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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

seinen Zinsenanteil ub. Die Folge davon ist. daß die Mehrzahl der Arbeitenden
in Dürftigkeit bleibt und sehr wenig verbrauchen kann, jedenfalls weit weniger,
als sie zu verbrauchen Lust hätte und fähig wäre. Dazu kvnunt noch jene
abscheuliche Lehre der englischen Nationalökonomen, daß sich das Einkommen
der "Arbeiter" (wer sind diese Arbeiter? gehört der Handwerksmeister, der
Bauer und der Beamte auch dazu?) niemals dauernd über das "Existenz¬
minimum" erheben könne, sodaß man es in abergläubischer Furcht schon für
eine nationale Gefahr anzusehen gewöhnt ist. wenn sich die Fabrikarbeiter
irgendwo ordentlich satt essen und Sonntags in guter Kleidung einhergehen.
Da sich nun die Produktiv" notwendigerweise nach dein Absatz richten muß,
die vielen Besitzlosen aber das, was sie brauchen, nicht kaufen können, so wird der
Produktion unsrer Kulturstaaten ihr Maß weniger von den vierhundert Millionen
bestimmt, die wenig oder nichts besitzen, als von den vier Millionen Wohl¬
habenden und Reichen. Da aber deren Aufnahmefähigkeit doch beschränkt ist
und ihr Verbrauch selbst bei der größten Üppigkeit niemals den mangelnden
Mnssenkonsum ersetzen kaun, so erleiden wir aller Augenblicke eine Geschäfts-
stockung, Handelskrisis oder wie man das Ding sonst nennt. Das (fälschlich
so genannte) "Kapital" liegt bereit, aber niemand mag es, und der Zinsfuß
sinkt. Die von Tag zu Tag sich glänzender entfaltende Maschinentechnik bietet
die Mittel dar, mit der geringsten Menge von Menschenarbeit alle Gegenstände
unsers Bedarfs zu verzehnfachen, aber man weist ihre Hilfe zurück und läßt
die schon fertigen Maschinen still stehen, weil der Markt mit Waren vollgestopft
ist. Kräftige Arme und gescheite Köpfe bieten zu taufenden ihre Arbeit an,
aber man kann sie nicht brauchen. Kapitalisten und Baumeister teilen sich in
den negativen Kapitalzins, der ihnen ans einem Hüuserkrcich erblüht, und
lassen die Bauarbeiter feiern, und neben den leer stehenden Palästen und Miet¬
kasernen kampiren Hunderte von Familien bei Mutter Grün, die vom Wirte
hinausgeworfen wurden, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten, und die,
wenn sie es überhaupt noch einmal zu einer sogenannten Wohnung bringe",
höchstens ein me"schenunwürdiges Kellerloch oder eine ""heizbare Dachkammer
beziehen werde". Hätte" sie das erforderliche Geld, sich ""ständig el"z"richte",
so wäre allen vier Klaffen geholfen: ihnen, den Kapitalisten, den Architekten
und den Bauarbeitern. Die Erde spendet Nahrung in Fülle, und falls die
"> der Heimat gewachsene nicht zureicht, so biete" alle Erdteile ""s ihre Er¬
zeugnisse an, und Schiffe wie Dampfwage" stehen bereit, uns diese Erzeugnisse
mit Windeseile herbeizuführen. Aber nicht genug, daß viele Arme kein Geld
haben, die Zufuhr zu bezahlen, man läßt die Zufuhr gnr nicht herein, weil
man fürchtet, wir könnten noch ärmer werden, als wir ohnehin schon sind,
wenn das Ausland uns mit seinen Schätzen überschüttete.

Von den harten Worten, mit denen Nodbcrtns die Ungerechtigkeit dieses
Zustandes rügt, wollen wir keines anführen; aber seine Unvernunft müssen wir


Die soziale Frage

seinen Zinsenanteil ub. Die Folge davon ist. daß die Mehrzahl der Arbeitenden
in Dürftigkeit bleibt und sehr wenig verbrauchen kann, jedenfalls weit weniger,
als sie zu verbrauchen Lust hätte und fähig wäre. Dazu kvnunt noch jene
abscheuliche Lehre der englischen Nationalökonomen, daß sich das Einkommen
der „Arbeiter" (wer sind diese Arbeiter? gehört der Handwerksmeister, der
Bauer und der Beamte auch dazu?) niemals dauernd über das „Existenz¬
minimum" erheben könne, sodaß man es in abergläubischer Furcht schon für
eine nationale Gefahr anzusehen gewöhnt ist. wenn sich die Fabrikarbeiter
irgendwo ordentlich satt essen und Sonntags in guter Kleidung einhergehen.
Da sich nun die Produktiv» notwendigerweise nach dein Absatz richten muß,
die vielen Besitzlosen aber das, was sie brauchen, nicht kaufen können, so wird der
Produktion unsrer Kulturstaaten ihr Maß weniger von den vierhundert Millionen
bestimmt, die wenig oder nichts besitzen, als von den vier Millionen Wohl¬
habenden und Reichen. Da aber deren Aufnahmefähigkeit doch beschränkt ist
und ihr Verbrauch selbst bei der größten Üppigkeit niemals den mangelnden
Mnssenkonsum ersetzen kaun, so erleiden wir aller Augenblicke eine Geschäfts-
stockung, Handelskrisis oder wie man das Ding sonst nennt. Das (fälschlich
so genannte) „Kapital" liegt bereit, aber niemand mag es, und der Zinsfuß
sinkt. Die von Tag zu Tag sich glänzender entfaltende Maschinentechnik bietet
die Mittel dar, mit der geringsten Menge von Menschenarbeit alle Gegenstände
unsers Bedarfs zu verzehnfachen, aber man weist ihre Hilfe zurück und läßt
die schon fertigen Maschinen still stehen, weil der Markt mit Waren vollgestopft
ist. Kräftige Arme und gescheite Köpfe bieten zu taufenden ihre Arbeit an,
aber man kann sie nicht brauchen. Kapitalisten und Baumeister teilen sich in
den negativen Kapitalzins, der ihnen ans einem Hüuserkrcich erblüht, und
lassen die Bauarbeiter feiern, und neben den leer stehenden Palästen und Miet¬
kasernen kampiren Hunderte von Familien bei Mutter Grün, die vom Wirte
hinausgeworfen wurden, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten, und die,
wenn sie es überhaupt noch einmal zu einer sogenannten Wohnung bringe»,
höchstens ein me»schenunwürdiges Kellerloch oder eine »»heizbare Dachkammer
beziehen werde». Hätte» sie das erforderliche Geld, sich «»ständig el»z»richte»,
so wäre allen vier Klaffen geholfen: ihnen, den Kapitalisten, den Architekten
und den Bauarbeitern. Die Erde spendet Nahrung in Fülle, und falls die
"> der Heimat gewachsene nicht zureicht, so biete» alle Erdteile »»s ihre Er¬
zeugnisse an, und Schiffe wie Dampfwage» stehen bereit, uns diese Erzeugnisse
mit Windeseile herbeizuführen. Aber nicht genug, daß viele Arme kein Geld
haben, die Zufuhr zu bezahlen, man läßt die Zufuhr gnr nicht herein, weil
man fürchtet, wir könnten noch ärmer werden, als wir ohnehin schon sind,
wenn das Ausland uns mit seinen Schätzen überschüttete.

