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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

deutet: Weil wir zu viel Brot und Fleisch haben, darum müssen viele
Millionen Menschen hungern; weil wir zu viel Schuhe haben, müssen die
Ärmeren im Winter barfuß oder in zerrissenem und geflickten Schuhwerk gehen;
weil wir zu viel Kleider haben, müssen sich Unzählige in Lumpen hüllen; weil
zu viel gebaut wird, müssen die Strafrichter tagtäglich einige hundert Personen
wegen Obdachlosigkeit verurteilen; weil zu viel Spielwaren vorhanden sind,
müssen viele tausend Kinder in der Fabrik arbeiten u. s, w. Hat mau, so lange
die Welt steht, etwas Dümmeres und zugleich Komischeres gesehen? Müssen
wir nicht den Bewohnern eines klugem Planeten vorkommen wie eine Herde
Enten, die mit kläglichem Geschrei vor dem jagenden Hunde herwatscheln, an¬
statt links ab in den gleich daneben fließenden Bach zu plumpsen, oder wie
ein Schwarm unverständiger Kinder, die einander in dein engen Zugang zu
einem reichbesetzten Büffet zu Tode drücken? Wahrhaftig, wenn dieses Phantom
der Überproduktion nicht eine ganze Welt von Trauerspielen, von Schrecken
und Elend einschlösse, man müßte sich darüber totlachen. Daß die Menschen
vor tausend Jahren nach einer Mißernte Hungers starben, weil sie eben weder
daheim Korn noch die Mittel hatten, sich welches von außerhalb zu verschaffe"?,
versteht jedermann; aber daß der Reichtum der Gesamtheit den Einzelnen zum
darben verurteilen, und daß diese Verkehrtheit ein unantastbarer Jdealzustand
sein soll, das verstehe, wer da will! Das letzte Wort der Volkswirtschaft, sagt
Nodbertus, wird doch wohl nicht: Arbeite und entbehre! sein, sondern: Arbeite
und genieße!

Wenn wir den ängstlich behüteten gegenwärtigen Zustand mit einigen
flüchtigen Linien zeichnen, so geschieht das natürlich nicht, um gegen daS
Kapital zu Hetzen. Auch der Verfasser dieser Zeilen besitzt einen kleinen Spar¬
pfennig und strebt ihn zu vergrößern; selbst der verbissenste Sozialdemokrat
sehnt sich nach einem Kapitälchen, und kein vernünftiger Mensch denkt daran,
die Besitzer großer Kapitalien für den gegenwärtigen Zustand verantwortlich
zu machen, der im Laufe der Jahrhunderte auf ganz natürlichem Wege ent¬
standen ist, und an dessen Herbeiführung und Aufrechterhaltung die Kleinen
ebenso eifrig gearbeitet haben wie die Großen, beide unbewußt. Wir zeichnen
diesen Zustand in derselben Meinung, wie ein kranker Arzt an seinem eignen
Leibe die Diagnose übt.

Bei der herrschenden "kapitalistischen" Betriebsweise gelangt fast kein
Arbeitender in den vollen Besitz seines Arbeitsertrages. Ein Teil davon wird
ihm in Gestalt von Kapitalzins und Bodenrenke vorenthalten. "Bei jedem
Mittag- und Abendessen -- sagte neulich eine Bauersfrau -- ißt unser
Hypothekengläubiger mit aus unsrer Schüssel." Von allen den verschiednen
Besitzern, die ihr sogenanntes Kapital zur Produktion eines Gegenstandes her¬
geben, zieht sich auf den verschiednen Prodnktionsstnfen (Kvrnbau, Kornhandel,
Mutterei, Bäckerei; Waldwirtschaft, Holzhandel, Brettsäge, Tischlerei) jeder


Die soziale Frage

deutet: Weil wir zu viel Brot und Fleisch haben, darum müssen viele
Millionen Menschen hungern; weil wir zu viel Schuhe haben, müssen die
Ärmeren im Winter barfuß oder in zerrissenem und geflickten Schuhwerk gehen;
weil wir zu viel Kleider haben, müssen sich Unzählige in Lumpen hüllen; weil
zu viel gebaut wird, müssen die Strafrichter tagtäglich einige hundert Personen
wegen Obdachlosigkeit verurteilen; weil zu viel Spielwaren vorhanden sind,
müssen viele tausend Kinder in der Fabrik arbeiten u. s, w. Hat mau, so lange
die Welt steht, etwas Dümmeres und zugleich Komischeres gesehen? Müssen
wir nicht den Bewohnern eines klugem Planeten vorkommen wie eine Herde
Enten, die mit kläglichem Geschrei vor dem jagenden Hunde herwatscheln, an¬
statt links ab in den gleich daneben fließenden Bach zu plumpsen, oder wie
ein Schwarm unverständiger Kinder, die einander in dein engen Zugang zu
einem reichbesetzten Büffet zu Tode drücken? Wahrhaftig, wenn dieses Phantom
der Überproduktion nicht eine ganze Welt von Trauerspielen, von Schrecken
und Elend einschlösse, man müßte sich darüber totlachen. Daß die Menschen
vor tausend Jahren nach einer Mißernte Hungers starben, weil sie eben weder
daheim Korn noch die Mittel hatten, sich welches von außerhalb zu verschaffe«?,
versteht jedermann; aber daß der Reichtum der Gesamtheit den Einzelnen zum
darben verurteilen, und daß diese Verkehrtheit ein unantastbarer Jdealzustand
sein soll, das verstehe, wer da will! Das letzte Wort der Volkswirtschaft, sagt
Nodbertus, wird doch wohl nicht: Arbeite und entbehre! sein, sondern: Arbeite
und genieße!

