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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Alnmneumserinnerungen

er ist dann -- wie nur erzählt wurde -- hinüber in die Schule gekommen,
dort schreckensbleich im Schlafsaal erschienen und -- er war ein ängstliches
und dabei sehr höfliches Männchen -- zitternd in die Worte nusgebrochen:
"Meine Herren, Sie mvchtens wohl verschlafen haben, der Ansstecker singt
ganz alleine drüben!" Da kamen sie denn endlich.

Dreimal im Jahre aber sprangen wir alle vergnügt aus den Betten:
zum Turmsingen am ersten Feiertage der drei hohen Feste. Das war doch
immer aufs neue wieder ein Gaudium.! Zu Ostern und zu Pfingsten um
vier Uhr, zu Weihnachten um fünf Uhr zog die ganze Schar die enge steinerne
Wendeltreppe des Kreuzturms hinan. Alle Glocken läuteten, auch die große,
die nur an Festtagen bei vollem Geläute drankam. Die dicken Turmmauern
schienen zu zittern. Immer näher kam das Summen und Brummen. Jetzt
-- man hörte sein eignes Wort nicht mehr -- gings an der offnen Thür des
Glockenbodens vorbei, da schwangen, an mächtigen Seilen gezogen, die Glocken
auf und nieder, und dann noch höher hinauf, während der Schall wieder
dumpfer wurde, bis zur Türmerwohnung. Hier ein kurzes Verschnaufen --
dann gings hinaus auf den von eisernem Geländer geschützten Umgang, wo
schon die Bläser des Stadtmusikchors unser harrten. Welches Vergnügen,
von dort oben an einem schönen Pfingstmorgen die Stadt zu überschauen, deu
Altmarkt zumal, der von Menschen wimmelte, denn auch sür die Bürgerschaft
war ja das Turmsingen immer eine Freude; viele, die sich zu einem Pfingst-
ausflug aufgemacht hatten, wollten auf dem Markt erst noch den Pfingstchoral
mitnehmen, der aus der Höhe herniederklang. Zu Weihnachten freilich, da sah
es anders aus. Da zogen wir hinauf wie eine Schar vermummter Schreck¬
gestalten, im Schlafrock, darüber den Winterflaus, dicke Shawls um Hals und
Ohren gewickelt, und oben war manchmal eine Kälte, daß den Bläsern die
Instrumente einfroren und sie aller drei, vier Töne überschnappten. Aber ein
Gaudium wars doch!

Den Svnntagsvormittagsgottesdienst hatten die beiden ciudern Amts¬
parten zu besorgen; die Knrrendaner wurden zur Hälfte in die Kreuzkirche, zur
Hälfte in die Frauenkirche geschickt. Für die vier Mittags- und Nachmittags-
gottesdieuste waren die vier Wochenparten bestimmt, die aber auch einander
so nachrückten, daß innerhalb von vier Wochen jede Part einmal an jeden
Gottesdienst kam. An manchen Sonntagen war man also um ein Uhr, an
manchen erst um vier Uhr fertig. Ähnlich waren die Betstunden und der
sonstige Wochengottesdienst verteilt, auch da kam jeder einmal an jedes. Einzelne
Vertauschuugen und Stellvertretungen waren mit Genehmigung der Vorsänger
gestattet.

Bei den Betstunden wurden die Lieder ohne Orgelbegleitung gesungen.
Der Vorsänger stimmte einfach den Choral an, und fofort wurde vierstimmig
eingesetzt. Manche Vorsänger bedienten sich, um richtig anfangen zu können,


Alnmneumserinnerungen

er ist dann — wie nur erzählt wurde — hinüber in die Schule gekommen,
dort schreckensbleich im Schlafsaal erschienen und — er war ein ängstliches
und dabei sehr höfliches Männchen — zitternd in die Worte nusgebrochen:
„Meine Herren, Sie mvchtens wohl verschlafen haben, der Ansstecker singt
ganz alleine drüben!" Da kamen sie denn endlich.

Dreimal im Jahre aber sprangen wir alle vergnügt aus den Betten:
zum Turmsingen am ersten Feiertage der drei hohen Feste. Das war doch
immer aufs neue wieder ein Gaudium.! Zu Ostern und zu Pfingsten um
vier Uhr, zu Weihnachten um fünf Uhr zog die ganze Schar die enge steinerne
Wendeltreppe des Kreuzturms hinan. Alle Glocken läuteten, auch die große,
die nur an Festtagen bei vollem Geläute drankam. Die dicken Turmmauern
schienen zu zittern. Immer näher kam das Summen und Brummen. Jetzt
— man hörte sein eignes Wort nicht mehr — gings an der offnen Thür des
Glockenbodens vorbei, da schwangen, an mächtigen Seilen gezogen, die Glocken
auf und nieder, und dann noch höher hinauf, während der Schall wieder
dumpfer wurde, bis zur Türmerwohnung. Hier ein kurzes Verschnaufen —
dann gings hinaus auf den von eisernem Geländer geschützten Umgang, wo
schon die Bläser des Stadtmusikchors unser harrten. Welches Vergnügen,
von dort oben an einem schönen Pfingstmorgen die Stadt zu überschauen, deu
Altmarkt zumal, der von Menschen wimmelte, denn auch sür die Bürgerschaft
war ja das Turmsingen immer eine Freude; viele, die sich zu einem Pfingst-
ausflug aufgemacht hatten, wollten auf dem Markt erst noch den Pfingstchoral
mitnehmen, der aus der Höhe herniederklang. Zu Weihnachten freilich, da sah
es anders aus. Da zogen wir hinauf wie eine Schar vermummter Schreck¬
gestalten, im Schlafrock, darüber den Winterflaus, dicke Shawls um Hals und
Ohren gewickelt, und oben war manchmal eine Kälte, daß den Bläsern die
Instrumente einfroren und sie aller drei, vier Töne überschnappten. Aber ein
Gaudium wars doch!

