Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Epik

episodisch sehr markig dargestellt wird. Endlich kehrt er nach Nürnberg zurück,
wo er -- tot gesagt und doch von dein geliebten Mädchen nicht aufgegeben --
von Maria mit offenen Armen, von ihrem Vater mit Zurückhaltung empfangen
wird. Der Schluß ist wieder fein gedacht: Hans schafft ein Bild der eignen
Mutter, das deu Alten begeistert; aber er schätzt jetzt auch das Handwerk nicht
gering und will auf höherer Stufe Kunst und Handwerk vereinigen. Nun
kann er heiraten. Maria, die die schroffen Gegensätze der Männer mildert,
ist vortrefflich geschildert. Aber man vermißt eine reichere Charakteristik des
Helden; die Zeichnung ist zu sprunghaft, zu sehr in großen Zügen gehalten.
Trotz alledem ist das Werk eine wertvolle und hoffnungerweckeude Leistung.

Nach langer Zeit hat auch Heinrich Kruse seiner ersten unter dem Titel
Seegeschichten erschienenen Sammlung kleiner Dichtungen eine zweite (Stutt¬
gart, Cottas Nachfolger, 1889) folgen lassen. Wenn nicht die schon erwähnte
Abneigung gegen alle Verse bestünde, so müßte dieses vorwiegend heitere Buch
schnell zu großer Beliebtheit gelangen. Denn Kruse ist ein geschickter Erzähler.
Die Charakteristik ist von großer Anschaulichkeit, er ist kein unkünstlerischer
Grübler, er begnügt sich mit dein zur Erzählung nötigsten in der Gestaltung
der Menschen, und die Fabel selbst ist vortrefflich gebildet "ud schlagend zu¬
gespitzt. Der Hexameter wird bei ihm anmutig, fließt zwanglos, ohne Pathos in
reicher Bildlichkeit dahin, man fühlt selten einen Zwiespalt zwischen dem Adel
der Form und dem anekdotischen oder schnurrenhasten Wesen des Inhalts;
jedenfalls wird man immer unterhalten. Die Geschichten haben bis ans
wenige das Seemannsleben, seine Gefahren und seinen Humor zum Inhalt;
es sind Sittenbilder des meerfahrenden Volkes an der norddeutschen Küste.
Am liebsten erzählt er von recht kühnen Thaten, wie z. B. die Geschichte des
"Milchlamms," eines jungen Seekadettcn, der sich als Muttersöhnlein lange
Zeit säuseln läßt, um sich plötzlich als ein unerschrockener Mann voll Geistes¬
gegenwart zu entpuppen: fünf Matrosen stehen meuternd ihm gegenüber, und
er beherrscht sie alle, bloß die Pistole in der Hand.

Im "Vorwort" sagt Kruse: "Bei diese" kleinen Dichtungen, wie bei
großen Kompositionen hat mir oft Fielding als Muster vorgeschwebt, der
einmal sagte, er erfinde gar nichts selbst, sondern er schreibe nur ub -- aus
dem großen Buche der Natur, wenn er auch nicht immer die Seitenzahl an¬
führe. Dabei hab ich, wie andre Schriftsteller vor mir, öfters die Erfahrung
gemacht, die auch denen, die nach mir kommen, nicht erspart bleiben wird,
nämlich daß gerade solche Züge, die ich tren dem Leben entnommen habe,
von mürrischen Kritikern für unwahrscheinlich und unmöglich erklärt wurden.
Denn so bescheiden sind die wenigsten, um den Grund dafür, daß sie etwas
für unnatürlich halten, in der Beschränktheit ihrer eignen Erfahrung zu
suchen." Wir gestehen, daß auch wir nicht so bescheiden sind, alles was die
Dichter erzählen, für wahr oder möglich zu halten, und wir schenen uus uicht,


