Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.doch wieder einer nach dem andern ab, der Vorsänger voran, die andern An manchen Sonntagen -- und vor allem natürlich an den hohen Fest¬ Nur diese Kirchenmusiken und Vespern waren es denn auch, die im Laufe doch wieder einer nach dem andern ab, der Vorsänger voran, die andern An manchen Sonntagen — und vor allem natürlich an den hohen Fest¬ Nur diese Kirchenmusiken und Vespern waren es denn auch, die im Laufe <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208073"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_359" prev="#ID_358"> doch wieder einer nach dem andern ab, der Vorsänger voran, die andern<lb/> hinterher. Es war aber mich durch das Dableiben nicht jedes Unglück aus¬<lb/> geschlossen. Die Kapellknaben der Sophienkirche hatten für den Winter große<lb/> schwarze Filzschuhe, sogenannte Bärlatschen, in die sie gleich mit den Stiefeln<lb/> fuhren. Sie schlössen sie gewöhnlich ein, damit wir sie nicht mitbenutzen<lb/> könnten. Einmal waren aber doch ein paar stehen geblieben und wurden nun<lb/> für uns während der Predigt zu einem willkommenen Spielzeug: wir sackten<lb/> sie uns gegenseitig mit den Fußspitze» zu. Nun lag der Altarplatz in der<lb/> Sophienkirche dem Chor nicht gegenüber, sondern zur Rechten des Chores,<lb/> auf derselben Schmalseite der Kirche. Da wollte es das Unglück, daß ein<lb/> solcher Latsch über die Chorbrüstung flog, hinunter auf den Altar, unmittelbar<lb/> vor das Kruzifix! Wir waren starr vor Schrecken und völlig ratlos; das<lb/> Ding war ja auf keine Weise dort wieder wegzubringen. Nach der Predigt<lb/> kam der Geistliche zur Liturgie und sah die Bescherung. Die ganze Part<lb/> wurde in die Sakristei bestellt, wir erzählten offen und ehrlich, wie alles zu¬<lb/> gegangen war, im Innern mag wohl auch der Geistliche gelacht haben, wir<lb/> erhielten aber doch eine niederschmetternde Strafpredigt und zitterten noch lange<lb/> vor den Folgen, die glücklicherweise ausblieben.</p><lb/> <p xml:id="ID_360"> An manchen Sonntagen — und vor allem natürlich an den hohen Fest¬<lb/> tagen — war vormittags Kirchenmusik, wobei das Stadtmusikchor den Orchester¬<lb/> teil besorgte. Dazu mußte, solange die Kantate oder was es nun war, dauerte,<lb/> die Part, die den Frühgottesdienst gehabt hatte, sich zur Verstärkung einfinden.<lb/> Beide Chöre zusammen aber — also alle vierundfünfzig — waren uur in der<lb/> Souuabeudsvesper in Thätigkeit, wo in der Regel eine Motette und dann,<lb/> nach einer kurzeu Liturgie, eine Arie, beides » eg.Mölbi., d. h. ohne Musik-<lb/> begleitung, gesungen wurde. Die.Kirchenmusiken leitete der Kantor selbst, die<lb/> Vesper Woche um Woche abwechselnd der erste und der zweite Präfekt.</p><lb/> <p xml:id="ID_361" next="#ID_362"> Nur diese Kirchenmusiken und Vespern waren es denn auch, die im Laufe<lb/> der Woche einige Vorbereitung in Gestalt von „Singestuudeu" zu erfordern<lb/> schienen; die Chorüle des gewöhnlichen Gottesdienstes bedurften keiner Übung.<lb/> An einem der ersten Wochentage, oft auch erst an einem der letzten, war nach<lb/> dem Vormittagsunterricht „Siugestunde." An welchem Tage, das hatte, so¬<lb/> weit es sich um die Vorbereitung zur Vesper handelte, der Präfekt zu be¬<lb/> stimmen, der die Woche hatte; er bestimmte auch die Motette und die Arie,<lb/> die um Sonnabend gesungen werden sollten. War eine Kirchenmusik in Sicht,<lb/> so setzte der Kantor eine Siugcstuude an, der übrigens jeden Vormittag in<lb/> der „großen Freiviertelstuude" durch deu „Kantorfamulus" in seiner Wohnung<lb/> — er wohnte gleich neben der Schule in dein schmalen Schulgäßcheu — be¬<lb/> grüßt und um seine etwaigen Wünsche und Anordnungen befragt werden<lb/> mußte. Die Stellung des Kantorfamulus war eine beneidete Ehren- und<lb/> Vertrauensstellung, zu der sich der Kantor stets ein flinkes und freundliches</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0136]
