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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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legen zu können, daß man auf dieser schrägen Brüstung stehend mit der einen
Hand die Ziffertäfelchen zu wechseln, mit der andern die Tafel zu halten und
sich gleichzeitig daran anzuhalten hatte, und man wird verstehen, warum ich
die Einrichtung abscheulich genannt habe. Daß in deu acht Jahren meiner
Alumnenzeit bei diesem Ausstecken kein Unglück vorgekommen ist, daß so ein
kleiner Ausstecker nicht einmal von der Brüstung hinunter ins Schiff und
in die Kircheubänke gestürzt ist, daß ich selber nicht hinuntergestürzt bin
-- denn ich habe das Ausstecken hundertmal besorgen müssen --, ist mir heute
ein reines Rätsel. Jetzt überlänfts mich schon, wenn ich mirs nnr wieder
vorstelle.

In den Amtsparten hatte aber der Ansstecker auch noch das Amt des
"Weckers." Er mußte sich am Sonnabend Abend beim Bambel melden und
war nun der erste, der am Sonntag früh etwa eine halbe Stunde vor Beginn
des Gottesdienstes aus den Federn geholt wurde, um dann die übrigen
zu wecken, die zur Part gehörten. Du lieber Gott, war das eine Not!
Man sollte sich selber in wenigen Minuten zum Chordienst ankleiden, in¬
zwischen noch drei- bis viermal von Bett zu Bett laufen, um die Part aus
dem Schlafe zu rütteln, und dann noch rechtzeitig in der Kirche sein, um das
Ausstecken zu besorgen! Zum Glück gab es in jeder Part einen "Nachwecker";
das war der Vorletzte. Ehe man in die Kirche hinüberlief, überzeugte man
sich, daß wenigstens der Nachwecker wirklich aus dem Bett war, und überließ
es dann dem, die übrigen vollends herauszubringen. WnS dem Nachwecker
nicht gelang, mußten schließlich die Glocken besorgen. Sowie die Glocken zu
läuten anfingen, sprangen die Letzten ans den Betten, fuhren wie der Teufel
in die Hosen und standen, wenn das Orgelvorspiel vorbei war, richtig noch zum
ersten Liedervcrs auf ihrem Platze. Der Organist dehnte schon sein Vorspiel
ein bischen aus, bis alle dawaren, und die Kirchgänger konnten sich das auch
gefallen lassen, denn der Alte war, bei all seiner äußerlichen Unscheinbar¬
keit, ein Musikus recht von Gottes Gnaden und phantasirte herrlich. Einmal
geschah aber doch das Unerhörte: der Nachwecker verschlief es, und ich war
der Unglückselige, den die Verantwortung traf! Ich hatte ihn, bis ich zum
Ausstecken lief, nicht aus dem Bette bringen können, hatte ihm aber zuletzt
noch el>? paar Kutsche auf seine feisten Schenkel versetzt, in der Hoffnung, daß
die eine Weile nachwirken würden. Aber die Glocken hatten ausgeläutet, der
Organist hatte sein Vorspiel schon so lang gemacht, daß es anfing, auffällig
zu werden, und noch immer ließ sich niemand weiter ans dem Chöre sehen.
Wir entschlossen uns endlich -- wir, der Organist und ich! --, das Lied
anzufangen. Ich saug, so laut ich konnte, um die ganze Part zu ersetzen.
Vielleicht merkts niemand, dachte ich. Aber ich hatte kaum einen Liedervers
gesungen, so erschien auf dem Altarplatz in der Sakristeithür das lockige Haupt
des Kirchendieners. Er mußte die Sachlage sofort durchschaut haben, denn


legen zu können, daß man auf dieser schrägen Brüstung stehend mit der einen
Hand die Ziffertäfelchen zu wechseln, mit der andern die Tafel zu halten und
sich gleichzeitig daran anzuhalten hatte, und man wird verstehen, warum ich
die Einrichtung abscheulich genannt habe. Daß in deu acht Jahren meiner
Alumnenzeit bei diesem Ausstecken kein Unglück vorgekommen ist, daß so ein
kleiner Ausstecker nicht einmal von der Brüstung hinunter ins Schiff und
in die Kircheubänke gestürzt ist, daß ich selber nicht hinuntergestürzt bin
— denn ich habe das Ausstecken hundertmal besorgen müssen —, ist mir heute
ein reines Rätsel. Jetzt überlänfts mich schon, wenn ich mirs nnr wieder
vorstelle.

In den Amtsparten hatte aber der Ansstecker auch noch das Amt des
„Weckers." Er mußte sich am Sonnabend Abend beim Bambel melden und
war nun der erste, der am Sonntag früh etwa eine halbe Stunde vor Beginn
des Gottesdienstes aus den Federn geholt wurde, um dann die übrigen
zu wecken, die zur Part gehörten. Du lieber Gott, war das eine Not!
Man sollte sich selber in wenigen Minuten zum Chordienst ankleiden, in¬
zwischen noch drei- bis viermal von Bett zu Bett laufen, um die Part aus
dem Schlafe zu rütteln, und dann noch rechtzeitig in der Kirche sein, um das
Ausstecken zu besorgen! Zum Glück gab es in jeder Part einen „Nachwecker";
das war der Vorletzte. Ehe man in die Kirche hinüberlief, überzeugte man
sich, daß wenigstens der Nachwecker wirklich aus dem Bett war, und überließ
es dann dem, die übrigen vollends herauszubringen. WnS dem Nachwecker
nicht gelang, mußten schließlich die Glocken besorgen. Sowie die Glocken zu
läuten anfingen, sprangen die Letzten ans den Betten, fuhren wie der Teufel
in die Hosen und standen, wenn das Orgelvorspiel vorbei war, richtig noch zum
ersten Liedervcrs auf ihrem Platze. Der Organist dehnte schon sein Vorspiel
ein bischen aus, bis alle dawaren, und die Kirchgänger konnten sich das auch
gefallen lassen, denn der Alte war, bei all seiner äußerlichen Unscheinbar¬
keit, ein Musikus recht von Gottes Gnaden und phantasirte herrlich. Einmal
geschah aber doch das Unerhörte: der Nachwecker verschlief es, und ich war
der Unglückselige, den die Verantwortung traf! Ich hatte ihn, bis ich zum
Ausstecken lief, nicht aus dem Bette bringen können, hatte ihm aber zuletzt
noch el>? paar Kutsche auf seine feisten Schenkel versetzt, in der Hoffnung, daß
die eine Weile nachwirken würden. Aber die Glocken hatten ausgeläutet, der
Organist hatte sein Vorspiel schon so lang gemacht, daß es anfing, auffällig
zu werden, und noch immer ließ sich niemand weiter ans dem Chöre sehen.
Wir entschlossen uns endlich — wir, der Organist und ich! —, das Lied
anzufangen. Ich saug, so laut ich konnte, um die ganze Part zu ersetzen.
Vielleicht merkts niemand, dachte ich. Aber ich hatte kaum einen Liedervers
gesungen, so erschien auf dem Altarplatz in der Sakristeithür das lockige Haupt
des Kirchendieners. Er mußte die Sachlage sofort durchschaut haben, denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/133>, abgerufen am 26.06.2024.