Den Svnntagsvormittagsgottesdienst hatten die beiden ciudern Amts¬
parten zu besorgen; die Knrrendaner wurden zur Hälfte in die Kreuzkirche, zur
Hälfte in die Frauenkirche geschickt. Für die vier Mittags- und Nachmittags-
gottesdieuste waren die vier Wochenparten bestimmt, die aber auch einander
so nachrückten, daß innerhalb von vier Wochen jede Part einmal an jeden
Gottesdienst kam. An manchen Sonntagen war man also um ein Uhr, an
manchen erst um vier Uhr fertig. Ähnlich waren die Betstunden und der
sonstige Wochengottesdienst verteilt, auch da kam jeder einmal an jedes. Einzelne
Vertauschuugen und Stellvertretungen waren mit Genehmigung der Vorsänger
gestattet.

Bei den Betstunden wurden die Lieder ohne Orgelbegleitung gesungen.
Der Vorsänger stimmte einfach den Choral an, und fofort wurde vierstimmig
eingesetzt. Manche Vorsänger bedienten sich, um richtig anfangen zu können,


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[0134] Alnmneumserinnerungen er ist dann — wie nur erzählt wurde — hinüber in die Schule gekommen, dort schreckensbleich im Schlafsaal erschienen und — er war ein ängstliches und dabei sehr höfliches Männchen — zitternd in die Worte nusgebrochen: „Meine Herren, Sie mvchtens wohl verschlafen haben, der Ansstecker singt ganz alleine drüben!" Da kamen sie denn endlich. Dreimal im Jahre aber sprangen wir alle vergnügt aus den Betten: zum Turmsingen am ersten Feiertage der drei hohen Feste. Das war doch immer aufs neue wieder ein Gaudium.! Zu Ostern und zu Pfingsten um vier Uhr, zu Weihnachten um fünf Uhr zog die ganze Schar die enge steinerne Wendeltreppe des Kreuzturms hinan. Alle Glocken läuteten, auch die große, die nur an Festtagen bei vollem Geläute drankam. Die dicken Turmmauern schienen zu zittern. Immer näher kam das Summen und Brummen. Jetzt — man hörte sein eignes Wort nicht mehr — gings an der offnen Thür des Glockenbodens vorbei, da schwangen, an mächtigen Seilen gezogen, die Glocken auf und nieder, und dann noch höher hinauf, während der Schall wieder dumpfer wurde, bis zur Türmerwohnung. Hier ein kurzes Verschnaufen — dann gings hinaus auf den von eisernem Geländer geschützten Umgang, wo schon die Bläser des Stadtmusikchors unser harrten. Welches Vergnügen, von dort oben an einem schönen Pfingstmorgen die Stadt zu überschauen, deu Altmarkt zumal, der von Menschen wimmelte, denn auch sür die Bürgerschaft war ja das Turmsingen immer eine Freude; viele, die sich zu einem Pfingst- ausflug aufgemacht hatten, wollten auf dem Markt erst noch den Pfingstchoral mitnehmen, der aus der Höhe herniederklang. Zu Weihnachten freilich, da sah es anders aus. Da zogen wir hinauf wie eine Schar vermummter Schreck¬ gestalten, im Schlafrock, darüber den Winterflaus, dicke Shawls um Hals und Ohren gewickelt, und oben war manchmal eine Kälte, daß den Bläsern die Instrumente einfroren und sie aller drei, vier Töne überschnappten. Aber ein Gaudium wars doch! Den Svnntagsvormittagsgottesdienst hatten die beiden ciudern Amts¬ parten zu besorgen; die Knrrendaner wurden zur Hälfte in die Kreuzkirche, zur Hälfte in die Frauenkirche geschickt. Für die vier Mittags- und Nachmittags- gottesdieuste waren die vier Wochenparten bestimmt, die aber auch einander so nachrückten, daß innerhalb von vier Wochen jede Part einmal an jeden Gottesdienst kam. An manchen Sonntagen war man also um ein Uhr, an manchen erst um vier Uhr fertig. Ähnlich waren die Betstunden und der sonstige Wochengottesdienst verteilt, auch da kam jeder einmal an jedes. Einzelne Vertauschuugen und Stellvertretungen waren mit Genehmigung der Vorsänger gestattet. Bei den Betstunden wurden die Lieder ohne Orgelbegleitung gesungen. Der Vorsänger stimmte einfach den Choral an, und fofort wurde vierstimmig eingesetzt. Manche Vorsänger bedienten sich, um richtig anfangen zu können,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/134>, abgerufen am 20.09.2024.