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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Almnneiimserinnerungen

einer Stimmgabel. Doch galt das im allgemeinen nicht für ehrenvoll,
der Vorsänger sollte so viel Musik im Leibe haben, das; er ohne weiteres jeden
Ton angeben konnte. Man riskirte das anch, nur stellte sich dann manchmal
nach zwei Zeilen heraus, daß man viel zu hoch oder viel zu tief angefangen hatte:
der Diskant konnte nicht hinauf oder der Baß uicht hinunter. In der Kreuz-
kirche befand sich am Notenpult in der Mitte des Chors ein drehbarer eiserner
Leuchter. Daran war irgendwo ein Eiseuplüttchen los, das, wenn man es
mit dem Finger anschnippte, in Schwingungen geriet und das schönste a
summte. Dieses Plättchen war der heimliche Tröster aller Vorsänger und hat
manches Unheil verhütet.

Daß wir bei all dem vielen Kirchengehen nicht mit Erbauuugsstoff über¬
füttert wurden, dafür sorgten wir selbst. Von hundert Predigten haben wir
keine zehn mit angehört. Wenn der Prediger auf die Kanzel gestiegen war,
mußten wir zwar zunächst noch ein paar Minuten aushalten; denn wenn
er seine Einleitung gemacht und das "Thema" und die üblichen "drei Teile"
genannt hatte, wurde ja erst noch der "Kanzelvers" gesungen. Sowie aber
von dein der letzte Ton verklungen war, überließen wir die weitere Ausführung
der drei Teile dem Prediger und der Gemeinde, und die ganze Part ver¬
schwand aus der Kirche -- geduckt und auf den Zehen, um jedes Geräusch zu
vermeiden, was leider doch nicht immer gelang, denn es gab in den alten
vertrockneten Chorpodien Stellen, die niederträchtig knackten, wenn man auch
noch so leise auftrat. Wie lange die Predigt dauern würde, wußten wir sehr
genau; jeder Prediger hatte sein bestimmtes Maß. Des einen Worte loderten wie
Feuerflammen, aber in längstens fünfzehn Minuten war alles niedergebrannt;
ein andrer -- wir nannten ihn den "Damenprediger" -- brauchte zwanzig
Minuten, bis er sich auf deu Wellen seines schönen, hohen Barytons satt ge¬
schaukelt hatte; ein dritter ließ seine Mühle eine volle halbe Stunde klappern.
Weit entfernten nur uns ja nicht. Im Sommer schlenderten wir ein paar
mal um die Kirche oder lehnten an der Kirchthür, im Winter wärmten wir
uns irgendwo, während der Frühpredigt natürlich drüben auf dem Alumueum
beim Kaffee -- denn an Kirchenheizung dachte damals noch niemand, empfanden
wir es doch schon als eine ganz gotteslästerliche Neuerung, als in der Kreuz¬
kirche Gasbeleuchtung eingeführt wurde und die Kirchenbesucher uicht mehr
nötig hatten, im Frühgottesdienst im Winter ihr Lichtchen neben dem Ge¬
sangbuch aufzupflanzen. Im Notfall war auch der Organist da, der stets in
der Kirche blieb und ein paar Vvrspielgriffe mehr that, bis wir alle wieder
beisammen waren. Manchmal gab es freilich auch hier ein Unglück. Einem
Prediger war der Faden etwas eher ausgegangen, als wir gedacht hatten, und
der Organist mußte auffällig lange spielen, um die Lücke auszufüllen. Da
wurde dann wieder einmal eingeschärft, daß wir während der Predigt unbe¬
dingt auf dem Chöre zu bleibe" hätten. Aber nach ein paar Wochen bröckelte


Almnneiimserinnerungen

einer Stimmgabel. Doch galt das im allgemeinen nicht für ehrenvoll,
der Vorsänger sollte so viel Musik im Leibe haben, das; er ohne weiteres jeden
Ton angeben konnte. Man riskirte das anch, nur stellte sich dann manchmal
nach zwei Zeilen heraus, daß man viel zu hoch oder viel zu tief angefangen hatte:
der Diskant konnte nicht hinauf oder der Baß uicht hinunter. In der Kreuz-
kirche befand sich am Notenpult in der Mitte des Chors ein drehbarer eiserner
Leuchter. Daran war irgendwo ein Eiseuplüttchen los, das, wenn man es
mit dem Finger anschnippte, in Schwingungen geriet und das schönste a
summte. Dieses Plättchen war der heimliche Tröster aller Vorsänger und hat
manches Unheil verhütet.

