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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Bürschchen, gewöhnlich den zweiten Natsdiskantisten, aufsuchte. An vielen
Tagen wurde er gleich um der Snalthür abgefertigt mit dem Bescheid: "Es
ist nichts heute." An andern wurde er aber auch hereingerufen, erhielt dann
mündlich die Weisungen des Kantors, zugleich den etwa mitzunehmenden
Notenpack und, wenn das Glück günstig war, auch ein Glas Weißwein, ja
sogar eine halbe Vuttersemmel mit geschabtem rohem Rindfleisch, denn der
Kantor pflegte um diese Stunde auf seinem roten Plüschsofa zu sitzen und zu
frühstücken.

Nach Schluß des Vvrmittagsnnterrichts versammelte sich der ganze Chor,
Alumnen und Kurrendauer, oben auf dem Alumueum. Da zog der Präfekt
die.Klingel und rief dabei entweder: "Nichts zu singen"! oder: "Alle Singe-
stnnde"! worauf entweder alle vergnügt aus einander stoben oder, weniger
vergnügt, sich hinunter in den Singesaal verfügten. An einem der letzten
Wochentage, meist am Donnerstag oder Freitag, kam dann der Kantor selbst
zur Singestunde, hörte sich an, was der Präfekt eingeübt hatte, Probirte wohl
auch an diesem Tage erst, Wenns nicht schon früher geschehen war, die Kirchen¬
musik für den Sonntag.

Im allgemeinen wurde nicht viel geübt. Von einer Übung, um zu üben,
war nie die Rede. Von den kleinen Neulingen, die zu Ostern oder zu Michaeli
in den Chor eintraten, galt im eigentlichen Sinne das Wort: "Wie die Alten
sungen, so zwitschern anch die Jungen." Der Kantor sah bei der Aufnahme
nur auf hübsche Stimme, "Gehör" und ein klein wenig musikalische Vorbil¬
dung. Irgend welchen Unterricht gab es nicht für sie, sie wurden mitten
drunter gestellt unter die Übrigen, und in wenigen Monaten sangen sie alles
tapfer mit. Der Umkreis dessen, was gesungen wurde, war freilich uicht groß.
Er bestand in der Hauptsache aus einem Bande Motetten -- vielleicht vierzig --
und einem Bändchen Arien -- vielleicht fünfzig --, von denen manche noch
dazu nie drankamen; wie bald war man da herum und konnte wieder von vorn
anfangen! Die Singestnnden waren deshalb auch nicht sehr beliebt, besonders
wenn, wie es freilich bisweilen vorkam, recht unmusikalische Präfekten an der
Spitze standen. Das Präfektenamt war nämlich ein reines Aneiennitätsamt.
Präfekten waren stets die beiden obersten Primaner des Singechors; ob sie
besondre Befähigung dazu hatten, darnach wurde nicht gefragt, sie waren an
der Reihe gewesen, mußten also verbraucht werden. Was konnte ein solcher
Präfekt dem Chöre viel lehren? Er trat eben hin und fuchtelte mehr oder
weniger anmutig mit dem Taktstock in der Luft herum, und wir sangen. Wenn
v- dastand, sangen wir leise, wenn k. dastand, sangen wir laut, und auf ein
leidliches oresoLiuto und äLeröseoriäo verstanden wir uns auch. Mit Ton-
bildung, Aussprache, Atemverteilnng, gar mit "Phrasirung," wovon jetzt so
dick geschwafelt wird, belästigte uns niemand. Von den wohlfeilen Mätzchen,
mit denen sich heute jeder lumpige Gesangverein spreizt: dem unnatürlichen


Grenzboten III 1890 17

Bürschchen, gewöhnlich den zweiten Natsdiskantisten, aufsuchte. An vielen
Tagen wurde er gleich um der Snalthür abgefertigt mit dem Bescheid: „Es
ist nichts heute." An andern wurde er aber auch hereingerufen, erhielt dann
mündlich die Weisungen des Kantors, zugleich den etwa mitzunehmenden
Notenpack und, wenn das Glück günstig war, auch ein Glas Weißwein, ja
sogar eine halbe Vuttersemmel mit geschabtem rohem Rindfleisch, denn der
Kantor pflegte um diese Stunde auf seinem roten Plüschsofa zu sitzen und zu
frühstücken.

Nach Schluß des Vvrmittagsnnterrichts versammelte sich der ganze Chor,
Alumnen und Kurrendauer, oben auf dem Alumueum. Da zog der Präfekt
die.Klingel und rief dabei entweder: „Nichts zu singen"! oder: „Alle Singe-
stnnde"! worauf entweder alle vergnügt aus einander stoben oder, weniger
vergnügt, sich hinunter in den Singesaal verfügten. An einem der letzten
Wochentage, meist am Donnerstag oder Freitag, kam dann der Kantor selbst
zur Singestunde, hörte sich an, was der Präfekt eingeübt hatte, Probirte wohl
auch an diesem Tage erst, Wenns nicht schon früher geschehen war, die Kirchen¬
musik für den Sonntag.

Im allgemeinen wurde nicht viel geübt. Von einer Übung, um zu üben,
war nie die Rede. Von den kleinen Neulingen, die zu Ostern oder zu Michaeli
in den Chor eintraten, galt im eigentlichen Sinne das Wort: „Wie die Alten
sungen, so zwitschern anch die Jungen." Der Kantor sah bei der Aufnahme
nur auf hübsche Stimme, „Gehör" und ein klein wenig musikalische Vorbil¬
dung. Irgend welchen Unterricht gab es nicht für sie, sie wurden mitten
drunter gestellt unter die Übrigen, und in wenigen Monaten sangen sie alles
tapfer mit. Der Umkreis dessen, was gesungen wurde, war freilich uicht groß.
Er bestand in der Hauptsache aus einem Bande Motetten — vielleicht vierzig —
und einem Bändchen Arien — vielleicht fünfzig —, von denen manche noch
dazu nie drankamen; wie bald war man da herum und konnte wieder von vorn
anfangen! Die Singestnnden waren deshalb auch nicht sehr beliebt, besonders
wenn, wie es freilich bisweilen vorkam, recht unmusikalische Präfekten an der
Spitze standen. Das Präfektenamt war nämlich ein reines Aneiennitätsamt.
Präfekten waren stets die beiden obersten Primaner des Singechors; ob sie
besondre Befähigung dazu hatten, darnach wurde nicht gefragt, sie waren an
der Reihe gewesen, mußten also verbraucht werden. Was konnte ein solcher
Präfekt dem Chöre viel lehren? Er trat eben hin und fuchtelte mehr oder
weniger anmutig mit dem Taktstock in der Luft herum, und wir sangen. Wenn
v- dastand, sangen wir leise, wenn k. dastand, sangen wir laut, und auf ein
leidliches oresoLiuto und äLeröseoriäo verstanden wir uns auch. Mit Ton-
bildung, Aussprache, Atemverteilnng, gar mit „Phrasirung," wovon jetzt so
dick geschwafelt wird, belästigte uns niemand. Von den wohlfeilen Mätzchen,
mit denen sich heute jeder lumpige Gesangverein spreizt: dem unnatürlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/137>, abgerufen am 29.06.2024.