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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

doch noch mit einigen Worten hervorheben. Alles, so klagte vor einigen
Monaten der "Ekonomist" der kapitalistischen "Neuen Freien Presse," alles
scheine sich gegen das Kapital verschworen zu haben: die Arbeiter, die Ver¬
hältnisse, die Fortschritte der Industrie, die Natur, Zwar würden zur Hebung
des Kapitalzinses riesenhafte Anstrengungen gemacht; während man die Grund¬
rente durch künstliche Verteueruug der Lebensmittel zu steigern suche, werde
dem. in der Industrie angelegten Kapital durch Kartelle der Großindustriellen
und durch die ungeheuern Aufträge der europäischen Militärverwaltungen
augenblicklich eine bessere Verzinsung gesichert. Allein es sei leicht einzusehen,
daß diese gewaltsamen und künstlichen Mittel keine dauernde Hilfe bringen
könnten; insbesondre sei schwer zu sagen, was man beginnen werde, nachdem
alle die neuen Kanonen, Gewehre, Panzerplatten und sonstigen Ausrüstuugs-
gegenstände geliefert sein würden, und den Diplomaten ihre verzweifelten An¬
strengungen, Kriegsbefürchtuugen zu erzeugen, nichts mehr nützen würden, weil
ihnen in der ganzen Welt kein Mensch mehr glaube. Das zuletzt erwähnte
Bedenken wurde, natürlich in bedeutend andrer Form, um dieselbe Zeit in
einem Berichte des Sekretärs des Vereins für Bergbauinteressen ausgesprochen.

Nun, wenn es uns noch nicht ganz so schlimm ergeht, wie es uns gehen
könnte, wenn das sogenannte Kapital noch nicht an der Behandlung gestorben
ist, die seiue Pflegevater ihm angedeihen lassen, wenn sich der Zinsfuß in
neuerer Zeit sogar wieder ein wenig erholt hat, so haben wir das haupt¬
sächlich deu Lohnaufbessernngeu zu verdanken, die sich die Arbeiter erzwingen,
und durch die sie sich konsumtionsfähiger machen. Es hat mich daher nicht
im geringsten gewundert, als ich dieser Tage in den amtlichen Berichten der
Gewerberäte las, daß das abgelaufene Jahr 1889, das Jahr der großen
Streiks, für die Industrie günstiger verlaufen sei als seine Vorgänger. Was
würde den Agrariern, den Inhabern der Bodenrenke, der höchste Fleischpreis
nützen, wenn die Volksmassen wegen zu niedrigen Verdienstes aus den Fleisch-
genuß verzichten müßten? Der kleine Beamte verzehrt auch uur mäßig große
Lendenbraten, und was die vornehmen Herren neben Wild und Geflügel und
die Damen mit Wespentaille zu bewältigen vermögen, ist gar nicht der Rede
wert. Anstatt also die Hände überm Kopfe zusammenzuschlagen über die An¬
sprüche der Arbeiter, die zum zweiten Frühstück belegte Stukken verlangen,
sollten die Herren Kapitalisten, Großfabrikanten wie Großgrundbesitzer, viel¬
mehr Gott danken dafür, daß sie einen solchen Arbeiterstand haben. Wären
die europäischen Völker so lammsgednldig und unterwürfig aus Aberglauben,
wie die Hindu, ließen sie sich alles gefallen, dann wären Bodenrenke und
Kapitalzitts längst ein Märchen aus alten Zeiten geworden, und die Jndustrie-
aktien würden teils gar uicht vorhanden, teils Löschpapier sein.

Die englischen Grvßfabrikanten freilich haben Jahrzehnte hindurch gesagt
-- natürlich nicht laut, sondern nur inwendig -- was kümmerts uns, wenn


Die soziale Frage

doch noch mit einigen Worten hervorheben. Alles, so klagte vor einigen
Monaten der „Ekonomist" der kapitalistischen „Neuen Freien Presse," alles
scheine sich gegen das Kapital verschworen zu haben: die Arbeiter, die Ver¬
hältnisse, die Fortschritte der Industrie, die Natur, Zwar würden zur Hebung
des Kapitalzinses riesenhafte Anstrengungen gemacht; während man die Grund¬
rente durch künstliche Verteueruug der Lebensmittel zu steigern suche, werde
dem. in der Industrie angelegten Kapital durch Kartelle der Großindustriellen
und durch die ungeheuern Aufträge der europäischen Militärverwaltungen
augenblicklich eine bessere Verzinsung gesichert. Allein es sei leicht einzusehen,
daß diese gewaltsamen und künstlichen Mittel keine dauernde Hilfe bringen
könnten; insbesondre sei schwer zu sagen, was man beginnen werde, nachdem
alle die neuen Kanonen, Gewehre, Panzerplatten und sonstigen Ausrüstuugs-
gegenstände geliefert sein würden, und den Diplomaten ihre verzweifelten An¬
strengungen, Kriegsbefürchtuugen zu erzeugen, nichts mehr nützen würden, weil
ihnen in der ganzen Welt kein Mensch mehr glaube. Das zuletzt erwähnte
Bedenken wurde, natürlich in bedeutend andrer Form, um dieselbe Zeit in
einem Berichte des Sekretärs des Vereins für Bergbauinteressen ausgesprochen.