Daß wir bei all dem vielen Kirchengehen nicht mit Erbauuugsstoff über¬
füttert wurden, dafür sorgten wir selbst. Von hundert Predigten haben wir
keine zehn mit angehört. Wenn der Prediger auf die Kanzel gestiegen war,
mußten wir zwar zunächst noch ein paar Minuten aushalten; denn wenn
er seine Einleitung gemacht und das „Thema" und die üblichen „drei Teile"
genannt hatte, wurde ja erst noch der „Kanzelvers" gesungen. Sowie aber
von dein der letzte Ton verklungen war, überließen wir die weitere Ausführung
der drei Teile dem Prediger und der Gemeinde, und die ganze Part ver¬
schwand aus der Kirche — geduckt und auf den Zehen, um jedes Geräusch zu
vermeiden, was leider doch nicht immer gelang, denn es gab in den alten
vertrockneten Chorpodien Stellen, die niederträchtig knackten, wenn man auch
noch so leise auftrat. Wie lange die Predigt dauern würde, wußten wir sehr
genau; jeder Prediger hatte sein bestimmtes Maß. Des einen Worte loderten wie
Feuerflammen, aber in längstens fünfzehn Minuten war alles niedergebrannt;
ein andrer — wir nannten ihn den „Damenprediger" — brauchte zwanzig
Minuten, bis er sich auf deu Wellen seines schönen, hohen Barytons satt ge¬
schaukelt hatte; ein dritter ließ seine Mühle eine volle halbe Stunde klappern.
Weit entfernten nur uns ja nicht. Im Sommer schlenderten wir ein paar
mal um die Kirche oder lehnten an der Kirchthür, im Winter wärmten wir
uns irgendwo, während der Frühpredigt natürlich drüben auf dem Alumueum
beim Kaffee — denn an Kirchenheizung dachte damals noch niemand, empfanden
wir es doch schon als eine ganz gotteslästerliche Neuerung, als in der Kreuz¬
kirche Gasbeleuchtung eingeführt wurde und die Kirchenbesucher uicht mehr
nötig hatten, im Frühgottesdienst im Winter ihr Lichtchen neben dem Ge¬
sangbuch aufzupflanzen. Im Notfall war auch der Organist da, der stets in
der Kirche blieb und ein paar Vvrspielgriffe mehr that, bis wir alle wieder
beisammen waren. Manchmal gab es freilich auch hier ein Unglück. Einem
Prediger war der Faden etwas eher ausgegangen, als wir gedacht hatten, und
der Organist mußte auffällig lange spielen, um die Lücke auszufüllen. Da
wurde dann wieder einmal eingeschärft, daß wir während der Predigt unbe¬
dingt auf dem Chöre zu bleibe» hätten. Aber nach ein paar Wochen bröckelte


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[0135] Almnneiimserinnerungen einer Stimmgabel. Doch galt das im allgemeinen nicht für ehrenvoll, der Vorsänger sollte so viel Musik im Leibe haben, das; er ohne weiteres jeden Ton angeben konnte. Man riskirte das anch, nur stellte sich dann manchmal nach zwei Zeilen heraus, daß man viel zu hoch oder viel zu tief angefangen hatte: der Diskant konnte nicht hinauf oder der Baß uicht hinunter. In der Kreuz- kirche befand sich am Notenpult in der Mitte des Chors ein drehbarer eiserner Leuchter. Daran war irgendwo ein Eiseuplüttchen los, das, wenn man es mit dem Finger anschnippte, in Schwingungen geriet und das schönste a summte. Dieses Plättchen war der heimliche Tröster aller Vorsänger und hat manches Unheil verhütet. Daß wir bei all dem vielen Kirchengehen nicht mit Erbauuugsstoff über¬ füttert wurden, dafür sorgten wir selbst. Von hundert Predigten haben wir keine zehn mit angehört. Wenn der Prediger auf die Kanzel gestiegen war, mußten wir zwar zunächst noch ein paar Minuten aushalten; denn wenn er seine Einleitung gemacht und das „Thema" und die üblichen „drei Teile" genannt hatte, wurde ja erst noch der „Kanzelvers" gesungen. Sowie aber von dein der letzte Ton verklungen war, überließen wir die weitere Ausführung der drei Teile dem Prediger und der Gemeinde, und die ganze Part ver¬ schwand aus der Kirche — geduckt und auf den Zehen, um jedes Geräusch zu vermeiden, was leider doch nicht immer gelang, denn es gab in den alten vertrockneten Chorpodien Stellen, die niederträchtig knackten, wenn man auch noch so leise auftrat. Wie lange die Predigt dauern würde, wußten wir sehr genau; jeder Prediger hatte sein bestimmtes Maß. Des einen Worte loderten wie Feuerflammen, aber in längstens fünfzehn Minuten war alles niedergebrannt; ein andrer — wir nannten ihn den „Damenprediger" — brauchte zwanzig Minuten, bis er sich auf deu Wellen seines schönen, hohen Barytons satt ge¬ schaukelt hatte; ein dritter ließ seine Mühle eine volle halbe Stunde klappern. Weit entfernten nur uns ja nicht. Im Sommer schlenderten wir ein paar mal um die Kirche oder lehnten an der Kirchthür, im Winter wärmten wir uns irgendwo, während der Frühpredigt natürlich drüben auf dem Alumueum beim Kaffee — denn an Kirchenheizung dachte damals noch niemand, empfanden wir es doch schon als eine ganz gotteslästerliche Neuerung, als in der Kreuz¬ kirche Gasbeleuchtung eingeführt wurde und die Kirchenbesucher uicht mehr nötig hatten, im Frühgottesdienst im Winter ihr Lichtchen neben dem Ge¬ sangbuch aufzupflanzen. Im Notfall war auch der Organist da, der stets in der Kirche blieb und ein paar Vvrspielgriffe mehr that, bis wir alle wieder beisammen waren. Manchmal gab es freilich auch hier ein Unglück. Einem Prediger war der Faden etwas eher ausgegangen, als wir gedacht hatten, und der Organist mußte auffällig lange spielen, um die Lücke auszufüllen. Da wurde dann wieder einmal eingeschärft, daß wir während der Predigt unbe¬ dingt auf dem Chöre zu bleibe» hätten. Aber nach ein paar Wochen bröckelte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/135>, abgerufen am 29.06.2024.