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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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unsrer Klassiker eine ideale Entschädigung für die materiellen Entbehrungen des
Lebens zu, bieten? Und doch ist die Frage, wie heben wir im Volke die
Intelligenz, d. h. eine gesunde Verstandesbildung, wie stärken wir das sittliche
Bewußtsein, wie füllen wir vor allen Dingen die gefährliche Langeweile aus,
die den Arbeiter, insbesondre den unverheirateten, packt, sobald er eine Zeit
lang seine Tretmühle verläßt, von schwerwiegender Bedeutung.

Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind immer die drei Parzen der
menschlichen Gesellschaft gewesen; sie spinnen ihren Lebensfaden, erhalten ihn
und schneiden ihn ab. Zu allen Zeiten haben sie das Leben der Volker nach
ihrer wechselnden Oberherrschaft in einem Maße bestimmt, daß man die ganze
Kulturgeschichte leicht auf diese verhängnisvollen Mächte zurückführen konnte.
Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind im Organismus eines jeden Volkes
die gewaltigsten Triebkräfte, vor denen alle andern Motive verschwinden. Es
fragt sich nur, welcher mau hierbei den ersten Rang einzuräumen habe. Sie
in die Gewalt zu bekommen und ihnen eine bestimmte Richtung aufzudrängen,
ist von jeher das Bestreben aller Gesetzgeber und staatenbildenden Mächte ge¬
wesen. Der blinde Geschlechtstrieb wird staatlich geordnet, kirchlich geheiligt
und zur Familiengründung und ordnungsmäßigen Fortpflanzung ausgenutzt.
Die Befriedigung des Hungers giebt Gelegenheit, als Gegenleistung die Arbeit
der Individuen zu verlangen, d. h. ihre Muskelkraft und Intelligenz in Pro¬
duktivität umzusetzen. Familiengründung und Produktivität arbeiten sich in
die Hände, so lange die wirtschaftliche Lage des Volkes gesund ist; sie schließen
sich aus, sobald ein krankhafter Zustand eingetreten ist, sobald mehr Kräfte
vorhanden sind, als der Staat zur Familiengründung und Nahrungsbeschaffnng
beansprucht. Jeder zur Bewegungslosigkeit verurteilte Strom wird staguirend
und zu einem Herde von Fäulniskeimen; jedes Volk, dessen überschüssige Kraft
nicht ins Spiel gesetzt wird, das in eine gewisse Bewegungslosigkeit, d. h. in
Langeweile geraten ist, geht dem Verfalle mit Riesenschritten entgegen.

Die Langeweile ist der gefährlichste Feind aller Nationen. Das wußten
die alten Volker besser als wir; daher die unzähligen Veranstaltungen bei den
Griechen und bei den Römern, um die unbeschäftigte" Gemüter und Körper¬
kräfte fortwährend in Thätigkeit zu erhalten; daher die beständige Vermehrung
der öffentlichen Schaubühnen, der Volksspiele und großen Feste; daher die
unheilvolle Zersetzung und die stürmischen Auftritte, sobald dein Rufe uach
Brot und Spielen nicht sofort vom Staate Folge gegeben wurde. Im Mittel¬
alter wußte die Kirche mit richtigem Verständnis den Spieltrieb und die Schau¬
lust des Volkes zu organisiren, ja sie gewann es über sich, viele ihrer Ein-
richtungen den germanischen Überlieferungen anzupassen und erst allmählich die
alten überkommenen Formen und Gebräuche mit christlichen Anschauungen zu
füllen. Trotz des düstern mönchischen Geistes, der zuweilen die überschüssigen
Kräfte des Volkes in Gebeten, Bußübungen und Kasteiungen zu ersticken ver-


unsrer Klassiker eine ideale Entschädigung für die materiellen Entbehrungen des
Lebens zu, bieten? Und doch ist die Frage, wie heben wir im Volke die
Intelligenz, d. h. eine gesunde Verstandesbildung, wie stärken wir das sittliche
Bewußtsein, wie füllen wir vor allen Dingen die gefährliche Langeweile aus,
die den Arbeiter, insbesondre den unverheirateten, packt, sobald er eine Zeit
lang seine Tretmühle verläßt, von schwerwiegender Bedeutung.

Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind immer die drei Parzen der
menschlichen Gesellschaft gewesen; sie spinnen ihren Lebensfaden, erhalten ihn
und schneiden ihn ab. Zu allen Zeiten haben sie das Leben der Volker nach
ihrer wechselnden Oberherrschaft in einem Maße bestimmt, daß man die ganze
Kulturgeschichte leicht auf diese verhängnisvollen Mächte zurückführen konnte.
Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind im Organismus eines jeden Volkes
die gewaltigsten Triebkräfte, vor denen alle andern Motive verschwinden. Es
fragt sich nur, welcher mau hierbei den ersten Rang einzuräumen habe. Sie
in die Gewalt zu bekommen und ihnen eine bestimmte Richtung aufzudrängen,
ist von jeher das Bestreben aller Gesetzgeber und staatenbildenden Mächte ge¬
wesen. Der blinde Geschlechtstrieb wird staatlich geordnet, kirchlich geheiligt
und zur Familiengründung und ordnungsmäßigen Fortpflanzung ausgenutzt.
Die Befriedigung des Hungers giebt Gelegenheit, als Gegenleistung die Arbeit
der Individuen zu verlangen, d. h. ihre Muskelkraft und Intelligenz in Pro¬
duktivität umzusetzen. Familiengründung und Produktivität arbeiten sich in
die Hände, so lange die wirtschaftliche Lage des Volkes gesund ist; sie schließen
sich aus, sobald ein krankhafter Zustand eingetreten ist, sobald mehr Kräfte
vorhanden sind, als der Staat zur Familiengründung und Nahrungsbeschaffnng
beansprucht. Jeder zur Bewegungslosigkeit verurteilte Strom wird staguirend
und zu einem Herde von Fäulniskeimen; jedes Volk, dessen überschüssige Kraft
nicht ins Spiel gesetzt wird, das in eine gewisse Bewegungslosigkeit, d. h. in
Langeweile geraten ist, geht dem Verfalle mit Riesenschritten entgegen.