doch wieder einer nach dem andern ab, der Vorsänger voran, die andern
hinterher. Es war aber mich durch das Dableiben nicht jedes Unglück aus¬
geschlossen. Die Kapellknaben der Sophienkirche hatten für den Winter große
schwarze Filzschuhe, sogenannte Bärlatschen, in die sie gleich mit den Stiefeln
fuhren. Sie schlössen sie gewöhnlich ein, damit wir sie nicht mitbenutzen
könnten. Einmal waren aber doch ein paar stehen geblieben und wurden nun
für uns während der Predigt zu einem willkommenen Spielzeug: wir sackten
sie uns gegenseitig mit den Fußspitze» zu. Nun lag der Altarplatz in der
Sophienkirche dem Chor nicht gegenüber, sondern zur Rechten des Chores,
auf derselben Schmalseite der Kirche. Da wollte es das Unglück, daß ein
solcher Latsch über die Chorbrüstung flog, hinunter auf den Altar, unmittelbar
vor das Kruzifix! Wir waren starr vor Schrecken und völlig ratlos; das
Ding war ja auf keine Weise dort wieder wegzubringen. Nach der Predigt
kam der Geistliche zur Liturgie und sah die Bescherung. Die ganze Part
wurde in die Sakristei bestellt, wir erzählten offen und ehrlich, wie alles zu¬
gegangen war, im Innern mag wohl auch der Geistliche gelacht haben, wir
erhielten aber doch eine niederschmetternde Strafpredigt und zitterten noch lange
vor den Folgen, die glücklicherweise ausblieben.
An manchen Sonntagen — und vor allem natürlich an den hohen Fest¬
tagen — war vormittags Kirchenmusik, wobei das Stadtmusikchor den Orchester¬
teil besorgte. Dazu mußte, solange die Kantate oder was es nun war, dauerte,
die Part, die den Frühgottesdienst gehabt hatte, sich zur Verstärkung einfinden.
Beide Chöre zusammen aber — also alle vierundfünfzig — waren uur in der
Souuabeudsvesper in Thätigkeit, wo in der Regel eine Motette und dann,
nach einer kurzeu Liturgie, eine Arie, beides » eg.Mölbi., d. h. ohne Musik-
begleitung, gesungen wurde. Die.Kirchenmusiken leitete der Kantor selbst, die
Vesper Woche um Woche abwechselnd der erste und der zweite Präfekt.
Nur diese Kirchenmusiken und Vespern waren es denn auch, die im Laufe
der Woche einige Vorbereitung in Gestalt von „Singestuudeu" zu erfordern
schienen; die Chorüle des gewöhnlichen Gottesdienstes bedurften keiner Übung.
An einem der ersten Wochentage, oft auch erst an einem der letzten, war nach
dem Vormittagsunterricht „Siugestunde." An welchem Tage, das hatte, so¬
weit es sich um die Vorbereitung zur Vesper handelte, der Präfekt zu be¬
stimmen, der die Woche hatte; er bestimmte auch die Motette und die Arie,
die um Sonnabend gesungen werden sollten. War eine Kirchenmusik in Sicht,
so setzte der Kantor eine Siugcstuude an, der übrigens jeden Vormittag in
der „großen Freiviertelstuude" durch deu „Kantorfamulus" in seiner Wohnung
— er wohnte gleich neben der Schule in dein schmalen Schulgäßcheu — be¬
grüßt und um seine etwaigen Wünsche und Anordnungen befragt werden
mußte. Die Stellung des Kantorfamulus war eine beneidete Ehren- und
Vertrauensstellung, zu der sich der Kantor stets ein flinkes und freundliches
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