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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

aufgewendete Kapital wenigstens den Kindern Zinsen bringt. Streng ge¬
nommen kann auch in diesem Sinne von Zinsen nicht die Rede sein, denn
von dem, was die kostspielig erzogenen Kinder spater um Gehalt oder Geschäfts¬
gewinn beziehen, müssen sie sich ja jeden Pfennig selbst verdienen.

Es folgt eine vierte Stufe, der Zustand zweifelloser Übervölkerung: wo
schon die Kinder scheel blicken, wenn ihnen noch ein Geschwister geboren wird;
wo jede Erbteilung einen Giftstrom von Haß und Zwietracht und Prozessen,
nicht selten auch Verbrechen erzeugt; wo die greisen Eltern als Auszügler von
ihren Kindern mißhandelt werden; wo täglich in Aborten, in Schränken, im
Bettstroh, im Wasser Kinderleichen gefunden werden; wo die Mädchen massenhaft
teils einem hysterischen Altjungferntum, teils der Prostitution verfallen, die
jungen Männer aber teils infolge mangelnder, teils durch ungehörige Befriedigung
des Geschlechtstriebes ihren Lebensmut und ihre Frische einbüßen. Die Religion
kann diesen Zustand je nach der Geschicklichkeit ihrer Diener und der Gemüts¬
anlage des Volkes entweder durch Trost und Stärkung der sittlichen Kraft
erträglicher machen oder durch Gewissensaunlen verschärfen; die Staatsgewalt
kann, unterstützt durch die Umgangsformen und die äußerliche Selbstbeherrschung
einer höhern Zivilisation, seine widerlichen Erscheinungen aus der Öffentlichkeit
zurückdrängen und den Augen Fernstehender entziehen; zweckmäßige Erziehung
und stramme Beschäftigung können, unterstützt durch allerlei Einrichtungen des
Staates, den Ausdruck) der zuletzt erwähnten Übel bei den jungen Leuten um
einige Jahre verschieben, aber ihn ändern oder beseitigen, das können diese sitt¬
lichen Mächte nicht, das dürfen sie auch gar nicht können, weil, wenn die
Kraft heroischer Verzichtleistung auf Besitz und Lebensgenuß Gemeingut aller
Menschen würde, ein früher und kinderloser Tod aller Erwachsenen der ganzen
Menschheit und damit allerdings auch allem sozialen und sonstigen Elend ein
Ende machen würde.

Wir überlassen es dem Leser, nach seiner persönlichen Erfahrung und mit
dem jedermann zugänglichen Zahlen- und Thatsachenmaterial zu entscheiden,
auf welchen der geschilderten Stufen die einzelnen Länder Europas gegenwärtig
stehen oder welchen sie sich nähern, und bemerken nur, daß es auch noch eine
fünfte giebt, auf der sich die bevölkertsten Provinzen Chinas schon seit langer
Zeit befinden, jene Stufe, wo sich keine seelische Empfindung, keine Gewissens¬
regung mehr gegen unwürdige Lagen, lasterhafte Gewohnheiten und ver¬
brecherische Thaten auflehnt; wo im hündischen Balgen um ekle Nahrung, die
wan auch ans dein Schmutz der Gosse herauszuklauben sich nicht scheut, alles
Ehrgefühl verloren gegangen ist, wo Kindermord, Kinderanssetzung und laster¬
hafte Gewohnheiten Bolkssitte geworden sind, und wo das Leben keinen Wert
mehr hat.

Je nach der größern oder geringern Fruchtbarkeit eines Landes tritt die
Übervölkerung später oder früher ein. Da bei uns in Deutschland ein reget-


Die soziale Frage

aufgewendete Kapital wenigstens den Kindern Zinsen bringt. Streng ge¬
nommen kann auch in diesem Sinne von Zinsen nicht die Rede sein, denn
von dem, was die kostspielig erzogenen Kinder spater um Gehalt oder Geschäfts¬
gewinn beziehen, müssen sie sich ja jeden Pfennig selbst verdienen.

Es folgt eine vierte Stufe, der Zustand zweifelloser Übervölkerung: wo
schon die Kinder scheel blicken, wenn ihnen noch ein Geschwister geboren wird;
wo jede Erbteilung einen Giftstrom von Haß und Zwietracht und Prozessen,
nicht selten auch Verbrechen erzeugt; wo die greisen Eltern als Auszügler von
ihren Kindern mißhandelt werden; wo täglich in Aborten, in Schränken, im
Bettstroh, im Wasser Kinderleichen gefunden werden; wo die Mädchen massenhaft
teils einem hysterischen Altjungferntum, teils der Prostitution verfallen, die
jungen Männer aber teils infolge mangelnder, teils durch ungehörige Befriedigung
des Geschlechtstriebes ihren Lebensmut und ihre Frische einbüßen. Die Religion
kann diesen Zustand je nach der Geschicklichkeit ihrer Diener und der Gemüts¬
anlage des Volkes entweder durch Trost und Stärkung der sittlichen Kraft
erträglicher machen oder durch Gewissensaunlen verschärfen; die Staatsgewalt
kann, unterstützt durch die Umgangsformen und die äußerliche Selbstbeherrschung
einer höhern Zivilisation, seine widerlichen Erscheinungen aus der Öffentlichkeit
zurückdrängen und den Augen Fernstehender entziehen; zweckmäßige Erziehung
und stramme Beschäftigung können, unterstützt durch allerlei Einrichtungen des
Staates, den Ausdruck) der zuletzt erwähnten Übel bei den jungen Leuten um
einige Jahre verschieben, aber ihn ändern oder beseitigen, das können diese sitt¬
lichen Mächte nicht, das dürfen sie auch gar nicht können, weil, wenn die
Kraft heroischer Verzichtleistung auf Besitz und Lebensgenuß Gemeingut aller
Menschen würde, ein früher und kinderloser Tod aller Erwachsenen der ganzen
Menschheit und damit allerdings auch allem sozialen und sonstigen Elend ein
Ende machen würde.