Die Langeweile ist der gefährlichste Feind aller Nationen. Das wußten
die alten Volker besser als wir; daher die unzähligen Veranstaltungen bei den
Griechen und bei den Römern, um die unbeschäftigte» Gemüter und Körper¬
kräfte fortwährend in Thätigkeit zu erhalten; daher die beständige Vermehrung
der öffentlichen Schaubühnen, der Volksspiele und großen Feste; daher die
unheilvolle Zersetzung und die stürmischen Auftritte, sobald dein Rufe uach
Brot und Spielen nicht sofort vom Staate Folge gegeben wurde. Im Mittel¬
alter wußte die Kirche mit richtigem Verständnis den Spieltrieb und die Schau¬
lust des Volkes zu organisiren, ja sie gewann es über sich, viele ihrer Ein-
richtungen den germanischen Überlieferungen anzupassen und erst allmählich die
alten überkommenen Formen und Gebräuche mit christlichen Anschauungen zu
füllen. Trotz des düstern mönchischen Geistes, der zuweilen die überschüssigen
Kräfte des Volkes in Gebeten, Bußübungen und Kasteiungen zu ersticken ver-


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[0215] unsrer Klassiker eine ideale Entschädigung für die materiellen Entbehrungen des Lebens zu, bieten? Und doch ist die Frage, wie heben wir im Volke die Intelligenz, d. h. eine gesunde Verstandesbildung, wie stärken wir das sittliche Bewußtsein, wie füllen wir vor allen Dingen die gefährliche Langeweile aus, die den Arbeiter, insbesondre den unverheirateten, packt, sobald er eine Zeit lang seine Tretmühle verläßt, von schwerwiegender Bedeutung. Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind immer die drei Parzen der menschlichen Gesellschaft gewesen; sie spinnen ihren Lebensfaden, erhalten ihn und schneiden ihn ab. Zu allen Zeiten haben sie das Leben der Volker nach ihrer wechselnden Oberherrschaft in einem Maße bestimmt, daß man die ganze Kulturgeschichte leicht auf diese verhängnisvollen Mächte zurückführen konnte. Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind im Organismus eines jeden Volkes die gewaltigsten Triebkräfte, vor denen alle andern Motive verschwinden. Es fragt sich nur, welcher mau hierbei den ersten Rang einzuräumen habe. Sie in die Gewalt zu bekommen und ihnen eine bestimmte Richtung aufzudrängen, ist von jeher das Bestreben aller Gesetzgeber und staatenbildenden Mächte ge¬ wesen. Der blinde Geschlechtstrieb wird staatlich geordnet, kirchlich geheiligt und zur Familiengründung und ordnungsmäßigen Fortpflanzung ausgenutzt. Die Befriedigung des Hungers giebt Gelegenheit, als Gegenleistung die Arbeit der Individuen zu verlangen, d. h. ihre Muskelkraft und Intelligenz in Pro¬ duktivität umzusetzen. Familiengründung und Produktivität arbeiten sich in die Hände, so lange die wirtschaftliche Lage des Volkes gesund ist; sie schließen sich aus, sobald ein krankhafter Zustand eingetreten ist, sobald mehr Kräfte vorhanden sind, als der Staat zur Familiengründung und Nahrungsbeschaffnng beansprucht. Jeder zur Bewegungslosigkeit verurteilte Strom wird staguirend und zu einem Herde von Fäulniskeimen; jedes Volk, dessen überschüssige Kraft nicht ins Spiel gesetzt wird, das in eine gewisse Bewegungslosigkeit, d. h. in Langeweile geraten ist, geht dem Verfalle mit Riesenschritten entgegen. Die Langeweile ist der gefährlichste Feind aller Nationen. Das wußten die alten Volker besser als wir; daher die unzähligen Veranstaltungen bei den Griechen und bei den Römern, um die unbeschäftigte» Gemüter und Körper¬ kräfte fortwährend in Thätigkeit zu erhalten; daher die beständige Vermehrung der öffentlichen Schaubühnen, der Volksspiele und großen Feste; daher die unheilvolle Zersetzung und die stürmischen Auftritte, sobald dein Rufe uach Brot und Spielen nicht sofort vom Staate Folge gegeben wurde. Im Mittel¬ alter wußte die Kirche mit richtigem Verständnis den Spieltrieb und die Schau¬ lust des Volkes zu organisiren, ja sie gewann es über sich, viele ihrer Ein- richtungen den germanischen Überlieferungen anzupassen und erst allmählich die alten überkommenen Formen und Gebräuche mit christlichen Anschauungen zu füllen. Trotz des düstern mönchischen Geistes, der zuweilen die überschüssigen Kräfte des Volkes in Gebeten, Bußübungen und Kasteiungen zu ersticken ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/215>, abgerufen am 25.07.2024.