst geschaffen, oder sind sie nicht vielmehr das Ergebnis
einer langsamen Arbeit und gewissermaßen die Frucht einer Reihe von Ge¬
schlechtern? Wenn man den Dingen auf den Grund geht, so bemerkt man leicht,
daß man den Ruhm ihrer wunderbaren und wertvollen Entdeckungen der ganzen
Menschheit zueignen müßte, der wir in den Personen der Erfinder unsre
Ehrenbezeugungen darbringen. Es ist also nicht mehr als in der Ordnung,
daß Nur der Menschheit das wiedergeben, was Nur von ihr empfangen habe",
und planmäßig nicht unsrer persönlichen Befriedigung zuliebe, sondern mit
Rücksicht ans die Bedürfnisse des Ganzen und der zukünftigen Geschlechter
an der Wissenschaft weiterarbeiten."

Hier tritt nun aber die Hauptfrage heran, welche Bedeutung denn eigentlich
das Wissen für die Menschheit hat. Daß das Wissen nicht Selbstzweck sein könne,
steht, wie bemerkt, dem Positivismus von vornherein fest. "Die Geschichte der
Naturwissenschaften, so sagt Harnack a. a. O., zeigt, daß unser bloßes Bedürfnis
uach Erkenntnis irgend eine Befriedigung nicht gewinnt, indem alle die Fragen,
mit denen jenes immer zuerst angefangen hat und noch anfangen möchte,
ungelöst vor uns stehen wie zu deu Zeiten der ersten wissenschaftlichen
Forschung . . . Darum kann, was wirklich durch die Wissenschaften geleistet
worden ist, in seiner Bedeutung nur gemessen werden an dein Einfluß, den es
anf das thätige Leben der Menschheit gewonnen hat, aus das Leben in seinen
mannichfachen geistigen und leiblichen Bedürfnissen, in seiner sozialen Gemein¬
schaft." Und Laffitte erklärt: "Das Wissen an sich würde nichts bedeuten als
eine Befriedigung der Neugierde, aber der Positivismus hat einen hoher"
Ehrgeiz, er wünscht zu wissen, um zu handeln ... Es giebt in Wahrheit nur
eine Wissenschaft, die Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft; alles
übrige sollte nur zu dein Zweck erforscht werden, um diese besser kennen zu
lernen und ihnen besser zu dienen." Alle wissenschaftliche Forschung, so legt er
weiter dar, gelangt an eine Grenze, jenseits deren es nutzlos und fast gefährlich
ist, sie weiter zu verfolgen, denn das Denken verliert sich schließlich in Fragen,
deren Beantwortung nicht nur für uns Menschen gu"z bedeutungslos ist,
sondern die auch, indem sie den Geist immer tiefer in die Spekulation hinein¬
ziehen, die Thatkraft lähmen und den Menschen untauglich zur Erfüllung
seiner praktischen Aufgaben machen.

Man sieht, daß der Zweifel an der Leistungsfähigkeit des menschlichen
Erkenntnisvermögens einer der entscheidenden Gründe für den Positivismus
bildet; und in der That ist zu allen Zeiten, wo dieser Zweifel anftrnt, die
Praktische Bestimmung der Wissenschaft vorwiegend betont worden. Ich
erinnere uur an Locke, der in seinen: "Versuche über den menschlichen
Verstand." einer Vorarbeit zu Kants "Kritik der reinen Vernunft," zu dem
Ergebnisse kam, daß wir von den Dingen nichts wissen können, als was


Grenzbvte" III IL90 38
Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

nicht selbst ein Erzeugnis der Menschheit im ganzen? Haben jene ungewöhn¬
lichen Köpfe sich selbst geschaffen, oder sind sie nicht vielmehr das Ergebnis
einer langsamen Arbeit und gewissermaßen die Frucht einer Reihe von Ge¬
schlechtern? Wenn man den Dingen auf den Grund geht, so bemerkt man leicht,
daß man den Ruhm ihrer wunderbaren und wertvollen Entdeckungen der ganzen
Menschheit zueignen müßte, der wir in den Personen der Erfinder unsre
Ehrenbezeugungen darbringen. Es ist also nicht mehr als in der Ordnung,
daß Nur der Menschheit das wiedergeben, was Nur von ihr empfangen habe»,
und planmäßig nicht unsrer persönlichen Befriedigung zuliebe, sondern mit
Rücksicht ans die Bedürfnisse des Ganzen und der zukünftigen Geschlechter
an der Wissenschaft weiterarbeiten."

Hier tritt nun aber die Hauptfrage heran, welche Bedeutung denn eigentlich
das Wissen für die Menschheit hat. Daß das Wissen nicht Selbstzweck sein könne,
steht, wie bemerkt, dem Positivismus von vornherein fest. „Die Geschichte der
Naturwissenschaften, so sagt Harnack a. a. O., zeigt, daß unser bloßes Bedürfnis
uach Erkenntnis irgend eine Befriedigung nicht gewinnt, indem alle die Fragen,
mit denen jenes immer zuerst angefangen hat und noch anfangen möchte,
ungelöst vor uns stehen wie zu deu Zeiten der ersten wissenschaftlichen
Forschung . . . Darum kann, was wirklich durch die Wissenschaften geleistet
worden ist, in seiner Bedeutung nur gemessen werden an dein Einfluß, den es
anf das thätige Leben der Menschheit gewonnen hat, aus das Leben in seinen
mannichfachen geistigen und leiblichen Bedürfnissen, in seiner sozialen Gemein¬
schaft." Und Laffitte erklärt: „Das Wissen an sich würde nichts bedeuten als
eine Befriedigung der Neugierde, aber der Positivismus hat einen hoher»
Ehrgeiz, er wünscht zu wissen, um zu handeln ... Es giebt in Wahrheit nur
eine Wissenschaft, die Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft; alles
übrige sollte nur zu dein Zweck erforscht werden, um diese besser kennen zu
lernen und ihnen besser zu dienen." Alle wissenschaftliche Forschung, so legt er
weiter dar, gelangt an eine Grenze, jenseits deren es nutzlos und fast gefährlich
ist, sie weiter zu verfolgen, denn das Denken verliert sich schließlich in Fragen,
deren Beantwortung nicht nur für uns Menschen gu»z bedeutungslos ist,
sondern die auch, indem sie den Geist immer tiefer in die Spekulation hinein¬
ziehen, die Thatkraft lähmen und den Menschen untauglich zur Erfüllung
seiner praktischen Aufgaben machen.

Man sieht, daß der Zweifel an der Leistungsfähigkeit des menschlichen
Erkenntnisvermögens einer der entscheidenden Gründe für den Positivismus
bildet; und in der That ist zu allen Zeiten, wo dieser Zweifel anftrnt, die
Praktische Bestimmung der Wissenschaft vorwiegend betont worden. Ich
erinnere uur an Locke, der in seinen: „Versuche über den menschlichen
Verstand." einer Vorarbeit zu Kants „Kritik der reinen Vernunft," zu dem
Ergebnisse kam, daß wir von den Dingen nichts wissen können, als was


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/305>, abgerufen am 26.06.2024.