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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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"gefügige" Reichstagsmehrheit ist also einfach haltlos, denn keine Regierung
-- sie müßte denn aus ungewöhnlich beschränkten und gleichzeitig stockreak¬
tionären Leuten bestehen -- wird ohne Not den Staat, am allerwenigsten aber
das junge, kousolidiruugsbedürftige Reich solchen tiefgehenden Erschütterungen
aussetzen wollen, keine große politische Partei, am allerwenigsten die national-
liberale, wird solche Bestrebungen unterstützen können. Es ist ein Gespenst,
was die deutschfreisinnige Partei dem Volke zeigt, diese Gefährdung des all¬
gemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung, und das
bleibt es, so lauge nicht eine fanatische Agitation dieses Wahlrecht derart mi߬
braucht, daß die daraus dem Reiche erwachsende Gefahr größer ist, als die
durch eine Änderung des Wahlgesetzes zu befürchtende. Ein liberaler Gedanke
ist die Erhaltung eines bestehenden freiheitlichen Wahlrechts um der dem
Staate bei einer Antastung drohenden Gefahr willen, ein demokratischer aber
lediglich die theoretische Hinstellnng des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl¬
rechts als eines schlechterdings an sich besten, jedem andern System vorzu¬
ziehenden. Nur ein radikaler Politiker kann die Schattenseiten verkennen, die
ein (wie der verstorbene Bluntschli gesagt hat) "die Unbildung über die Bil¬
dung, die Söhne über die Väter, die Besitzlosen über die Besitzenden" setzendes
Wahlsystem hat, nur ein solcher auch kann es leugnen, daß eine Wählerschaft,
in der großen .Kreisen Dinge mit Erfolg vvrgegaukelt werden können, wie
z. B. 1887 die Darstellung des "Septennats" als einer siebenjährigen Dienst¬
zeit, eine Gefahr für den Staat sein kann. Man kann sehr wohl gut liberal
sein, ohne dieses Wahlsystem gut zu nennen, und mit der Überzeugung, daß
seine Einführung eine schwer bedenkliche war, denn ein solcher Standpunkt ist
nicht gleichbedeutend mit dem Streben nach Abschaffung des einmal einge¬
führten so gestalteten Wahlrechts. Letzteres für eine gute Errungenschaft einen
Sieg des liberalen Prinzips zu erklären, ist nie und nimmer etwas andres,
als ein demokratisches Gebaren.

Ein unverhältnismäßig großes Gebiet der gesetzgeberischen Arbeiten nimmt
seit mehr als einem Jahrzehnt die Behandlung der wirtschaftlichen Fragen ein,
und bis auf weiteres werden diese, schon ihrer Verquickung mit der bren¬
nenden sozialen Frage wegen, auch noch lange das Parlament beschäftigen.
Auf diesem Gebiete nun ist es, wo nach dein Geschrei der freisinnigen Presse
die Reaktion, namentlich in Gestalt der Monopole, zu erwarten sein sollte,
wenn die "Mischmaschpartei" -- wie zuerst die "Germania" und ihr nach¬
jauchzend mancher freisinnige Redner mit Borliebe die Minderheit des 1887
aufgelösten Reichstages und demnächst die "Kartellmehrheit" des Reichstages
von 1887 bis 1890 geschmackvoll bezeichnete -- Majorität sein würde, wie
letzteres ja 1887 bis 1890 wirklich der Fall war. Verschwiegen wurde ge¬
flissentlich dabei, daß gegen das Tabaks- wie gegen das Branntweinmonopol die
Nationalliberalen so gut gestimmt hatten wie die Freisinnigen, daß also eine


„gefügige" Reichstagsmehrheit ist also einfach haltlos, denn keine Regierung
— sie müßte denn aus ungewöhnlich beschränkten und gleichzeitig stockreak¬
tionären Leuten bestehen — wird ohne Not den Staat, am allerwenigsten aber
das junge, kousolidiruugsbedürftige Reich solchen tiefgehenden Erschütterungen
aussetzen wollen, keine große politische Partei, am allerwenigsten die national-
liberale, wird solche Bestrebungen unterstützen können. Es ist ein Gespenst,
was die deutschfreisinnige Partei dem Volke zeigt, diese Gefährdung des all¬
gemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung, und das
bleibt es, so lauge nicht eine fanatische Agitation dieses Wahlrecht derart mi߬
braucht, daß die daraus dem Reiche erwachsende Gefahr größer ist, als die
durch eine Änderung des Wahlgesetzes zu befürchtende. Ein liberaler Gedanke
ist die Erhaltung eines bestehenden freiheitlichen Wahlrechts um der dem
Staate bei einer Antastung drohenden Gefahr willen, ein demokratischer aber
lediglich die theoretische Hinstellnng des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl¬
rechts als eines schlechterdings an sich besten, jedem andern System vorzu¬
ziehenden. Nur ein radikaler Politiker kann die Schattenseiten verkennen, die
ein (wie der verstorbene Bluntschli gesagt hat) „die Unbildung über die Bil¬
dung, die Söhne über die Väter, die Besitzlosen über die Besitzenden" setzendes
Wahlsystem hat, nur ein solcher auch kann es leugnen, daß eine Wählerschaft,
in der großen .Kreisen Dinge mit Erfolg vvrgegaukelt werden können, wie
z. B. 1887 die Darstellung des „Septennats" als einer siebenjährigen Dienst¬
zeit, eine Gefahr für den Staat sein kann. Man kann sehr wohl gut liberal
sein, ohne dieses Wahlsystem gut zu nennen, und mit der Überzeugung, daß
seine Einführung eine schwer bedenkliche war, denn ein solcher Standpunkt ist
nicht gleichbedeutend mit dem Streben nach Abschaffung des einmal einge¬
führten so gestalteten Wahlrechts. Letzteres für eine gute Errungenschaft einen
Sieg des liberalen Prinzips zu erklären, ist nie und nimmer etwas andres,
als ein demokratisches Gebaren.

