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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

bemerke, daß ich keineswegs zu den Comteschwärmern gehöre, so glaube ich
doch, daß die Ideen des Positivismus genug zu denken geben, sodaß ein Ein¬
gehen auf sie jedenfalls nicht Verlorne Mühe ist.

Die freilich, denen es mit grundsätzlicher Gewißheit feststeht, daß das Wissen
Selbstzweck sei, und daß der "ideale" Forscher der Wahrheit um ihrer selbst
willen nachspüren müsse, werden sich mit Entrüstung von einer Ansicht ab¬
wenden, die mit unverhüllter Offenheit ausspricht, daß die Wissenschaft
durchweg nur insofern Daseinsberechtigung und Wert habe, als sie dein Leben
dient, daß alle Kräfte, die auf die Gewinnung von Einsichten verwandt wurden,
die zwar sehr wichtig sein können, aber zur Beförderung des Wohles der
Menschheit nichts beitragen, vergeudet wurden. Denkt man jedoch etwas
tiefer, so zeigt sich, daß dieser scheinbar so rohen Anschauung thatsächlich ein
höherer Grad von Idealismus, von sittlichem Idealismus (und einen andern
giebt es eigentlich gar nicht) zu Grunde liegt, als der entgegengesetzten. Denn
der Wahrheit um ihrer selbst willen dienen, heißt doch bei Lichte besehen nichts
weiter, als in der mit jeder Erweiterung der Erkenntnis verbundenen Lust deu
ganzen Zweck der Forschung suchen; somit ist hier die Rücksicht auf die sub¬
jektive Befriedigung auf den (geistigen) Genuß die Triebfeder der Thätigkeit,
dies aber ist eine egoistische Triebfeder. Mag der geistige Genuß, die Freude
an der Erkenntnis einer Wahrheit noch so viel feiner sein, als der sinnliche,
in Bezug auf die sittliche Würdigung kaun dies keinen Unterschied machen;
überall gewinnt menschliches Streben erst dadurch einen sittlichen Wert, einen
"idealen" Inhalt, daß es sich in den Dienst der Mitmenschen stellt, daß es für
andre, nicht für den Einzelnen etwas leisten will.

Mail wird deshalb nicht umhin können, dem positivistischen Grund¬
gedanken, daß auch das Wissen nur soweit einen Wert habe, als es einem
praktisch-sittlichen Zwecke dient, im allgemeinen zuzustimmen. Daß dieser Zweck im
einzelnen und unmittelbar nachweisbar sei, wird freilich nicht verlangt werden
können, auch würde dies der Natur der Sache nach in den meisten Fällen un¬
möglich sein. Wie oft wird erst nach langer Zeit und unter ganz unerwarteten
Umständen die Einsicht, die einem still forschenden Geiste aufging, und die zunächst
nur diesen selbst erfreute, zu einem Segen für weitere Kreise der Menschheit!
Gedanken sind eben keine beweglichen Güter, denen ihr Zweck unverkennbar
innewohnt, und die der Erzeuger zum unmittelbaren Verbrauche herliefert;
neu entdeckte Wahrheiten stellen vielmehr in den meisten Fällen zunächst nur
ein totes Kapital vor, und es bleibt abzuwarten, ob und wann es lebendig
und wirksam wird. Im ganzen kann als die Regel gelten, daß die wissen¬
schaftlichen Ergebnisse der Gegenwart erst für die zukünftigen Geschlechter
Hilfsmittel für die bessere Gestaltung des Lebens abgeben. Wenn also der
wissenschaftliche Forscher diesen Endzweck seiner Arbeiten im Ange behalten soll,
so wird er doch nicht selbst überall an die Nutzanwendung zu denken brauchen.


Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee

bemerke, daß ich keineswegs zu den Comteschwärmern gehöre, so glaube ich
doch, daß die Ideen des Positivismus genug zu denken geben, sodaß ein Ein¬
gehen auf sie jedenfalls nicht Verlorne Mühe ist.

Die freilich, denen es mit grundsätzlicher Gewißheit feststeht, daß das Wissen
Selbstzweck sei, und daß der „ideale" Forscher der Wahrheit um ihrer selbst
willen nachspüren müsse, werden sich mit Entrüstung von einer Ansicht ab¬
wenden, die mit unverhüllter Offenheit ausspricht, daß die Wissenschaft
durchweg nur insofern Daseinsberechtigung und Wert habe, als sie dein Leben
dient, daß alle Kräfte, die auf die Gewinnung von Einsichten verwandt wurden,
die zwar sehr wichtig sein können, aber zur Beförderung des Wohles der
Menschheit nichts beitragen, vergeudet wurden. Denkt man jedoch etwas
tiefer, so zeigt sich, daß dieser scheinbar so rohen Anschauung thatsächlich ein
höherer Grad von Idealismus, von sittlichem Idealismus (und einen andern
giebt es eigentlich gar nicht) zu Grunde liegt, als der entgegengesetzten. Denn
der Wahrheit um ihrer selbst willen dienen, heißt doch bei Lichte besehen nichts
weiter, als in der mit jeder Erweiterung der Erkenntnis verbundenen Lust deu
ganzen Zweck der Forschung suchen; somit ist hier die Rücksicht auf die sub¬
jektive Befriedigung auf den (geistigen) Genuß die Triebfeder der Thätigkeit,
dies aber ist eine egoistische Triebfeder. Mag der geistige Genuß, die Freude
an der Erkenntnis einer Wahrheit noch so viel feiner sein, als der sinnliche,
in Bezug auf die sittliche Würdigung kaun dies keinen Unterschied machen;
überall gewinnt menschliches Streben erst dadurch einen sittlichen Wert, einen
„idealen" Inhalt, daß es sich in den Dienst der Mitmenschen stellt, daß es für
andre, nicht für den Einzelnen etwas leisten will.

