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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

da findet man eher sein Brot als in der Einöde. Wohl; aber das Brot ist
auch meistens darnach! Wie weit haben wir uns doch entfernt von jenem
Zustande unsrer Vorfahren, wo die geschlossene Markgenossenschaft nichts von
dem, was ihre Feldmark erzeugte, über deren Grenzen hinausließ, damit keinem
der Genossen seine Nahrung entzogen oder geschmälert würde, und wo der
Staatsbeamte das Ackerstück kannte, auf dem sein Brot wuchs, und den Wein-
stock, der ihm seinen täglichen Tischtrunk spendete! Er konnte nicht aufrecht¬
erhalten werden, dieser natürliche Zustand; in solcher Gebundenheit an den
Boden hätte sich unsre höhere Kultur nicht entfalten können. Nur muß man
sich nicht einbilden, daß die Menschheit jemals von ihrem Mutterboden abgelöst
werden könne, und daß Daseiusunsicherheit der Mehrzahl ein Jdealzustand sei.

Etwas mehr Berechtigung Hütte der Einwand, daß doch auch bei uns
noch nicht alles Land urbar gemacht und das urbar gemachte noch nicht im
höchsten Grade ausgenützt sei. Und in der That, wenn es sich bloß um die
leibliche Ernährung handelte, die könnte vielleicht selbst für hundert Millionen
Bewohner noch ohne Beihilfe des Auslandes bestritten werden. Noch sind nicht
alle Moore trocken gelegt, nicht alle Berge bis auf den Gipfel gepflügt; noch
gestatten wir uns hie und da die Naumverschwendung natürlich geschlüngelter
Flußläufe mit regellos verstreuten Ufergebüsch, in dem gefiederte und uuge-
fiederte Paare Versteckens spielen können; noch sieht mau weidende Kühe und
spielende Kinder das kostbare Gras zertreten; noch dulden wir den Luxus be-
blümter Wiesen, während steife Fnttergräser zwar keine bunten Blüten tragen,
dafür aber, wie die Ackerbnuchemie lehrt, mehr Nährstoff enthalten; noch giebt
es Wälder bei uns, und noch lassen wir mit unverzeihlichem Leichtsinn so
manchen Spaziergänger ungestraft, der ein Waldblümchen pflückt, und manches
arme alte Weib und manches Kind, die Pilze und Beeren herausholen und
so die ökonomisch allein zulässige "bestmöglichste" Verwertung der Wald¬
produkte beeinträchtigen. Ja wir haben noch nicht einmal den Hirsch, das
Reh und den Hasen ganz ausgerottet, die des Bauern Saat abfressen, da wir
doch den Abgang des Wildfleisches sehr gut durch die dem Chinesen so teuern
Rattenbraten und Uugezieferragouts ersetzen könnten; wir nützen das Land noch
nicht gartenmäßig ans, wir sind, kurz gesagt, immer noch heillose Verschwender.
Allein es ist nicht gut bestellt um einen Haushalt, der seine letzten Reserven
angegriffen hat, und daun -- der Leser verzeihe, daß wir auf diesen wichtigen
Punkt nochmals zurückkommen ^ Nur können die Natur nicht entbehren. Wer
sich niemals auf freier Bergeshöhe oder im weiten Vrachfelde ergehen und
tummeln, das Treiben der Tiere und den Gesang der Vögel im Walde be¬
lauschen, die ungestörte Ruhe der Waldeinsamkeit genießen, dein Spiel der
Wellen zusehen und es mitspielen darf, der ist kein ganzer Mensch mehr, und
mit dem letzten Reste der Jagd würde der letzte Zug des ursprünglichen dent-
schen Volkscharakters verschwinden.


Die soziale Frage

da findet man eher sein Brot als in der Einöde. Wohl; aber das Brot ist
auch meistens darnach! Wie weit haben wir uns doch entfernt von jenem
Zustande unsrer Vorfahren, wo die geschlossene Markgenossenschaft nichts von
dem, was ihre Feldmark erzeugte, über deren Grenzen hinausließ, damit keinem
der Genossen seine Nahrung entzogen oder geschmälert würde, und wo der
Staatsbeamte das Ackerstück kannte, auf dem sein Brot wuchs, und den Wein-
stock, der ihm seinen täglichen Tischtrunk spendete! Er konnte nicht aufrecht¬
erhalten werden, dieser natürliche Zustand; in solcher Gebundenheit an den
Boden hätte sich unsre höhere Kultur nicht entfalten können. Nur muß man
sich nicht einbilden, daß die Menschheit jemals von ihrem Mutterboden abgelöst
werden könne, und daß Daseiusunsicherheit der Mehrzahl ein Jdealzustand sei.