Ein unverhältnismäßig großes Gebiet der gesetzgeberischen Arbeiten nimmt
seit mehr als einem Jahrzehnt die Behandlung der wirtschaftlichen Fragen ein,
und bis auf weiteres werden diese, schon ihrer Verquickung mit der bren¬
nenden sozialen Frage wegen, auch noch lange das Parlament beschäftigen.
Auf diesem Gebiete nun ist es, wo nach dein Geschrei der freisinnigen Presse
die Reaktion, namentlich in Gestalt der Monopole, zu erwarten sein sollte,
wenn die „Mischmaschpartei" — wie zuerst die „Germania" und ihr nach¬
jauchzend mancher freisinnige Redner mit Borliebe die Minderheit des 1887
aufgelösten Reichstages und demnächst die „Kartellmehrheit" des Reichstages
von 1887 bis 1890 geschmackvoll bezeichnete — Majorität sein würde, wie
letzteres ja 1887 bis 1890 wirklich der Fall war. Verschwiegen wurde ge¬
flissentlich dabei, daß gegen das Tabaks- wie gegen das Branntweinmonopol die
Nationalliberalen so gut gestimmt hatten wie die Freisinnigen, daß also eine


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[0592] „gefügige" Reichstagsmehrheit ist also einfach haltlos, denn keine Regierung — sie müßte denn aus ungewöhnlich beschränkten und gleichzeitig stockreak¬ tionären Leuten bestehen — wird ohne Not den Staat, am allerwenigsten aber das junge, kousolidiruugsbedürftige Reich solchen tiefgehenden Erschütterungen aussetzen wollen, keine große politische Partei, am allerwenigsten die national- liberale, wird solche Bestrebungen unterstützen können. Es ist ein Gespenst, was die deutschfreisinnige Partei dem Volke zeigt, diese Gefährdung des all¬ gemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung, und das bleibt es, so lauge nicht eine fanatische Agitation dieses Wahlrecht derart mi߬ braucht, daß die daraus dem Reiche erwachsende Gefahr größer ist, als die durch eine Änderung des Wahlgesetzes zu befürchtende. Ein liberaler Gedanke ist die Erhaltung eines bestehenden freiheitlichen Wahlrechts um der dem Staate bei einer Antastung drohenden Gefahr willen, ein demokratischer aber lediglich die theoretische Hinstellnng des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl¬ rechts als eines schlechterdings an sich besten, jedem andern System vorzu¬ ziehenden. Nur ein radikaler Politiker kann die Schattenseiten verkennen, die ein (wie der verstorbene Bluntschli gesagt hat) „die Unbildung über die Bil¬ dung, die Söhne über die Väter, die Besitzlosen über die Besitzenden" setzendes Wahlsystem hat, nur ein solcher auch kann es leugnen, daß eine Wählerschaft, in der großen .Kreisen Dinge mit Erfolg vvrgegaukelt werden können, wie z. B. 1887 die Darstellung des „Septennats" als einer siebenjährigen Dienst¬ zeit, eine Gefahr für den Staat sein kann. Man kann sehr wohl gut liberal sein, ohne dieses Wahlsystem gut zu nennen, und mit der Überzeugung, daß seine Einführung eine schwer bedenkliche war, denn ein solcher Standpunkt ist nicht gleichbedeutend mit dem Streben nach Abschaffung des einmal einge¬ führten so gestalteten Wahlrechts. Letzteres für eine gute Errungenschaft einen Sieg des liberalen Prinzips zu erklären, ist nie und nimmer etwas andres, als ein demokratisches Gebaren. Ein unverhältnismäßig großes Gebiet der gesetzgeberischen Arbeiten nimmt seit mehr als einem Jahrzehnt die Behandlung der wirtschaftlichen Fragen ein, und bis auf weiteres werden diese, schon ihrer Verquickung mit der bren¬ nenden sozialen Frage wegen, auch noch lange das Parlament beschäftigen. Auf diesem Gebiete nun ist es, wo nach dein Geschrei der freisinnigen Presse die Reaktion, namentlich in Gestalt der Monopole, zu erwarten sein sollte, wenn die „Mischmaschpartei" — wie zuerst die „Germania" und ihr nach¬ jauchzend mancher freisinnige Redner mit Borliebe die Minderheit des 1887 aufgelösten Reichstages und demnächst die „Kartellmehrheit" des Reichstages von 1887 bis 1890 geschmackvoll bezeichnete — Majorität sein würde, wie letzteres ja 1887 bis 1890 wirklich der Fall war. Verschwiegen wurde ge¬ flissentlich dabei, daß gegen das Tabaks- wie gegen das Branntweinmonopol die Nationalliberalen so gut gestimmt hatten wie die Freisinnigen, daß also eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/592>, abgerufen am 22.07.2024.