Wenn wir den ängstlich behüteten gegenwärtigen Zustand mit einigen
flüchtigen Linien zeichnen, so geschieht das natürlich nicht, um gegen daS
Kapital zu Hetzen. Auch der Verfasser dieser Zeilen besitzt einen kleinen Spar¬
pfennig und strebt ihn zu vergrößern; selbst der verbissenste Sozialdemokrat
sehnt sich nach einem Kapitälchen, und kein vernünftiger Mensch denkt daran,
die Besitzer großer Kapitalien für den gegenwärtigen Zustand verantwortlich
zu machen, der im Laufe der Jahrhunderte auf ganz natürlichem Wege ent¬
standen ist, und an dessen Herbeiführung und Aufrechterhaltung die Kleinen
ebenso eifrig gearbeitet haben wie die Großen, beide unbewußt. Wir zeichnen
diesen Zustand in derselben Meinung, wie ein kranker Arzt an seinem eignen
Leibe die Diagnose übt.

Bei der herrschenden „kapitalistischen" Betriebsweise gelangt fast kein
Arbeitender in den vollen Besitz seines Arbeitsertrages. Ein Teil davon wird
ihm in Gestalt von Kapitalzins und Bodenrenke vorenthalten. „Bei jedem
Mittag- und Abendessen — sagte neulich eine Bauersfrau — ißt unser
Hypothekengläubiger mit aus unsrer Schüssel." Von allen den verschiednen
Besitzern, die ihr sogenanntes Kapital zur Produktion eines Gegenstandes her¬
geben, zieht sich auf den verschiednen Prodnktionsstnfen (Kvrnbau, Kornhandel,
Mutterei, Bäckerei; Waldwirtschaft, Holzhandel, Brettsäge, Tischlerei) jeder


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[0556] Die soziale Frage deutet: Weil wir zu viel Brot und Fleisch haben, darum müssen viele Millionen Menschen hungern; weil wir zu viel Schuhe haben, müssen die Ärmeren im Winter barfuß oder in zerrissenem und geflickten Schuhwerk gehen; weil wir zu viel Kleider haben, müssen sich Unzählige in Lumpen hüllen; weil zu viel gebaut wird, müssen die Strafrichter tagtäglich einige hundert Personen wegen Obdachlosigkeit verurteilen; weil zu viel Spielwaren vorhanden sind, müssen viele tausend Kinder in der Fabrik arbeiten u. s, w. Hat mau, so lange die Welt steht, etwas Dümmeres und zugleich Komischeres gesehen? Müssen wir nicht den Bewohnern eines klugem Planeten vorkommen wie eine Herde Enten, die mit kläglichem Geschrei vor dem jagenden Hunde herwatscheln, an¬ statt links ab in den gleich daneben fließenden Bach zu plumpsen, oder wie ein Schwarm unverständiger Kinder, die einander in dein engen Zugang zu einem reichbesetzten Büffet zu Tode drücken? Wahrhaftig, wenn dieses Phantom der Überproduktion nicht eine ganze Welt von Trauerspielen, von Schrecken und Elend einschlösse, man müßte sich darüber totlachen. Daß die Menschen vor tausend Jahren nach einer Mißernte Hungers starben, weil sie eben weder daheim Korn noch die Mittel hatten, sich welches von außerhalb zu verschaffe«?, versteht jedermann; aber daß der Reichtum der Gesamtheit den Einzelnen zum darben verurteilen, und daß diese Verkehrtheit ein unantastbarer Jdealzustand sein soll, das verstehe, wer da will! Das letzte Wort der Volkswirtschaft, sagt Nodbertus, wird doch wohl nicht: Arbeite und entbehre! sein, sondern: Arbeite und genieße! Wenn wir den ängstlich behüteten gegenwärtigen Zustand mit einigen flüchtigen Linien zeichnen, so geschieht das natürlich nicht, um gegen daS Kapital zu Hetzen. Auch der Verfasser dieser Zeilen besitzt einen kleinen Spar¬ pfennig und strebt ihn zu vergrößern; selbst der verbissenste Sozialdemokrat sehnt sich nach einem Kapitälchen, und kein vernünftiger Mensch denkt daran, die Besitzer großer Kapitalien für den gegenwärtigen Zustand verantwortlich zu machen, der im Laufe der Jahrhunderte auf ganz natürlichem Wege ent¬ standen ist, und an dessen Herbeiführung und Aufrechterhaltung die Kleinen ebenso eifrig gearbeitet haben wie die Großen, beide unbewußt. Wir zeichnen diesen Zustand in derselben Meinung, wie ein kranker Arzt an seinem eignen Leibe die Diagnose übt. Bei der herrschenden „kapitalistischen" Betriebsweise gelangt fast kein Arbeitender in den vollen Besitz seines Arbeitsertrages. Ein Teil davon wird ihm in Gestalt von Kapitalzins und Bodenrenke vorenthalten. „Bei jedem Mittag- und Abendessen — sagte neulich eine Bauersfrau — ißt unser Hypothekengläubiger mit aus unsrer Schüssel." Von allen den verschiednen Besitzern, die ihr sogenanntes Kapital zur Produktion eines Gegenstandes her¬ geben, zieht sich auf den verschiednen Prodnktionsstnfen (Kvrnbau, Kornhandel, Mutterei, Bäckerei; Waldwirtschaft, Holzhandel, Brettsäge, Tischlerei) jeder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/556>, abgerufen am 29.06.2024.