Etwas mehr Berechtigung Hütte der Einwand, daß doch auch bei uns
noch nicht alles Land urbar gemacht und das urbar gemachte noch nicht im
höchsten Grade ausgenützt sei. Und in der That, wenn es sich bloß um die
leibliche Ernährung handelte, die könnte vielleicht selbst für hundert Millionen
Bewohner noch ohne Beihilfe des Auslandes bestritten werden. Noch sind nicht
alle Moore trocken gelegt, nicht alle Berge bis auf den Gipfel gepflügt; noch
gestatten wir uns hie und da die Naumverschwendung natürlich geschlüngelter
Flußläufe mit regellos verstreuten Ufergebüsch, in dem gefiederte und uuge-
fiederte Paare Versteckens spielen können; noch sieht mau weidende Kühe und
spielende Kinder das kostbare Gras zertreten; noch dulden wir den Luxus be-
blümter Wiesen, während steife Fnttergräser zwar keine bunten Blüten tragen,
dafür aber, wie die Ackerbnuchemie lehrt, mehr Nährstoff enthalten; noch giebt
es Wälder bei uns, und noch lassen wir mit unverzeihlichem Leichtsinn so
manchen Spaziergänger ungestraft, der ein Waldblümchen pflückt, und manches
arme alte Weib und manches Kind, die Pilze und Beeren herausholen und
so die ökonomisch allein zulässige „bestmöglichste" Verwertung der Wald¬
produkte beeinträchtigen. Ja wir haben noch nicht einmal den Hirsch, das
Reh und den Hasen ganz ausgerottet, die des Bauern Saat abfressen, da wir
doch den Abgang des Wildfleisches sehr gut durch die dem Chinesen so teuern
Rattenbraten und Uugezieferragouts ersetzen könnten; wir nützen das Land noch
nicht gartenmäßig ans, wir sind, kurz gesagt, immer noch heillose Verschwender.
Allein es ist nicht gut bestellt um einen Haushalt, der seine letzten Reserven
angegriffen hat, und daun — der Leser verzeihe, daß wir auf diesen wichtigen
Punkt nochmals zurückkommen ^ Nur können die Natur nicht entbehren. Wer
sich niemals auf freier Bergeshöhe oder im weiten Vrachfelde ergehen und
tummeln, das Treiben der Tiere und den Gesang der Vögel im Walde be¬
lauschen, die ungestörte Ruhe der Waldeinsamkeit genießen, dein Spiel der
Wellen zusehen und es mitspielen darf, der ist kein ganzer Mensch mehr, und
mit dem letzten Reste der Jagd würde der letzte Zug des ursprünglichen dent-
schen Volkscharakters verschwinden.


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[0554] Die soziale Frage da findet man eher sein Brot als in der Einöde. Wohl; aber das Brot ist auch meistens darnach! Wie weit haben wir uns doch entfernt von jenem Zustande unsrer Vorfahren, wo die geschlossene Markgenossenschaft nichts von dem, was ihre Feldmark erzeugte, über deren Grenzen hinausließ, damit keinem der Genossen seine Nahrung entzogen oder geschmälert würde, und wo der Staatsbeamte das Ackerstück kannte, auf dem sein Brot wuchs, und den Wein- stock, der ihm seinen täglichen Tischtrunk spendete! Er konnte nicht aufrecht¬ erhalten werden, dieser natürliche Zustand; in solcher Gebundenheit an den Boden hätte sich unsre höhere Kultur nicht entfalten können. Nur muß man sich nicht einbilden, daß die Menschheit jemals von ihrem Mutterboden abgelöst werden könne, und daß Daseiusunsicherheit der Mehrzahl ein Jdealzustand sei. Etwas mehr Berechtigung Hütte der Einwand, daß doch auch bei uns noch nicht alles Land urbar gemacht und das urbar gemachte noch nicht im höchsten Grade ausgenützt sei. Und in der That, wenn es sich bloß um die leibliche Ernährung handelte, die könnte vielleicht selbst für hundert Millionen Bewohner noch ohne Beihilfe des Auslandes bestritten werden. Noch sind nicht alle Moore trocken gelegt, nicht alle Berge bis auf den Gipfel gepflügt; noch gestatten wir uns hie und da die Naumverschwendung natürlich geschlüngelter Flußläufe mit regellos verstreuten Ufergebüsch, in dem gefiederte und uuge- fiederte Paare Versteckens spielen können; noch sieht mau weidende Kühe und spielende Kinder das kostbare Gras zertreten; noch dulden wir den Luxus be- blümter Wiesen, während steife Fnttergräser zwar keine bunten Blüten tragen, dafür aber, wie die Ackerbnuchemie lehrt, mehr Nährstoff enthalten; noch giebt es Wälder bei uns, und noch lassen wir mit unverzeihlichem Leichtsinn so manchen Spaziergänger ungestraft, der ein Waldblümchen pflückt, und manches arme alte Weib und manches Kind, die Pilze und Beeren herausholen und so die ökonomisch allein zulässige „bestmöglichste" Verwertung der Wald¬ produkte beeinträchtigen. Ja wir haben noch nicht einmal den Hirsch, das Reh und den Hasen ganz ausgerottet, die des Bauern Saat abfressen, da wir doch den Abgang des Wildfleisches sehr gut durch die dem Chinesen so teuern Rattenbraten und Uugezieferragouts ersetzen könnten; wir nützen das Land noch nicht gartenmäßig ans, wir sind, kurz gesagt, immer noch heillose Verschwender. Allein es ist nicht gut bestellt um einen Haushalt, der seine letzten Reserven angegriffen hat, und daun — der Leser verzeihe, daß wir auf diesen wichtigen Punkt nochmals zurückkommen ^ Nur können die Natur nicht entbehren. Wer sich niemals auf freier Bergeshöhe oder im weiten Vrachfelde ergehen und tummeln, das Treiben der Tiere und den Gesang der Vögel im Walde be¬ lauschen, die ungestörte Ruhe der Waldeinsamkeit genießen, dein Spiel der Wellen zusehen und es mitspielen darf, der ist kein ganzer Mensch mehr, und mit dem letzten Reste der Jagd würde der letzte Zug des ursprünglichen dent- schen Volkscharakters verschwinden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/554>, abgerufen am 29.06.2024.