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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Alumneumsenmieningeii

Wochen, glaube ich, fand an einem Wochentage früh im Gefängnis ein regel¬
rechter Gottesdienst mit Predigt statt, zu dem eine kleine Anzahl Chorschüler
kommandirt wurden. In einem engen Betzimmer saßen, getrennt und hinter
hohen Ständen abgeschlossen, die gefangenen Männer und Frauen; für uns
stand eine kleine Bank neben der Kanzel, den Mädchen gegenüber. Es war
immer eine schaurige Stunde für uns. Bald malten wir uns aus, daß einer
von den Graukitteln, deren Kopfe dort über die Holzwand schauten, ausbrechen
könnte, bald beschäftigten uns die Gesichter, Thaten und Schicksale der zum
Teil sehr hübschen Sünderinnen, die uns gegenüber saßen und die jedesmal in
lautes Schluchzen ausbrachen, wenn der Prediger sich besonders um sie wandte
und ihnen ins Gewissen redete. Wir waren froh, wenn wir wieder in der
freien Luft waren -- auch schon unsrer Nasen wegen, denn das ganze Haus
roch nach armen Sündern.

Damit wäre wohl erschöpft, worin unsre gottesdienstlichen Aufgaben be¬
standen. Nun die außergvttesdienstlichen. Was wir "Kurrende" nannten, war
nur noch ein kümmerlicher Überrest der Einrichtung, die es ehemals gewesen
war, vielleicht nicht einmal das, vielleicht nur die Übertragung des alten
Namens ans etwas andres. Mit Kurrende bezeichnet man ja eigentlich die
Sitte, daß die Chorschüler um gewissen Festtagen Choräle und Lieder singend
dnrch die Straßen zogen. Das war zu meiner Zeit längst abgekommen.
Kurrende nannten wir folgendes. An einzelnen Sonntagen lief der ganze Chor,
Alumnen und Kurrendancr, unmittelbar nach Schluß des Vvrmittagsgvttcs-
dienstes vor einige in Altstadt am Markt und in der Nähe des Marktes gelegene
Hänser, eins auf der Schloßgasse, eins ans der Weißengasse u. s. w. -- es waren
drei oder vier --, stellte sich im Halbkreis um die Hausthür, der Präfekt an
die Thür, und sang eine Motette oder Arie. Wahrscheinlich lagen alte Stif¬
tungen zu Grunde; irgend jemand hatte in alter Zeit ans ein Haus ein
Darlehen, eine Hypothek gegeben, aber leine Zinsen genommen, sondern die
Zinsen um die Schule gewiesen und sich dafür das Singen ausbedungen. Uns
war die Einrichtung im höchsten Grade unangenehm. Ans mehreren Gründen.
Erstens raubte sie vielen die kurze Erholungspause zwischen dem Vormittags¬
und dem Mittagsgottesdienst und ließ ihnen kaum ein paar Minuten zum
Essen übrig. Der Hauptgrund aber war die garstige Prostitution vor dem
Sonntagspublikum. Ich muß hier mit ein paar Worten unsrer Kleidung ge¬
denke".

Als ich 1854 Chorschüler wurde, war unsre vorgeschriebene Kleidung für
alle chordienstlichen Handlungen Frack und Zylinder! Ich sehe mich noch als
zehnjährigen Jungen, wie ich zum erstenmale während der Mittagspredigt
vor der Sophienkirche auf dem Straßenpflaster stand und in der Mittagssonne
meinen eignen Schatten in Frack und Zylinder bewunderte. Zu beiden gehörte
eigentlich noch ein Drittes, nämlich ein Chormantel ans schwarzem Mohair,


Alumneumsenmieningeii

Wochen, glaube ich, fand an einem Wochentage früh im Gefängnis ein regel¬
rechter Gottesdienst mit Predigt statt, zu dem eine kleine Anzahl Chorschüler
kommandirt wurden. In einem engen Betzimmer saßen, getrennt und hinter
hohen Ständen abgeschlossen, die gefangenen Männer und Frauen; für uns
stand eine kleine Bank neben der Kanzel, den Mädchen gegenüber. Es war
immer eine schaurige Stunde für uns. Bald malten wir uns aus, daß einer
von den Graukitteln, deren Kopfe dort über die Holzwand schauten, ausbrechen
könnte, bald beschäftigten uns die Gesichter, Thaten und Schicksale der zum
Teil sehr hübschen Sünderinnen, die uns gegenüber saßen und die jedesmal in
lautes Schluchzen ausbrachen, wenn der Prediger sich besonders um sie wandte
und ihnen ins Gewissen redete. Wir waren froh, wenn wir wieder in der
freien Luft waren — auch schon unsrer Nasen wegen, denn das ganze Haus
roch nach armen Sündern.

Damit wäre wohl erschöpft, worin unsre gottesdienstlichen Aufgaben be¬
standen. Nun die außergvttesdienstlichen. Was wir „Kurrende" nannten, war
nur noch ein kümmerlicher Überrest der Einrichtung, die es ehemals gewesen
war, vielleicht nicht einmal das, vielleicht nur die Übertragung des alten
Namens ans etwas andres. Mit Kurrende bezeichnet man ja eigentlich die
Sitte, daß die Chorschüler um gewissen Festtagen Choräle und Lieder singend
dnrch die Straßen zogen. Das war zu meiner Zeit längst abgekommen.
Kurrende nannten wir folgendes. An einzelnen Sonntagen lief der ganze Chor,
Alumnen und Kurrendancr, unmittelbar nach Schluß des Vvrmittagsgvttcs-
dienstes vor einige in Altstadt am Markt und in der Nähe des Marktes gelegene
Hänser, eins auf der Schloßgasse, eins ans der Weißengasse u. s. w. — es waren
drei oder vier —, stellte sich im Halbkreis um die Hausthür, der Präfekt an
die Thür, und sang eine Motette oder Arie. Wahrscheinlich lagen alte Stif¬
tungen zu Grunde; irgend jemand hatte in alter Zeit ans ein Haus ein
Darlehen, eine Hypothek gegeben, aber leine Zinsen genommen, sondern die
Zinsen um die Schule gewiesen und sich dafür das Singen ausbedungen. Uns
war die Einrichtung im höchsten Grade unangenehm. Ans mehreren Gründen.
Erstens raubte sie vielen die kurze Erholungspause zwischen dem Vormittags¬
und dem Mittagsgottesdienst und ließ ihnen kaum ein paar Minuten zum
Essen übrig. Der Hauptgrund aber war die garstige Prostitution vor dem
Sonntagspublikum. Ich muß hier mit ein paar Worten unsrer Kleidung ge¬
denke».

Als ich 1854 Chorschüler wurde, war unsre vorgeschriebene Kleidung für
alle chordienstlichen Handlungen Frack und Zylinder! Ich sehe mich noch als
zehnjährigen Jungen, wie ich zum erstenmale während der Mittagspredigt
vor der Sophienkirche auf dem Straßenpflaster stand und in der Mittagssonne
meinen eignen Schatten in Frack und Zylinder bewunderte. Zu beiden gehörte
eigentlich noch ein Drittes, nämlich ein Chormantel ans schwarzem Mohair,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/139>, abgerufen am 29.06.2024.