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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

Produziren, ist ihnen ganz gleichgiltig. Und wenn bei der internationalen
Arbeitsteilung unserm Volke die Aufgabe zufiele, die Menschheit mit Strümpfen
zu versorgen und ganz Deutschland eine ungeheure Strumpffabrik würde, die
ihr Brvtkorn aus Amerika bezöge, so würden sie dabei nichts zu beklagen
finden. Daß die Landwirtschaft, die Eisen- und Holzverarbeitnng nicht bloß
ihrer Produkte wegen nötig sind, sondern auch der gesunden starken Menschen
wegen, die bei diesen Beschäftigungen gedeihen, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Derselben Gedankenlosigkeit entspringt der Rat, den sie den Landwirten erteilen,
die unrentable Kvruerproduktion aufzugeben und sich auf die lohnendere Fleisch-
Produktion zu verlegen. Daß bei solcher Umwandlung je hundert gebildete
Bauern- oder Pächterfamilieu zehn rohen Cowboys Platz machen müßten, über¬
legen sie nicht; wie in England und Schottland die Menschen von den Schafen
gefressen worden sind, scheinen sie uicht gelesen zu haben. Es giebt anch
Fabrikanten -- nach ihrer Parteizugehörigkeit wollen Nur nicht forschen --, die
ein persönliches Interesse daran haben, einen Notstand aufrecht zu erhalten,
dem durch erfolgreiche Kolonisation gesteuert werden könnte. Manche Expvrt-
industrien beruhen nämlich auf Huugerlöhueu, und nur Hungerlohu arbeitet
niemand, fo lange hinreichend Vrot im Lande ist. Man weiß ja, daß gewisse
Exportfirmen Berlins ihre Arbeiterinnen ganz unverblümt auf den bekannten
traurigen Nebenverdienst anweisen.

Also den Blick nach außen zu richten, ist Pflicht. Wie zu verfahren sei,
welche Aufgabe dabei deu Privatunternehmern, welche den: Staate zufalle,
untersuchen Nur uicht; was wir von Ostafrika zu erwarten berechtigt siud, das
wissen wir nicht; und ob nicht das herrliche und geräumige Siidbrasilien
größerer Aufmerksamkeit wert wäre als bisher, das zu erwägen überlassen wir
den Landeskundigen. Freilich könnten Kolonisationsversuche in Amerika, die
über den Nahmen vereinzelter Privatunternehmungen hinausgingen, ein Quell
schwieriger politischer Verwicklungen werden. Allein -- wofür haben wir denn
Diplomaten?

Man gestatte uns einen Zukunftstraum. Die alten Kulturvölker führten
Kriege zur Gründung von Weltmonarchien, die alten Germanen zur Eroberung
von Wohnstätten für ihren überquellenden Nachwuchs, im Mittelalter wechselten
die Fehden der kleinen Grundherren lind der Städte mit Kämpfen für ideale
Zwecke: Weltherrschaft des Kaisers und des Papstes, Eroberung des heiligen
Landes, Ausrottung der Ungläubigen und der Ketzer. Dann folgten die
dynastischen und die Konfessionskriege, dann die Napoleonischen und die Be¬
freiungskriege, endlich neben Kriegen für die Nenbegründung der Napoleonischen
Dynastie und um die Herrschaft in Asien die Kämpfe der staatlich noch un¬
fertigen Nationen für ihre Selbständigkeit. Dabei ist man allmählich fast
überall zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gelangt und zu einer solchen
Vervollkommnung der Mordwerkzeuge, daß in einem Kriege zwischen zwei


Die soziale Frage

Produziren, ist ihnen ganz gleichgiltig. Und wenn bei der internationalen
Arbeitsteilung unserm Volke die Aufgabe zufiele, die Menschheit mit Strümpfen
zu versorgen und ganz Deutschland eine ungeheure Strumpffabrik würde, die
ihr Brvtkorn aus Amerika bezöge, so würden sie dabei nichts zu beklagen
finden. Daß die Landwirtschaft, die Eisen- und Holzverarbeitnng nicht bloß
ihrer Produkte wegen nötig sind, sondern auch der gesunden starken Menschen
wegen, die bei diesen Beschäftigungen gedeihen, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Derselben Gedankenlosigkeit entspringt der Rat, den sie den Landwirten erteilen,
die unrentable Kvruerproduktion aufzugeben und sich auf die lohnendere Fleisch-
Produktion zu verlegen. Daß bei solcher Umwandlung je hundert gebildete
Bauern- oder Pächterfamilieu zehn rohen Cowboys Platz machen müßten, über¬
legen sie nicht; wie in England und Schottland die Menschen von den Schafen
gefressen worden sind, scheinen sie uicht gelesen zu haben. Es giebt anch
Fabrikanten — nach ihrer Parteizugehörigkeit wollen Nur nicht forschen —, die
ein persönliches Interesse daran haben, einen Notstand aufrecht zu erhalten,
dem durch erfolgreiche Kolonisation gesteuert werden könnte. Manche Expvrt-
industrien beruhen nämlich auf Huugerlöhueu, und nur Hungerlohu arbeitet
niemand, fo lange hinreichend Vrot im Lande ist. Man weiß ja, daß gewisse
Exportfirmen Berlins ihre Arbeiterinnen ganz unverblümt auf den bekannten
traurigen Nebenverdienst anweisen.