Grenzboten III 1890 3
Neue Epik

episodisch sehr markig dargestellt wird. Endlich kehrt er nach Nürnberg zurück,
wo er — tot gesagt und doch von dein geliebten Mädchen nicht aufgegeben —
von Maria mit offenen Armen, von ihrem Vater mit Zurückhaltung empfangen
wird. Der Schluß ist wieder fein gedacht: Hans schafft ein Bild der eignen
Mutter, das deu Alten begeistert; aber er schätzt jetzt auch das Handwerk nicht
gering und will auf höherer Stufe Kunst und Handwerk vereinigen. Nun
kann er heiraten. Maria, die die schroffen Gegensätze der Männer mildert,
ist vortrefflich geschildert. Aber man vermißt eine reichere Charakteristik des
Helden; die Zeichnung ist zu sprunghaft, zu sehr in großen Zügen gehalten.
Trotz alledem ist das Werk eine wertvolle und hoffnungerweckeude Leistung.

Nach langer Zeit hat auch Heinrich Kruse seiner ersten unter dem Titel
Seegeschichten erschienenen Sammlung kleiner Dichtungen eine zweite (Stutt¬
gart, Cottas Nachfolger, 1889) folgen lassen. Wenn nicht die schon erwähnte
Abneigung gegen alle Verse bestünde, so müßte dieses vorwiegend heitere Buch
schnell zu großer Beliebtheit gelangen. Denn Kruse ist ein geschickter Erzähler.
Die Charakteristik ist von großer Anschaulichkeit, er ist kein unkünstlerischer
Grübler, er begnügt sich mit dein zur Erzählung nötigsten in der Gestaltung
der Menschen, und die Fabel selbst ist vortrefflich gebildet »ud schlagend zu¬
gespitzt. Der Hexameter wird bei ihm anmutig, fließt zwanglos, ohne Pathos in
reicher Bildlichkeit dahin, man fühlt selten einen Zwiespalt zwischen dem Adel
der Form und dem anekdotischen oder schnurrenhasten Wesen des Inhalts;
jedenfalls wird man immer unterhalten. Die Geschichten haben bis ans
wenige das Seemannsleben, seine Gefahren und seinen Humor zum Inhalt;
es sind Sittenbilder des meerfahrenden Volkes an der norddeutschen Küste.
Am liebsten erzählt er von recht kühnen Thaten, wie z. B. die Geschichte des
„Milchlamms," eines jungen Seekadettcn, der sich als Muttersöhnlein lange
Zeit säuseln läßt, um sich plötzlich als ein unerschrockener Mann voll Geistes¬
gegenwart zu entpuppen: fünf Matrosen stehen meuternd ihm gegenüber, und
er beherrscht sie alle, bloß die Pistole in der Hand.

Im „Vorwort" sagt Kruse: „Bei diese» kleinen Dichtungen, wie bei
großen Kompositionen hat mir oft Fielding als Muster vorgeschwebt, der
einmal sagte, er erfinde gar nichts selbst, sondern er schreibe nur ub — aus
dem großen Buche der Natur, wenn er auch nicht immer die Seitenzahl an¬
führe. Dabei hab ich, wie andre Schriftsteller vor mir, öfters die Erfahrung
gemacht, die auch denen, die nach mir kommen, nicht erspart bleiben wird,
nämlich daß gerade solche Züge, die ich tren dem Leben entnommen habe,
von mürrischen Kritikern für unwahrscheinlich und unmöglich erklärt wurden.
Denn so bescheiden sind die wenigsten, um den Grund dafür, daß sie etwas
für unnatürlich halten, in der Beschränktheit ihrer eignen Erfahrung zu
suchen." Wir gestehen, daß auch wir nicht so bescheiden sind, alles was die
Dichter erzählen, für wahr oder möglich zu halten, und wir schenen uus uicht,