Nun, wenn es uns noch nicht ganz so schlimm ergeht, wie es uns gehen
könnte, wenn das sogenannte Kapital noch nicht an der Behandlung gestorben
ist, die seiue Pflegevater ihm angedeihen lassen, wenn sich der Zinsfuß in
neuerer Zeit sogar wieder ein wenig erholt hat, so haben wir das haupt¬
sächlich deu Lohnaufbessernngeu zu verdanken, die sich die Arbeiter erzwingen,
und durch die sie sich konsumtionsfähiger machen. Es hat mich daher nicht
im geringsten gewundert, als ich dieser Tage in den amtlichen Berichten der
Gewerberäte las, daß das abgelaufene Jahr 1889, das Jahr der großen
Streiks, für die Industrie günstiger verlaufen sei als seine Vorgänger. Was
würde den Agrariern, den Inhabern der Bodenrenke, der höchste Fleischpreis
nützen, wenn die Volksmassen wegen zu niedrigen Verdienstes aus den Fleisch-
genuß verzichten müßten? Der kleine Beamte verzehrt auch uur mäßig große
Lendenbraten, und was die vornehmen Herren neben Wild und Geflügel und
die Damen mit Wespentaille zu bewältigen vermögen, ist gar nicht der Rede
wert. Anstatt also die Hände überm Kopfe zusammenzuschlagen über die An¬
sprüche der Arbeiter, die zum zweiten Frühstück belegte Stukken verlangen,
sollten die Herren Kapitalisten, Großfabrikanten wie Großgrundbesitzer, viel¬
mehr Gott danken dafür, daß sie einen solchen Arbeiterstand haben. Wären
die europäischen Völker so lammsgednldig und unterwürfig aus Aberglauben,
wie die Hindu, ließen sie sich alles gefallen, dann wären Bodenrenke und
Kapitalzitts längst ein Märchen aus alten Zeiten geworden, und die Jndustrie-
aktien würden teils gar uicht vorhanden, teils Löschpapier sein.

Die englischen Grvßfabrikanten freilich haben Jahrzehnte hindurch gesagt
— natürlich nicht laut, sondern nur inwendig — was kümmerts uns, wenn


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[0558] Die soziale Frage doch noch mit einigen Worten hervorheben. Alles, so klagte vor einigen Monaten der „Ekonomist" der kapitalistischen „Neuen Freien Presse," alles scheine sich gegen das Kapital verschworen zu haben: die Arbeiter, die Ver¬ hältnisse, die Fortschritte der Industrie, die Natur, Zwar würden zur Hebung des Kapitalzinses riesenhafte Anstrengungen gemacht; während man die Grund¬ rente durch künstliche Verteueruug der Lebensmittel zu steigern suche, werde dem. in der Industrie angelegten Kapital durch Kartelle der Großindustriellen und durch die ungeheuern Aufträge der europäischen Militärverwaltungen augenblicklich eine bessere Verzinsung gesichert. Allein es sei leicht einzusehen, daß diese gewaltsamen und künstlichen Mittel keine dauernde Hilfe bringen könnten; insbesondre sei schwer zu sagen, was man beginnen werde, nachdem alle die neuen Kanonen, Gewehre, Panzerplatten und sonstigen Ausrüstuugs- gegenstände geliefert sein würden, und den Diplomaten ihre verzweifelten An¬ strengungen, Kriegsbefürchtuugen zu erzeugen, nichts mehr nützen würden, weil ihnen in der ganzen Welt kein Mensch mehr glaube. Das zuletzt erwähnte Bedenken wurde, natürlich in bedeutend andrer Form, um dieselbe Zeit in einem Berichte des Sekretärs des Vereins für Bergbauinteressen ausgesprochen. Nun, wenn es uns noch nicht ganz so schlimm ergeht, wie es uns gehen könnte, wenn das sogenannte Kapital noch nicht an der Behandlung gestorben ist, die seiue Pflegevater ihm angedeihen lassen, wenn sich der Zinsfuß in neuerer Zeit sogar wieder ein wenig erholt hat, so haben wir das haupt¬ sächlich deu Lohnaufbessernngeu zu verdanken, die sich die Arbeiter erzwingen, und durch die sie sich konsumtionsfähiger machen. Es hat mich daher nicht im geringsten gewundert, als ich dieser Tage in den amtlichen Berichten der Gewerberäte las, daß das abgelaufene Jahr 1889, das Jahr der großen Streiks, für die Industrie günstiger verlaufen sei als seine Vorgänger. Was würde den Agrariern, den Inhabern der Bodenrenke, der höchste Fleischpreis nützen, wenn die Volksmassen wegen zu niedrigen Verdienstes aus den Fleisch- genuß verzichten müßten? Der kleine Beamte verzehrt auch uur mäßig große Lendenbraten, und was die vornehmen Herren neben Wild und Geflügel und die Damen mit Wespentaille zu bewältigen vermögen, ist gar nicht der Rede wert. Anstatt also die Hände überm Kopfe zusammenzuschlagen über die An¬ sprüche der Arbeiter, die zum zweiten Frühstück belegte Stukken verlangen, sollten die Herren Kapitalisten, Großfabrikanten wie Großgrundbesitzer, viel¬ mehr Gott danken dafür, daß sie einen solchen Arbeiterstand haben. Wären die europäischen Völker so lammsgednldig und unterwürfig aus Aberglauben, wie die Hindu, ließen sie sich alles gefallen, dann wären Bodenrenke und Kapitalzitts längst ein Märchen aus alten Zeiten geworden, und die Jndustrie- aktien würden teils gar uicht vorhanden, teils Löschpapier sein. Die englischen Grvßfabrikanten freilich haben Jahrzehnte hindurch gesagt — natürlich nicht laut, sondern nur inwendig — was kümmerts uns, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/558>, abgerufen am 28.12.2024.