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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Bildnngsschwindel und volksbegliickmig

dein schwarzen Spion und dem elenden Diener aufgeben; es will sich bei dem
ewigen Einerlei seines Daseins auch einmal, wenn auch uur in der Phantasie,
in den Höhen des irdischen Glanzes, des Reichtums und der Macht bewegen;
man lasse ihm diese Freude -- wenn die Polizei nichts dagegen hat -- und
raube ihm um Himmels willen nicht die geheime Scheu vor der Gräfin, d. h.
vor den höhern Ständen. Die Franzosen haben neuerdings ans ihren Gym¬
nasien die Lektüre des Michael Kohlhaas entfernt, weil sie den jungen Leuten zu
viel Schwierigkeiten in Inhalt nud Sprache bot; glaubt der Verein, daß unsre
Sackträger und Fabrikarbeiter genug Intelligenz besitzen, um solch ein Werk zu
verstehen? Und wenn sich wirklich lesen, so ist sicher darauf zu wetten, daß
sie eine Moral daraus ziehen werden, von der gerade keine besondre Förderung
unsrer sozialen Zustände zu erwarten wäre.

Im Übereifer fangen unsre optimistischen Volksfreunde alles falsch an;
man glaubt die ganze Gesellschaft reformiren zu können, indem man mit den
Umgestaltungen ganz unten beim Pöbel anfängt, statt oben zu beginnen. Wenn
die Glieder nicht mehr wollen, ist immer der Magen oder das Gehirn dran
schuld; hier hätte man vor allen Dingen mit der Kur anzufangen.

Ist denn wirklich das geistige Leben unsrer bessern Gesellschaft so gesund,
das litterarische Interesse und künstlerische Verständnis unter den sogenannten
Gebildeten so vortrefflich, daß wir daran denken können, auch die untern Volks¬
schichten mit einer gediegneren geistigen Nahrung zu beglücken? Wer sich einmal
die Mühe nimmt, in den Leihbibliotheken nachzufragen, welche Bücher am meisten
vom gebildeten Publikum gelesen werden, der wird betrübende Erfahrungen
machen; aber es giebt noch einen bessern Wertmesser für den geistigen Stand¬
punkt, für den litterarischen Geschmack und das kritische Urteil der bessern
Kreise, man findet ihn in unsern Familieublättern, Wochenschriften und Tages¬
zeitungen. Man steht in der That oft sprachlos da, wenn man sieht, welch
ein unerhörtes Zeug die Journale, von den wissenschaftlich zugestutztem Rund¬
schauen herunter bis zu den seichten Familienblättern, ihren Lesern vorzusetzen
wagen dürfen; man muß noch mehr erstaunen, wenn man von den Redakteuren
erfährt, daß fades Salongewäsch, überspannte Darstellungen und offenbarer
Blödsinn in den Romanen und Novellen Beifall und Begeisterung finden, und
das nicht etwa unter den Schueidermädchen, sondern, wie oft aus den Brief¬
kastennotizen zu ersehen ist, gerade unter den Lesern der bessern Gesellschaft.
Haben wir bei einem so traurigen Zustande unsers litterarischen Urteils, bei
einer so offenbaren Geschmacksverirrung, die unsre gelddürstigen Verleger in
strafwürdiger Gewissenlosigkeit weidlich auszubeuten suchen, das Recht, über die
Kolpvrtagclitteratur den Stab zu brechen, uns in Entrüstung, Selbstgerechtigkeit
und Menschenliebe aufzublähen und in allen Gauen Deutschlands Geld zu
sammeln, nur die armen Enterbten der untern Volksschichten für das Glück der
höher" geistigen Genüsse empfänglich zu machen und ihnen in den Schätzen


Bildnngsschwindel und volksbegliickmig

dein schwarzen Spion und dem elenden Diener aufgeben; es will sich bei dem
ewigen Einerlei seines Daseins auch einmal, wenn auch uur in der Phantasie,
in den Höhen des irdischen Glanzes, des Reichtums und der Macht bewegen;
man lasse ihm diese Freude — wenn die Polizei nichts dagegen hat — und
raube ihm um Himmels willen nicht die geheime Scheu vor der Gräfin, d. h.
vor den höhern Ständen. Die Franzosen haben neuerdings ans ihren Gym¬
nasien die Lektüre des Michael Kohlhaas entfernt, weil sie den jungen Leuten zu
viel Schwierigkeiten in Inhalt nud Sprache bot; glaubt der Verein, daß unsre
Sackträger und Fabrikarbeiter genug Intelligenz besitzen, um solch ein Werk zu
verstehen? Und wenn sich wirklich lesen, so ist sicher darauf zu wetten, daß
sie eine Moral daraus ziehen werden, von der gerade keine besondre Förderung
unsrer sozialen Zustände zu erwarten wäre.

Im Übereifer fangen unsre optimistischen Volksfreunde alles falsch an;
man glaubt die ganze Gesellschaft reformiren zu können, indem man mit den
Umgestaltungen ganz unten beim Pöbel anfängt, statt oben zu beginnen. Wenn
die Glieder nicht mehr wollen, ist immer der Magen oder das Gehirn dran
schuld; hier hätte man vor allen Dingen mit der Kur anzufangen.

Ist denn wirklich das geistige Leben unsrer bessern Gesellschaft so gesund,
das litterarische Interesse und künstlerische Verständnis unter den sogenannten
Gebildeten so vortrefflich, daß wir daran denken können, auch die untern Volks¬
schichten mit einer gediegneren geistigen Nahrung zu beglücken? Wer sich einmal
die Mühe nimmt, in den Leihbibliotheken nachzufragen, welche Bücher am meisten
vom gebildeten Publikum gelesen werden, der wird betrübende Erfahrungen
machen; aber es giebt noch einen bessern Wertmesser für den geistigen Stand¬
punkt, für den litterarischen Geschmack und das kritische Urteil der bessern
Kreise, man findet ihn in unsern Familieublättern, Wochenschriften und Tages¬
zeitungen. Man steht in der That oft sprachlos da, wenn man sieht, welch
ein unerhörtes Zeug die Journale, von den wissenschaftlich zugestutztem Rund¬
schauen herunter bis zu den seichten Familienblättern, ihren Lesern vorzusetzen
wagen dürfen; man muß noch mehr erstaunen, wenn man von den Redakteuren
erfährt, daß fades Salongewäsch, überspannte Darstellungen und offenbarer
Blödsinn in den Romanen und Novellen Beifall und Begeisterung finden, und
das nicht etwa unter den Schueidermädchen, sondern, wie oft aus den Brief¬
kastennotizen zu ersehen ist, gerade unter den Lesern der bessern Gesellschaft.
Haben wir bei einem so traurigen Zustande unsers litterarischen Urteils, bei
einer so offenbaren Geschmacksverirrung, die unsre gelddürstigen Verleger in
strafwürdiger Gewissenlosigkeit weidlich auszubeuten suchen, das Recht, über die
Kolpvrtagclitteratur den Stab zu brechen, uns in Entrüstung, Selbstgerechtigkeit
und Menschenliebe aufzublähen und in allen Gauen Deutschlands Geld zu
sammeln, nur die armen Enterbten der untern Volksschichten für das Glück der
höher» geistigen Genüsse empfänglich zu machen und ihnen in den Schätzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/214>, abgerufen am 25.07.2024.