Also den Blick nach außen zu richten, ist Pflicht. Wie zu verfahren sei,
welche Aufgabe dabei deu Privatunternehmern, welche den: Staate zufalle,
untersuchen Nur uicht; was wir von Ostafrika zu erwarten berechtigt siud, das
wissen wir nicht; und ob nicht das herrliche und geräumige Siidbrasilien
größerer Aufmerksamkeit wert wäre als bisher, das zu erwägen überlassen wir
den Landeskundigen. Freilich könnten Kolonisationsversuche in Amerika, die
über den Nahmen vereinzelter Privatunternehmungen hinausgingen, ein Quell
schwieriger politischer Verwicklungen werden. Allein — wofür haben wir denn
Diplomaten?

Man gestatte uns einen Zukunftstraum. Die alten Kulturvölker führten
Kriege zur Gründung von Weltmonarchien, die alten Germanen zur Eroberung
von Wohnstätten für ihren überquellenden Nachwuchs, im Mittelalter wechselten
die Fehden der kleinen Grundherren lind der Städte mit Kämpfen für ideale
Zwecke: Weltherrschaft des Kaisers und des Papstes, Eroberung des heiligen
Landes, Ausrottung der Ungläubigen und der Ketzer. Dann folgten die
dynastischen und die Konfessionskriege, dann die Napoleonischen und die Be¬
freiungskriege, endlich neben Kriegen für die Nenbegründung der Napoleonischen
Dynastie und um die Herrschaft in Asien die Kämpfe der staatlich noch un¬
fertigen Nationen für ihre Selbständigkeit. Dabei ist man allmählich fast
überall zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gelangt und zu einer solchen
Vervollkommnung der Mordwerkzeuge, daß in einem Kriege zwischen zwei


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[0551] Die soziale Frage Produziren, ist ihnen ganz gleichgiltig. Und wenn bei der internationalen Arbeitsteilung unserm Volke die Aufgabe zufiele, die Menschheit mit Strümpfen zu versorgen und ganz Deutschland eine ungeheure Strumpffabrik würde, die ihr Brvtkorn aus Amerika bezöge, so würden sie dabei nichts zu beklagen finden. Daß die Landwirtschaft, die Eisen- und Holzverarbeitnng nicht bloß ihrer Produkte wegen nötig sind, sondern auch der gesunden starken Menschen wegen, die bei diesen Beschäftigungen gedeihen, kommt ihnen nicht in den Sinn. Derselben Gedankenlosigkeit entspringt der Rat, den sie den Landwirten erteilen, die unrentable Kvruerproduktion aufzugeben und sich auf die lohnendere Fleisch- Produktion zu verlegen. Daß bei solcher Umwandlung je hundert gebildete Bauern- oder Pächterfamilieu zehn rohen Cowboys Platz machen müßten, über¬ legen sie nicht; wie in England und Schottland die Menschen von den Schafen gefressen worden sind, scheinen sie uicht gelesen zu haben. Es giebt anch Fabrikanten — nach ihrer Parteizugehörigkeit wollen Nur nicht forschen —, die ein persönliches Interesse daran haben, einen Notstand aufrecht zu erhalten, dem durch erfolgreiche Kolonisation gesteuert werden könnte. Manche Expvrt- industrien beruhen nämlich auf Huugerlöhueu, und nur Hungerlohu arbeitet niemand, fo lange hinreichend Vrot im Lande ist. Man weiß ja, daß gewisse Exportfirmen Berlins ihre Arbeiterinnen ganz unverblümt auf den bekannten traurigen Nebenverdienst anweisen. Also den Blick nach außen zu richten, ist Pflicht. Wie zu verfahren sei, welche Aufgabe dabei deu Privatunternehmern, welche den: Staate zufalle, untersuchen Nur uicht; was wir von Ostafrika zu erwarten berechtigt siud, das wissen wir nicht; und ob nicht das herrliche und geräumige Siidbrasilien größerer Aufmerksamkeit wert wäre als bisher, das zu erwägen überlassen wir den Landeskundigen. Freilich könnten Kolonisationsversuche in Amerika, die über den Nahmen vereinzelter Privatunternehmungen hinausgingen, ein Quell schwieriger politischer Verwicklungen werden. Allein — wofür haben wir denn Diplomaten? Man gestatte uns einen Zukunftstraum. Die alten Kulturvölker führten Kriege zur Gründung von Weltmonarchien, die alten Germanen zur Eroberung von Wohnstätten für ihren überquellenden Nachwuchs, im Mittelalter wechselten die Fehden der kleinen Grundherren lind der Städte mit Kämpfen für ideale Zwecke: Weltherrschaft des Kaisers und des Papstes, Eroberung des heiligen Landes, Ausrottung der Ungläubigen und der Ketzer. Dann folgten die dynastischen und die Konfessionskriege, dann die Napoleonischen und die Be¬ freiungskriege, endlich neben Kriegen für die Nenbegründung der Napoleonischen Dynastie und um die Herrschaft in Asien die Kämpfe der staatlich noch un¬ fertigen Nationen für ihre Selbständigkeit. Dabei ist man allmählich fast überall zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gelangt und zu einer solchen Vervollkommnung der Mordwerkzeuge, daß in einem Kriege zwischen zwei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/551>, abgerufen am 22.07.2024.