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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Großstaaten, der durch die Bündnispolitik mindestens noch drei andre und
vielleicht ganz Europa ergreifen würde, die gesamte waffenfähige Mannschaft,
die geistige und körperliche Blüte der Kulturvölker, mithin die Kultur selbst
zu Grunde gehen könnte. Bei solchem Einsatz kann um kleine Interessen über¬
haupt kein Krieg mehr geführt werden. Wenn eine der europäischen Regie¬
rungen die ungeheure Verantwortung für einen solchen Krieg auf sich nehmen
sollte, so müßte sich ihre Nation in einer verzweifelten Lage befinden, aus der
es keine Rettung mehr gäbe, als einen -- Vertilgungskrieg. Diese Lage könnte
herbeigeführt werden durch steigende Übervölkerung. Aber die Regierung des
Landes, das zuerst in diese traurige Lage käme, würde überlegen, daß die An¬
wendung dieses äußersten Mittels nicht bloß ein ungeheures Wagnis und ein
ungeheurer Frevel, sondern auch so lange eine große Thorheit wäre, als noch
auf Jahrhunderte hinaus anbaufähiges und unbesetztes Land vorhanden ist.
Diese Regierung würde die andern Regierungen zu gemeinsamen Schritten ein¬
laden zur friedlichen Teilung der uoch unbenützten Flächen in jenen südameri¬
kanischen Staaten, die kaum in höherm Grade den Namen von Staaten ver¬
dienen, als die Sultanate von Wien und Sansibar. Welche Aufgabe für die
Diplomatie! Für uns Deutsche giebt es uoch eine näher liegende. Eine sehr
rusfeufreundliche deutsche Zeitung warf einmal gelegentlich die Bemerkung hin,
daß es nicht zwei Länder in Europa giebt, die so auf einander angewiesen
wären, wie Deutschland und Nußland. Sehr richtig! Nußland hat gerade
das in Fülle, was uns fehlt: fruchtbaren Boden und billige Arbeitskräfte,
und wir besitzen überschüssige Intelligenz und manche andre schätzbare Dinge,
die den Nüssen fehlen. Welches Glück wäre es für beide Völker, wenn jener
friedliche Austausch der beiderseitigen Güter wieder hergestellt würde, der bis
vor wenigen Jahren zum Heile beider so schön im Gange war! Wie würde
unsre Industrie aufatmen, wenn die Grenzsperre fiele, und wie einfach würde
sich der Streit zwischeu russischem und deutschem Roggen schlichten, wenn die
überzähligen Gutsbesitzersöhue hinübergingen, um dort ohne große Belastung
des väterlichen Gutes um billiges Geld Acker zu kaufen oder zu pachten und
den russischen Roggen an Ort und Stelle zu verzehren! (Die Ansiedluugsgüter
in Posen und Westpreußen sind für den ersten der beiden angedeuteten Zwecke
zu teuer und erfüllen den zweiten gar nicht.)

Da wir mit unserm Traume in deu Osten geraten sind, so wollen wir
doch noch der Einwendung vorbeugen, unsre Erörterungen und Phantasien
seien höchst überflüssig und geradezu gegenstandslos, da ja die fortschreitende
Entvölkerung der östlichen Provinzen des preußischen Staates beweise, daß uns
nicht Übervölkerung, sondern vielmehr das Gegenteil bedrohe. Nimmt doch
die Einwohnerzahl der Provinz Pommern von Jahr zu Jahr ab. Nun, diese
Entvölkerung des Ostens ist weiter nichts als die Wirkung der be^amender
Übervölkerung. Auf besserem Boden können von vornherein mehr Menschen


Großstaaten, der durch die Bündnispolitik mindestens noch drei andre und
vielleicht ganz Europa ergreifen würde, die gesamte waffenfähige Mannschaft,
die geistige und körperliche Blüte der Kulturvölker, mithin die Kultur selbst
zu Grunde gehen könnte. Bei solchem Einsatz kann um kleine Interessen über¬
haupt kein Krieg mehr geführt werden. Wenn eine der europäischen Regie¬
rungen die ungeheure Verantwortung für einen solchen Krieg auf sich nehmen
sollte, so müßte sich ihre Nation in einer verzweifelten Lage befinden, aus der
es keine Rettung mehr gäbe, als einen — Vertilgungskrieg. Diese Lage könnte
herbeigeführt werden durch steigende Übervölkerung. Aber die Regierung des
Landes, das zuerst in diese traurige Lage käme, würde überlegen, daß die An¬
wendung dieses äußersten Mittels nicht bloß ein ungeheures Wagnis und ein
ungeheurer Frevel, sondern auch so lange eine große Thorheit wäre, als noch
auf Jahrhunderte hinaus anbaufähiges und unbesetztes Land vorhanden ist.
Diese Regierung würde die andern Regierungen zu gemeinsamen Schritten ein¬
laden zur friedlichen Teilung der uoch unbenützten Flächen in jenen südameri¬
kanischen Staaten, die kaum in höherm Grade den Namen von Staaten ver¬
dienen, als die Sultanate von Wien und Sansibar. Welche Aufgabe für die
Diplomatie! Für uns Deutsche giebt es uoch eine näher liegende. Eine sehr
rusfeufreundliche deutsche Zeitung warf einmal gelegentlich die Bemerkung hin,
daß es nicht zwei Länder in Europa giebt, die so auf einander angewiesen
wären, wie Deutschland und Nußland. Sehr richtig! Nußland hat gerade
das in Fülle, was uns fehlt: fruchtbaren Boden und billige Arbeitskräfte,
und wir besitzen überschüssige Intelligenz und manche andre schätzbare Dinge,
die den Nüssen fehlen. Welches Glück wäre es für beide Völker, wenn jener
friedliche Austausch der beiderseitigen Güter wieder hergestellt würde, der bis
vor wenigen Jahren zum Heile beider so schön im Gange war! Wie würde
unsre Industrie aufatmen, wenn die Grenzsperre fiele, und wie einfach würde
sich der Streit zwischeu russischem und deutschem Roggen schlichten, wenn die
überzähligen Gutsbesitzersöhue hinübergingen, um dort ohne große Belastung
des väterlichen Gutes um billiges Geld Acker zu kaufen oder zu pachten und
den russischen Roggen an Ort und Stelle zu verzehren! (Die Ansiedluugsgüter
in Posen und Westpreußen sind für den ersten der beiden angedeuteten Zwecke
zu teuer und erfüllen den zweiten gar nicht.)

Da wir mit unserm Traume in deu Osten geraten sind, so wollen wir
doch noch der Einwendung vorbeugen, unsre Erörterungen und Phantasien
seien höchst überflüssig und geradezu gegenstandslos, da ja die fortschreitende
Entvölkerung der östlichen Provinzen des preußischen Staates beweise, daß uns
nicht Übervölkerung, sondern vielmehr das Gegenteil bedrohe. Nimmt doch
die Einwohnerzahl der Provinz Pommern von Jahr zu Jahr ab. Nun, diese
Entvölkerung des Ostens ist weiter nichts als die Wirkung der be^amender
Übervölkerung. Auf besserem Boden können von vornherein mehr Menschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/552>, abgerufen am 28.12.2024.