Grenzboten III 1890 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207962"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Epik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_34" prev="#ID_33"> episodisch sehr markig dargestellt wird. Endlich kehrt er nach Nürnberg zurück,<lb/>
wo er &#x2014; tot gesagt und doch von dein geliebten Mädchen nicht aufgegeben &#x2014;<lb/>
von Maria mit offenen Armen, von ihrem Vater mit Zurückhaltung empfangen<lb/>
wird. Der Schluß ist wieder fein gedacht: Hans schafft ein Bild der eignen<lb/>
Mutter, das deu Alten begeistert; aber er schätzt jetzt auch das Handwerk nicht<lb/>
gering und will auf höherer Stufe Kunst und Handwerk vereinigen. Nun<lb/>
kann er heiraten. Maria, die die schroffen Gegensätze der Männer mildert,<lb/>
ist vortrefflich geschildert. Aber man vermißt eine reichere Charakteristik des<lb/>
Helden; die Zeichnung ist zu sprunghaft, zu sehr in großen Zügen gehalten.<lb/>
Trotz alledem ist das Werk eine wertvolle und hoffnungerweckeude Leistung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_35"> Nach langer Zeit hat auch Heinrich Kruse seiner ersten unter dem Titel<lb/>
Seegeschichten erschienenen Sammlung kleiner Dichtungen eine zweite (Stutt¬<lb/>
gart, Cottas Nachfolger, 1889) folgen lassen. Wenn nicht die schon erwähnte<lb/>
Abneigung gegen alle Verse bestünde, so müßte dieses vorwiegend heitere Buch<lb/>
schnell zu großer Beliebtheit gelangen. Denn Kruse ist ein geschickter Erzähler.<lb/>
Die Charakteristik ist von großer Anschaulichkeit, er ist kein unkünstlerischer<lb/>
Grübler, er begnügt sich mit dein zur Erzählung nötigsten in der Gestaltung<lb/>
der Menschen, und die Fabel selbst ist vortrefflich gebildet »ud schlagend zu¬<lb/>
gespitzt. Der Hexameter wird bei ihm anmutig, fließt zwanglos, ohne Pathos in<lb/>
reicher Bildlichkeit dahin, man fühlt selten einen Zwiespalt zwischen dem Adel<lb/>
der Form und dem anekdotischen oder schnurrenhasten Wesen des Inhalts;<lb/>
jedenfalls wird man immer unterhalten. Die Geschichten haben bis ans<lb/>
wenige das Seemannsleben, seine Gefahren und seinen Humor zum Inhalt;<lb/>
es sind Sittenbilder des meerfahrenden Volkes an der norddeutschen Küste.<lb/>
Am liebsten erzählt er von recht kühnen Thaten, wie z. B. die Geschichte des<lb/>
&#x201E;Milchlamms," eines jungen Seekadettcn, der sich als Muttersöhnlein lange<lb/>
Zeit säuseln läßt, um sich plötzlich als ein unerschrockener Mann voll Geistes¬<lb/>
gegenwart zu entpuppen: fünf Matrosen stehen meuternd ihm gegenüber, und<lb/>
er beherrscht sie alle, bloß die Pistole in der Hand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_36" next="#ID_37"> Im &#x201E;Vorwort" sagt Kruse: &#x201E;Bei diese» kleinen Dichtungen, wie bei<lb/>
großen Kompositionen hat mir oft Fielding als Muster vorgeschwebt, der<lb/>
einmal sagte, er erfinde gar nichts selbst, sondern er schreibe nur ub &#x2014; aus<lb/>
dem großen Buche der Natur, wenn er auch nicht immer die Seitenzahl an¬<lb/>
führe. Dabei hab ich, wie andre Schriftsteller vor mir, öfters die Erfahrung<lb/>
gemacht, die auch denen, die nach mir kommen, nicht erspart bleiben wird,<lb/>
nämlich daß gerade solche Züge, die ich tren dem Leben entnommen habe,<lb/>
von mürrischen Kritikern für unwahrscheinlich und unmöglich erklärt wurden.<lb/>
Denn so bescheiden sind die wenigsten, um den Grund dafür, daß sie etwas<lb/>
für unnatürlich halten, in der Beschränktheit ihrer eignen Erfahrung zu<lb/>
