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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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suchte, brach der gesunde Vvlkshumor doch immer wieder durch und überschlug
sich zuweilen selbst in die unglaublichsten Gotteslästerungen.

Vvlkshumor -- ob wir heutzutage uicht auf dem besten Wege sind, dieses
Gnadengeschenk des Himmels, dieses Linderungsmittel aller Schmerzen gründlich
auszurotten? Man liest in allen Litteraturgeschichten, es sei ein unzweifelhaftes
Verdienst Gottscheds, den Hanswurst von der Bühne Verbanne zu haben; wir
halten diese Heldenthat für eine der thörichtsten Handlungen, die jemals ein
pedantischer, verbohrter Schulfuchs ausgeführt hat. Sie zeigt ein so geringes
Verständnis für die geschichtliche Entwicklung unsrer Bühne, eine solche Un¬
kenntnis des volkstümlichen Geistes, seiner Neigungen und Bedürfnisse, daß
wir in dieser That Gottscheds nicht das geringste Verdienst zu erkennen ver¬
mögen.

Spielte der Hanswurst auf der Volksbühne jener Zeit wirklich eine zu
große Rolle, so hätte man ihn in die gehörigen Grenzen zurückweisen müssen;
ihn aber völlig verbannen, hieß dem Volke ein gut Teil seines ursprünglichen
Humors rauben. Die blinde Verehrung des Franzosentums und die darauf
folgende gespreizte Vornehmthuerei mit der sklavischen Nachahmung der Alten
hat das deutsche Volk, d. h. die untern Schichten, von dem geistigen Mitleben
mit unsrer Litteratur immer mehr ausgeschlossen. Mit einem Walter von der
Vogelweide, mit einem Hans Sachs, einem Gellert lebte es -- was aber ist
unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, Hekuba? Was ist ihm unsre ganze
klassische Dichtung mit dem mythologischen Apparat der Alten? Ohne gelehrte
Bildung ist sie überhaupt uicht mehr zu verstehen, und wenn z. B. die Räuber
oder Götz von Berlichingen auch heutzutage auf den Ungebildeten einen unaus¬
löschlichen Eindruck ausüben, so geschieht das nur, weil sich darin etwas von
dem unverwüstlichen Geiste eines Hans Sachs vorfindet. Aber diese Thatsache
lehrt uns auch, wo mau mit den Reformbestrebungen unsrer Tage einzu¬
setzen hat.

Wer gegenwärtig nur Humanismus lehren, Sitten predigen und die Er¬
gebnisse der Wissenschaft verkünden will, wird wenig Hörer finden. Die
Bildungsvereine mit ihren Vortrügen liefern dafür den besten Beleg. Der
sogenannte Gebildete geht nicht hin, weil er schon alles in der Schule "gehabt
hat" oder weil er dem Skatspiel mehr Interesse abgewinnt. Der Ungebildete
geht nicht hin, weil er von dem ganzen Brimborium nichts versteht. Und so
müht sich denn der ideal angehauchte Redner ab, vor einer Gesellschaft von
Handlungslehrlingen seine philosophischen, naturwissenschaftlichen oder littera¬
rischen Probleme zu entwickeln. Ich frage, was hat das Volk von diesem
Vilduugsschwiudel, vou dieser Schaumschlägerei mit gelehrten Phrasen, von
diesem Sammelsurium abgeschlossener Gedanken und fertiger Urteile? Es ist
viel leichter, Kaviar und Austern zu würdigen, Weinsorten zu unterscheiden
lind den Wert von Zigarre" abzuschätzen, als die Werke der Denker nud Dichter


suchte, brach der gesunde Vvlkshumor doch immer wieder durch und überschlug
sich zuweilen selbst in die unglaublichsten Gotteslästerungen.

Vvlkshumor — ob wir heutzutage uicht auf dem besten Wege sind, dieses
Gnadengeschenk des Himmels, dieses Linderungsmittel aller Schmerzen gründlich
auszurotten? Man liest in allen Litteraturgeschichten, es sei ein unzweifelhaftes
Verdienst Gottscheds, den Hanswurst von der Bühne Verbanne zu haben; wir
halten diese Heldenthat für eine der thörichtsten Handlungen, die jemals ein
pedantischer, verbohrter Schulfuchs ausgeführt hat. Sie zeigt ein so geringes
Verständnis für die geschichtliche Entwicklung unsrer Bühne, eine solche Un¬
kenntnis des volkstümlichen Geistes, seiner Neigungen und Bedürfnisse, daß
wir in dieser That Gottscheds nicht das geringste Verdienst zu erkennen ver¬
mögen.

Spielte der Hanswurst auf der Volksbühne jener Zeit wirklich eine zu
große Rolle, so hätte man ihn in die gehörigen Grenzen zurückweisen müssen;
ihn aber völlig verbannen, hieß dem Volke ein gut Teil seines ursprünglichen
Humors rauben. Die blinde Verehrung des Franzosentums und die darauf
folgende gespreizte Vornehmthuerei mit der sklavischen Nachahmung der Alten
hat das deutsche Volk, d. h. die untern Schichten, von dem geistigen Mitleben
mit unsrer Litteratur immer mehr ausgeschlossen. Mit einem Walter von der
Vogelweide, mit einem Hans Sachs, einem Gellert lebte es — was aber ist
unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, Hekuba? Was ist ihm unsre ganze
klassische Dichtung mit dem mythologischen Apparat der Alten? Ohne gelehrte
Bildung ist sie überhaupt uicht mehr zu verstehen, und wenn z. B. die Räuber
oder Götz von Berlichingen auch heutzutage auf den Ungebildeten einen unaus¬
löschlichen Eindruck ausüben, so geschieht das nur, weil sich darin etwas von
dem unverwüstlichen Geiste eines Hans Sachs vorfindet. Aber diese Thatsache
lehrt uns auch, wo mau mit den Reformbestrebungen unsrer Tage einzu¬
setzen hat.

Wer gegenwärtig nur Humanismus lehren, Sitten predigen und die Er¬
gebnisse der Wissenschaft verkünden will, wird wenig Hörer finden. Die
Bildungsvereine mit ihren Vortrügen liefern dafür den besten Beleg. Der
sogenannte Gebildete geht nicht hin, weil er schon alles in der Schule „gehabt
hat" oder weil er dem Skatspiel mehr Interesse abgewinnt. Der Ungebildete
geht nicht hin, weil er von dem ganzen Brimborium nichts versteht. Und so
müht sich denn der ideal angehauchte Redner ab, vor einer Gesellschaft von
Handlungslehrlingen seine philosophischen, naturwissenschaftlichen oder littera¬
rischen Probleme zu entwickeln. Ich frage, was hat das Volk von diesem
Vilduugsschwiudel, vou dieser Schaumschlägerei mit gelehrten Phrasen, von
diesem Sammelsurium abgeschlossener Gedanken und fertiger Urteile? Es ist
viel leichter, Kaviar und Austern zu würdigen, Weinsorten zu unterscheiden
lind den Wert von Zigarre» abzuschätzen, als die Werke der Denker nud Dichter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/216>, abgerufen am 25.07.2024.