Wir überlassen es dem Leser, nach seiner persönlichen Erfahrung und mit
dem jedermann zugänglichen Zahlen- und Thatsachenmaterial zu entscheiden,
auf welchen der geschilderten Stufen die einzelnen Länder Europas gegenwärtig
stehen oder welchen sie sich nähern, und bemerken nur, daß es auch noch eine
fünfte giebt, auf der sich die bevölkertsten Provinzen Chinas schon seit langer
Zeit befinden, jene Stufe, wo sich keine seelische Empfindung, keine Gewissens¬
regung mehr gegen unwürdige Lagen, lasterhafte Gewohnheiten und ver¬
brecherische Thaten auflehnt; wo im hündischen Balgen um ekle Nahrung, die
wan auch ans dein Schmutz der Gosse herauszuklauben sich nicht scheut, alles
Ehrgefühl verloren gegangen ist, wo Kindermord, Kinderanssetzung und laster¬
hafte Gewohnheiten Bolkssitte geworden sind, und wo das Leben keinen Wert
mehr hat.

Je nach der größern oder geringern Fruchtbarkeit eines Landes tritt die
Übervölkerung später oder früher ein. Da bei uns in Deutschland ein reget-


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[0547] Die soziale Frage aufgewendete Kapital wenigstens den Kindern Zinsen bringt. Streng ge¬ nommen kann auch in diesem Sinne von Zinsen nicht die Rede sein, denn von dem, was die kostspielig erzogenen Kinder spater um Gehalt oder Geschäfts¬ gewinn beziehen, müssen sie sich ja jeden Pfennig selbst verdienen. Es folgt eine vierte Stufe, der Zustand zweifelloser Übervölkerung: wo schon die Kinder scheel blicken, wenn ihnen noch ein Geschwister geboren wird; wo jede Erbteilung einen Giftstrom von Haß und Zwietracht und Prozessen, nicht selten auch Verbrechen erzeugt; wo die greisen Eltern als Auszügler von ihren Kindern mißhandelt werden; wo täglich in Aborten, in Schränken, im Bettstroh, im Wasser Kinderleichen gefunden werden; wo die Mädchen massenhaft teils einem hysterischen Altjungferntum, teils der Prostitution verfallen, die jungen Männer aber teils infolge mangelnder, teils durch ungehörige Befriedigung des Geschlechtstriebes ihren Lebensmut und ihre Frische einbüßen. Die Religion kann diesen Zustand je nach der Geschicklichkeit ihrer Diener und der Gemüts¬ anlage des Volkes entweder durch Trost und Stärkung der sittlichen Kraft erträglicher machen oder durch Gewissensaunlen verschärfen; die Staatsgewalt kann, unterstützt durch die Umgangsformen und die äußerliche Selbstbeherrschung einer höhern Zivilisation, seine widerlichen Erscheinungen aus der Öffentlichkeit zurückdrängen und den Augen Fernstehender entziehen; zweckmäßige Erziehung und stramme Beschäftigung können, unterstützt durch allerlei Einrichtungen des Staates, den Ausdruck) der zuletzt erwähnten Übel bei den jungen Leuten um einige Jahre verschieben, aber ihn ändern oder beseitigen, das können diese sitt¬ lichen Mächte nicht, das dürfen sie auch gar nicht können, weil, wenn die Kraft heroischer Verzichtleistung auf Besitz und Lebensgenuß Gemeingut aller Menschen würde, ein früher und kinderloser Tod aller Erwachsenen der ganzen Menschheit und damit allerdings auch allem sozialen und sonstigen Elend ein Ende machen würde. Wir überlassen es dem Leser, nach seiner persönlichen Erfahrung und mit dem jedermann zugänglichen Zahlen- und Thatsachenmaterial zu entscheiden, auf welchen der geschilderten Stufen die einzelnen Länder Europas gegenwärtig stehen oder welchen sie sich nähern, und bemerken nur, daß es auch noch eine fünfte giebt, auf der sich die bevölkertsten Provinzen Chinas schon seit langer Zeit befinden, jene Stufe, wo sich keine seelische Empfindung, keine Gewissens¬ regung mehr gegen unwürdige Lagen, lasterhafte Gewohnheiten und ver¬ brecherische Thaten auflehnt; wo im hündischen Balgen um ekle Nahrung, die wan auch ans dein Schmutz der Gosse herauszuklauben sich nicht scheut, alles Ehrgefühl verloren gegangen ist, wo Kindermord, Kinderanssetzung und laster¬ hafte Gewohnheiten Bolkssitte geworden sind, und wo das Leben keinen Wert mehr hat. Je nach der größern oder geringern Fruchtbarkeit eines Landes tritt die Übervölkerung später oder früher ein. Da bei uns in Deutschland ein reget-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/547>, abgerufen am 01.07.2024.