Mail wird deshalb nicht umhin können, dem positivistischen Grund¬
gedanken, daß auch das Wissen nur soweit einen Wert habe, als es einem
praktisch-sittlichen Zwecke dient, im allgemeinen zuzustimmen. Daß dieser Zweck im
einzelnen und unmittelbar nachweisbar sei, wird freilich nicht verlangt werden
können, auch würde dies der Natur der Sache nach in den meisten Fällen un¬
möglich sein. Wie oft wird erst nach langer Zeit und unter ganz unerwarteten
Umständen die Einsicht, die einem still forschenden Geiste aufging, und die zunächst
nur diesen selbst erfreute, zu einem Segen für weitere Kreise der Menschheit!
Gedanken sind eben keine beweglichen Güter, denen ihr Zweck unverkennbar
innewohnt, und die der Erzeuger zum unmittelbaren Verbrauche herliefert;
neu entdeckte Wahrheiten stellen vielmehr in den meisten Fällen zunächst nur
ein totes Kapital vor, und es bleibt abzuwarten, ob und wann es lebendig
und wirksam wird. Im ganzen kann als die Regel gelten, daß die wissen¬
schaftlichen Ergebnisse der Gegenwart erst für die zukünftigen Geschlechter
Hilfsmittel für die bessere Gestaltung des Lebens abgeben. Wenn also der
wissenschaftliche Forscher diesen Endzweck seiner Arbeiten im Ange behalten soll,
so wird er doch nicht selbst überall an die Nutzanwendung zu denken brauchen.


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[0303] Die Wissenschaft im Lichte der sozialen Idee bemerke, daß ich keineswegs zu den Comteschwärmern gehöre, so glaube ich doch, daß die Ideen des Positivismus genug zu denken geben, sodaß ein Ein¬ gehen auf sie jedenfalls nicht Verlorne Mühe ist. Die freilich, denen es mit grundsätzlicher Gewißheit feststeht, daß das Wissen Selbstzweck sei, und daß der „ideale" Forscher der Wahrheit um ihrer selbst willen nachspüren müsse, werden sich mit Entrüstung von einer Ansicht ab¬ wenden, die mit unverhüllter Offenheit ausspricht, daß die Wissenschaft durchweg nur insofern Daseinsberechtigung und Wert habe, als sie dein Leben dient, daß alle Kräfte, die auf die Gewinnung von Einsichten verwandt wurden, die zwar sehr wichtig sein können, aber zur Beförderung des Wohles der Menschheit nichts beitragen, vergeudet wurden. Denkt man jedoch etwas tiefer, so zeigt sich, daß dieser scheinbar so rohen Anschauung thatsächlich ein höherer Grad von Idealismus, von sittlichem Idealismus (und einen andern giebt es eigentlich gar nicht) zu Grunde liegt, als der entgegengesetzten. Denn der Wahrheit um ihrer selbst willen dienen, heißt doch bei Lichte besehen nichts weiter, als in der mit jeder Erweiterung der Erkenntnis verbundenen Lust deu ganzen Zweck der Forschung suchen; somit ist hier die Rücksicht auf die sub¬ jektive Befriedigung auf den (geistigen) Genuß die Triebfeder der Thätigkeit, dies aber ist eine egoistische Triebfeder. Mag der geistige Genuß, die Freude an der Erkenntnis einer Wahrheit noch so viel feiner sein, als der sinnliche, in Bezug auf die sittliche Würdigung kaun dies keinen Unterschied machen; überall gewinnt menschliches Streben erst dadurch einen sittlichen Wert, einen „idealen" Inhalt, daß es sich in den Dienst der Mitmenschen stellt, daß es für andre, nicht für den Einzelnen etwas leisten will. Mail wird deshalb nicht umhin können, dem positivistischen Grund¬ gedanken, daß auch das Wissen nur soweit einen Wert habe, als es einem praktisch-sittlichen Zwecke dient, im allgemeinen zuzustimmen. Daß dieser Zweck im einzelnen und unmittelbar nachweisbar sei, wird freilich nicht verlangt werden können, auch würde dies der Natur der Sache nach in den meisten Fällen un¬ möglich sein. Wie oft wird erst nach langer Zeit und unter ganz unerwarteten Umständen die Einsicht, die einem still forschenden Geiste aufging, und die zunächst nur diesen selbst erfreute, zu einem Segen für weitere Kreise der Menschheit! Gedanken sind eben keine beweglichen Güter, denen ihr Zweck unverkennbar innewohnt, und die der Erzeuger zum unmittelbaren Verbrauche herliefert; neu entdeckte Wahrheiten stellen vielmehr in den meisten Fällen zunächst nur ein totes Kapital vor, und es bleibt abzuwarten, ob und wann es lebendig und wirksam wird. Im ganzen kann als die Regel gelten, daß die wissen¬ schaftlichen Ergebnisse der Gegenwart erst für die zukünftigen Geschlechter Hilfsmittel für die bessere Gestaltung des Lebens abgeben. Wenn also der wissenschaftliche Forscher diesen Endzweck seiner Arbeiten im Ange behalten soll, so wird er doch nicht selbst überall an die Nutzanwendung zu denken brauchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/303>, abgerufen am 26.06.2024.