suchen." Wir gestehen, daß auch wir nicht so bescheiden sind, alles was die<lb/>
Dichter erzählen, für wahr oder möglich zu halten, und wir schenen uus uicht,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1890 3</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Neue Epik episodisch sehr markig dargestellt wird. Endlich kehrt er nach Nürnberg zurück, wo er — tot gesagt und doch von dein geliebten Mädchen nicht aufgegeben — von Maria mit offenen Armen, von ihrem Vater mit Zurückhaltung empfangen wird. Der Schluß ist wieder fein gedacht: Hans schafft ein Bild der eignen Mutter, das deu Alten begeistert; aber er schätzt jetzt auch das Handwerk nicht gering und will auf höherer Stufe Kunst und Handwerk vereinigen. Nun kann er heiraten. Maria, die die schroffen Gegensätze der Männer mildert, ist vortrefflich geschildert. Aber man vermißt eine reichere Charakteristik des Helden; die Zeichnung ist zu sprunghaft, zu sehr in großen Zügen gehalten. Trotz alledem ist das Werk eine wertvolle und hoffnungerweckeude Leistung. Nach langer Zeit hat auch Heinrich Kruse seiner ersten unter dem Titel Seegeschichten erschienenen Sammlung kleiner Dichtungen eine zweite (Stutt¬ gart, Cottas Nachfolger, 1889) folgen lassen. Wenn nicht die schon erwähnte Abneigung gegen alle Verse bestünde, so müßte dieses vorwiegend heitere Buch schnell zu großer Beliebtheit gelangen. Denn Kruse ist ein geschickter Erzähler. Die Charakteristik ist von großer Anschaulichkeit, er ist kein unkünstlerischer Grübler, er begnügt sich mit dein zur Erzählung nötigsten in der Gestaltung der Menschen, und die Fabel selbst ist vortrefflich gebildet »ud schlagend zu¬ gespitzt. Der Hexameter wird bei ihm anmutig, fließt zwanglos, ohne Pathos in reicher Bildlichkeit dahin, man fühlt selten einen Zwiespalt zwischen dem Adel der Form und dem anekdotischen oder schnurrenhasten Wesen des Inhalts; jedenfalls wird man immer unterhalten. Die Geschichten haben bis ans wenige das Seemannsleben, seine Gefahren und seinen Humor zum Inhalt; es sind Sittenbilder des meerfahrenden Volkes an der norddeutschen Küste. Am liebsten erzählt er von recht kühnen Thaten, wie z. B. die Geschichte des „Milchlamms," eines jungen Seekadettcn, der sich als Muttersöhnlein lange Zeit säuseln läßt, um sich plötzlich als ein unerschrockener Mann voll Geistes¬ gegenwart zu entpuppen: fünf Matrosen stehen meuternd ihm gegenüber, und er beherrscht sie alle, bloß die Pistole in der Hand. Im „Vorwort" sagt Kruse: „Bei diese» kleinen Dichtungen, wie bei großen Kompositionen hat mir oft Fielding als Muster vorgeschwebt, der einmal sagte, er erfinde gar nichts selbst, sondern er schreibe nur ub — aus dem großen Buche der Natur, wenn er auch nicht immer die Seitenzahl an¬ führe. Dabei hab ich, wie andre Schriftsteller vor mir, öfters die Erfahrung gemacht, die auch denen, die nach mir kommen, nicht erspart bleiben wird, nämlich daß gerade solche Züge, die ich tren dem Leben entnommen habe, von mürrischen Kritikern für unwahrscheinlich und unmöglich erklärt wurden. Denn so bescheiden sind die wenigsten, um den Grund dafür, daß sie etwas für unnatürlich halten, in der Beschränktheit ihrer eignen Erfahrung zu suchen." Wir gestehen, daß auch wir nicht so bescheiden sind, alles was die Dichter erzählen, für wahr oder möglich zu halten, und wir schenen uus uicht, Grenzboten III 1890 3

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/25>, abgerufen am 25.07.2024.