Von den harten Worten, mit denen Nodbcrtns die Ungerechtigkeit dieses
Zustandes rügt, wollen wir keines anführen; aber seine Unvernunft müssen wir


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[0557] Die soziale Frage seinen Zinsenanteil ub. Die Folge davon ist. daß die Mehrzahl der Arbeitenden in Dürftigkeit bleibt und sehr wenig verbrauchen kann, jedenfalls weit weniger, als sie zu verbrauchen Lust hätte und fähig wäre. Dazu kvnunt noch jene abscheuliche Lehre der englischen Nationalökonomen, daß sich das Einkommen der „Arbeiter" (wer sind diese Arbeiter? gehört der Handwerksmeister, der Bauer und der Beamte auch dazu?) niemals dauernd über das „Existenz¬ minimum" erheben könne, sodaß man es in abergläubischer Furcht schon für eine nationale Gefahr anzusehen gewöhnt ist. wenn sich die Fabrikarbeiter irgendwo ordentlich satt essen und Sonntags in guter Kleidung einhergehen. Da sich nun die Produktiv» notwendigerweise nach dein Absatz richten muß, die vielen Besitzlosen aber das, was sie brauchen, nicht kaufen können, so wird der Produktion unsrer Kulturstaaten ihr Maß weniger von den vierhundert Millionen bestimmt, die wenig oder nichts besitzen, als von den vier Millionen Wohl¬ habenden und Reichen. Da aber deren Aufnahmefähigkeit doch beschränkt ist und ihr Verbrauch selbst bei der größten Üppigkeit niemals den mangelnden Mnssenkonsum ersetzen kaun, so erleiden wir aller Augenblicke eine Geschäfts- stockung, Handelskrisis oder wie man das Ding sonst nennt. Das (fälschlich so genannte) „Kapital" liegt bereit, aber niemand mag es, und der Zinsfuß sinkt. Die von Tag zu Tag sich glänzender entfaltende Maschinentechnik bietet die Mittel dar, mit der geringsten Menge von Menschenarbeit alle Gegenstände unsers Bedarfs zu verzehnfachen, aber man weist ihre Hilfe zurück und läßt die schon fertigen Maschinen still stehen, weil der Markt mit Waren vollgestopft ist. Kräftige Arme und gescheite Köpfe bieten zu taufenden ihre Arbeit an, aber man kann sie nicht brauchen. Kapitalisten und Baumeister teilen sich in den negativen Kapitalzins, der ihnen ans einem Hüuserkrcich erblüht, und lassen die Bauarbeiter feiern, und neben den leer stehenden Palästen und Miet¬ kasernen kampiren Hunderte von Familien bei Mutter Grün, die vom Wirte hinausgeworfen wurden, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten, und die, wenn sie es überhaupt noch einmal zu einer sogenannten Wohnung bringe», höchstens ein me»schenunwürdiges Kellerloch oder eine »»heizbare Dachkammer beziehen werde». Hätte» sie das erforderliche Geld, sich «»ständig el»z»richte», so wäre allen vier Klaffen geholfen: ihnen, den Kapitalisten, den Architekten und den Bauarbeitern. Die Erde spendet Nahrung in Fülle, und falls die "> der Heimat gewachsene nicht zureicht, so biete» alle Erdteile »»s ihre Er¬ zeugnisse an, und Schiffe wie Dampfwage» stehen bereit, uns diese Erzeugnisse mit Windeseile herbeizuführen. Aber nicht genug, daß viele Arme kein Geld haben, die Zufuhr zu bezahlen, man läßt die Zufuhr gnr nicht herein, weil man fürchtet, wir könnten noch ärmer werden, als wir ohnehin schon sind, wenn das Ausland uns mit seinen Schätzen überschüttete. Von den harten Worten, mit denen Nodbcrtns die Ungerechtigkeit dieses Zustandes rügt, wollen wir keines anführen; aber seine Unvernunft müssen wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/557>, abgerufen am 28.12.2024.