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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Liberal und demokratisch

bezichtigen, sie seien konservativ geworden, vielmehr haben die Konservativen
den liberalen Gedanken annehmen müssen, und nnn verteidigen sie ihn mit den
Nationallibercilen gegen den demokratischen Gedanken. Der letztere aber geht
weiter als der liberale, er ist mit nichten "konstitutionell," sondern verfassungs¬
widrig -- ein Begriff, der doch nur nach der wirklichen Einzelverfassung und
nicht nach einer allgemeinen Verfassungsschablone beurteilt werden kann --, und
darum hüten sich die Deutschfreisinnigen mich wohl, ihn klar in ihren offiziellen
Programmen auszusprechen. Herr Richter wird aber, wenn er ehrlich sein
will, nicht in Abrede stellen, daß die Verwirklichung dieses demokratischen Ge¬
dankens, wie er noch näher skizzirt werden soll, ihm ein -- nun sagen wir
erstrebenswertes Ideal ist. Und weil die Nationalliberalen diese Verwirklichung
weder für erstrebenswert noch für ein "Ideal" halten, werdeu sie "reaktionärer"
Neigungen beschuldigt. Ein andrer Grund für den noch im Wahlkampf von
1887 ausposaunten Vorwurf, sie würden die Hand bieten zu einer "Rückwärts-
revidiruug" der Verfassung, läßt sich wenigstens nicht denken. Was denn die
Regierung unter dem Beistande der Nativnalliberalen "rückwärts revidiren"
wollte, inwiefern der liberale Verfassnngsgedanke, wie er oben definirt ist, ge¬
fährdet erscheint, wurde nicht gesagt, weil es eben unmöglich war, irgendwelche
Thatsachen für eine solche Ungeheuerlichkeit vorzubringen, es kann also der
Grund nur das Bewußtsein der Deutschfreisinnigen gewesen sein, daß bei einer
bei gelegener Zeit von ihnen ins Werk zu setzenden "Fortentwicklung" oder,
was vielleicht der fortschrittlichen Redeweise besser entspricht, "Vorwärts-
revidiruug" der Verfassung die Nationalliberalen nicht "mitmachen" würden.
Eben diese "Vvrwärtsrevidirung" würde aber nur den demokratischen Gedanken
zum Ausdruck bringen können, der dahin geht, das Schwergewicht der Gesetz¬
gebung und somit der Staatsgewalt in die Volksvertretung zu legen, d. h.
-- wer ehrlich ist, kann es nicht bestreiten -- das Verhältnis der Gewalten
im Staate auf Kosten des Monarchen zu. verschieben. Man werfe nicht ein,
so etwas wolle der Freisinn nicht -- immer wieder muß wiederholt werdeu:
er schreibt es zwar nicht offen in sein Programm, er arbeitet aber darauf hin,
es je eher desto lieber hineinschreiben zu können, denn was soll sonst die stets
wiederkehrende Exemplifikation auf England, die sich nicht im mindesten um
die gänzliche Verschiedenheit in der Geschichte beider Länder kümmert? ums
das Betonen der "geringen" Rechte der Volksvertretung bei uns, deren Er¬
weiterung doch eben durch dieses Epitheton als wünschenswert bezeichnet wird?
was überhaupt das Geschrei über Preisgebung "unveräußerlicher Rechte des
Volkes," während auch nicht ein einziges solches Recht angetastet worden ist?
Entweder dieses Gebaren ist unehrlich, oder die Behauptung ist es, der Frei¬
sinn erstrebe nicht das, was man gemeinhin "Parlamentsregiernng" nennt.
In England besteht sie ja allerdings, und vielleicht könnte jemand unwider-
leglich beweisen, trotzdem sei die englische Verfassung nicht demokratisch. Gewiß


Liberal und demokratisch

bezichtigen, sie seien konservativ geworden, vielmehr haben die Konservativen
den liberalen Gedanken annehmen müssen, und nnn verteidigen sie ihn mit den
Nationallibercilen gegen den demokratischen Gedanken. Der letztere aber geht
weiter als der liberale, er ist mit nichten „konstitutionell," sondern verfassungs¬
widrig — ein Begriff, der doch nur nach der wirklichen Einzelverfassung und
nicht nach einer allgemeinen Verfassungsschablone beurteilt werden kann —, und
darum hüten sich die Deutschfreisinnigen mich wohl, ihn klar in ihren offiziellen
Programmen auszusprechen. Herr Richter wird aber, wenn er ehrlich sein
will, nicht in Abrede stellen, daß die Verwirklichung dieses demokratischen Ge¬
dankens, wie er noch näher skizzirt werden soll, ihm ein — nun sagen wir
erstrebenswertes Ideal ist. Und weil die Nationalliberalen diese Verwirklichung
weder für erstrebenswert noch für ein „Ideal" halten, werdeu sie „reaktionärer"
Neigungen beschuldigt. Ein andrer Grund für den noch im Wahlkampf von
1887 ausposaunten Vorwurf, sie würden die Hand bieten zu einer „Rückwärts-
revidiruug" der Verfassung, läßt sich wenigstens nicht denken. Was denn die
Regierung unter dem Beistande der Nativnalliberalen „rückwärts revidiren"
wollte, inwiefern der liberale Verfassnngsgedanke, wie er oben definirt ist, ge¬
fährdet erscheint, wurde nicht gesagt, weil es eben unmöglich war, irgendwelche
Thatsachen für eine solche Ungeheuerlichkeit vorzubringen, es kann also der
Grund nur das Bewußtsein der Deutschfreisinnigen gewesen sein, daß bei einer
bei gelegener Zeit von ihnen ins Werk zu setzenden „Fortentwicklung" oder,
was vielleicht der fortschrittlichen Redeweise besser entspricht, „Vorwärts-
revidiruug" der Verfassung die Nationalliberalen nicht „mitmachen" würden.
Eben diese „Vvrwärtsrevidirung" würde aber nur den demokratischen Gedanken
zum Ausdruck bringen können, der dahin geht, das Schwergewicht der Gesetz¬
gebung und somit der Staatsgewalt in die Volksvertretung zu legen, d. h.
— wer ehrlich ist, kann es nicht bestreiten — das Verhältnis der Gewalten
im Staate auf Kosten des Monarchen zu. verschieben. Man werfe nicht ein,
so etwas wolle der Freisinn nicht — immer wieder muß wiederholt werdeu:
er schreibt es zwar nicht offen in sein Programm, er arbeitet aber darauf hin,
es je eher desto lieber hineinschreiben zu können, denn was soll sonst die stets
wiederkehrende Exemplifikation auf England, die sich nicht im mindesten um
die gänzliche Verschiedenheit in der Geschichte beider Länder kümmert? ums
das Betonen der „geringen" Rechte der Volksvertretung bei uns, deren Er¬
weiterung doch eben durch dieses Epitheton als wünschenswert bezeichnet wird?
was überhaupt das Geschrei über Preisgebung „unveräußerlicher Rechte des
Volkes," während auch nicht ein einziges solches Recht angetastet worden ist?
Entweder dieses Gebaren ist unehrlich, oder die Behauptung ist es, der Frei¬
sinn erstrebe nicht das, was man gemeinhin „Parlamentsregiernng" nennt.
In England besteht sie ja allerdings, und vielleicht könnte jemand unwider-
leglich beweisen, trotzdem sei die englische Verfassung nicht demokratisch. Gewiß


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[0587] Liberal und demokratisch bezichtigen, sie seien konservativ geworden, vielmehr haben die Konservativen den liberalen Gedanken annehmen müssen, und nnn verteidigen sie ihn mit den Nationallibercilen gegen den demokratischen Gedanken. Der letztere aber geht weiter als der liberale, er ist mit nichten „konstitutionell," sondern verfassungs¬ widrig — ein Begriff, der doch nur nach der wirklichen Einzelverfassung und nicht nach einer allgemeinen Verfassungsschablone beurteilt werden kann —, und darum hüten sich die Deutschfreisinnigen mich wohl, ihn klar in ihren offiziellen Programmen auszusprechen. Herr Richter wird aber, wenn er ehrlich sein will, nicht in Abrede stellen, daß die Verwirklichung dieses demokratischen Ge¬ dankens, wie er noch näher skizzirt werden soll, ihm ein — nun sagen wir erstrebenswertes Ideal ist. Und weil die Nationalliberalen diese Verwirklichung weder für erstrebenswert noch für ein „Ideal" halten, werdeu sie „reaktionärer" Neigungen beschuldigt. Ein andrer Grund für den noch im Wahlkampf von 1887 ausposaunten Vorwurf, sie würden die Hand bieten zu einer „Rückwärts- revidiruug" der Verfassung, läßt sich wenigstens nicht denken. Was denn die Regierung unter dem Beistande der Nativnalliberalen „rückwärts revidiren" wollte, inwiefern der liberale Verfassnngsgedanke, wie er oben definirt ist, ge¬ fährdet erscheint, wurde nicht gesagt, weil es eben unmöglich war, irgendwelche Thatsachen für eine solche Ungeheuerlichkeit vorzubringen, es kann also der Grund nur das Bewußtsein der Deutschfreisinnigen gewesen sein, daß bei einer bei gelegener Zeit von ihnen ins Werk zu setzenden „Fortentwicklung" oder, was vielleicht der fortschrittlichen Redeweise besser entspricht, „Vorwärts- revidiruug" der Verfassung die Nationalliberalen nicht „mitmachen" würden. Eben diese „Vvrwärtsrevidirung" würde aber nur den demokratischen Gedanken zum Ausdruck bringen können, der dahin geht, das Schwergewicht der Gesetz¬ gebung und somit der Staatsgewalt in die Volksvertretung zu legen, d. h. — wer ehrlich ist, kann es nicht bestreiten — das Verhältnis der Gewalten im Staate auf Kosten des Monarchen zu. verschieben. Man werfe nicht ein, so etwas wolle der Freisinn nicht — immer wieder muß wiederholt werdeu: er schreibt es zwar nicht offen in sein Programm, er arbeitet aber darauf hin, es je eher desto lieber hineinschreiben zu können, denn was soll sonst die stets wiederkehrende Exemplifikation auf England, die sich nicht im mindesten um die gänzliche Verschiedenheit in der Geschichte beider Länder kümmert? ums das Betonen der „geringen" Rechte der Volksvertretung bei uns, deren Er¬ weiterung doch eben durch dieses Epitheton als wünschenswert bezeichnet wird? was überhaupt das Geschrei über Preisgebung „unveräußerlicher Rechte des Volkes," während auch nicht ein einziges solches Recht angetastet worden ist? Entweder dieses Gebaren ist unehrlich, oder die Behauptung ist es, der Frei¬ sinn erstrebe nicht das, was man gemeinhin „Parlamentsregiernng" nennt. In England besteht sie ja allerdings, und vielleicht könnte jemand unwider- leglich beweisen, trotzdem sei die englische Verfassung nicht demokratisch. Gewiß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/587>, abgerufen am 22.07.2024.