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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

mäßiger Zuschuß ausländischen Brotgetreides von der Zeit ab notwendig ge¬
worden ist, wo die industrielle Bevölkerung zu überwiegen anfing, so dürfen
wir annehmen, daß der deutsche Landmann durchschnittlich sich und einen
Städter zu ernähren vermag, daß demnach fünfzig Prozent landwirtschaftliche
und fünfzig Prozent industrielle Bevölkerung das richtige Verhältnis bilden.
Wird das Gleichgewicht nach der einen Seite hin gestört, so leidet die Kultur,
wird es nach der andern Seite hin verschoben, so ist die natürliche Grundlage
eines gesunden Volkslebens bedroht. Daß intensive Wirtschaft den Ertrag
erhöht, ist wohl richtig, aber einmal wird diese Erhöhung fast aufgewogen
durch den Verlust an Fruchtncker bei steter Vermehrung und Vergrößerung der
Straßen, Bahnen, Fabriken nud Gruben. Sodann hat die Vermehrung des
Ertrages durch künstliche Düngung u. dergl. ihre Grenzen; geht man mit
diesen Mitteln über ein gewisses Maß hinaus, so ist das zuviel aufgewendete
nicht bloß verloren, sondern schadet dem Acker. Gar kein Vorteil ist es, daß
man überall mit Pflug und Spaten bis an die Flußufer vorrückt, da ja
jährliche Überschwemmungen etwa die Hälfte des Ertrages wegnehmen, Ließe
man die Uferflächen wieder, wie früher, als Viehweide liegen, so wäre der
Ertrag sicherer.

Es ist ein weises und inhaltreiches Wort, das der Negerhäuptling Man-
deira in seiner merkwürdigen Unterredung mit dem Abgesandten unsers Kaisers,
dem Afrikareisenden Otto Ehlers, so nebenbei fallen ließ. Er berichtete über
die Reiseeindrücke, die seine Leute aus Deutschland mitgebracht hätten, und
sagte u. a.: "Die Menschen laufen bei euch in großen Scharen herum, und
man sieht nicht, wovon sie leben, denn alles ist Stein." Gewiß ist es ein
wunderbarer Triumph der Kultur, daß anderthalb, daß zwei, daß vier Millionen
Menschen auf und zwischen Steinen leben können, Menschen, die niemals weder
säen noch ernten, wie es denn schon ein Triumph der Kultur war, als zum
erstenmale ein Volk den nordischen Winter ohne Hungersnot zu überstehen
vermochte in einer Gegend, die weder Wild noch Fische in hinreichender Menge
zur Nahrung darbot. Allein die Macht der Industrie, die jenes Wunder wirkt,
hat doch auch wie alles Irdische ihre Grenzen. Gesund ist der Austausch
industrieller Erzeugnisse gegen Naturprodukte fremder Länder nur so lange,
als er uns diejenigen Erzeugnisse andrer Zonen verschafft, die daheim nicht
gedeihen, bei den notwendigen Nahrungsmitteln aber sich auf deu Ausgleich
ungleicher Ernten, Verbesserung der heimischen Fruchtarten und Viehrassen
u. dergl. beschränkt. Sobald ein Volk mit feiner Ernährung teilweise auf das
Ausland angewiesen ist, führt es kein natürliches Dasein mehr, sondern nur
noch ein künstliches. Im Kriege befindet es sich in der Lage einer ungenügend
vcrproviantirten Festung, und im Frieden erfordert die Erzeugung der zum
Ankauf der Lebensmittel notwendigen Jndustriewaren übermäßige und darum
nicht mehr heilsame Anstrengungen. Man pflegt solche Erwägungen mit


Die soziale Frage

mäßiger Zuschuß ausländischen Brotgetreides von der Zeit ab notwendig ge¬
worden ist, wo die industrielle Bevölkerung zu überwiegen anfing, so dürfen
wir annehmen, daß der deutsche Landmann durchschnittlich sich und einen
Städter zu ernähren vermag, daß demnach fünfzig Prozent landwirtschaftliche
und fünfzig Prozent industrielle Bevölkerung das richtige Verhältnis bilden.
Wird das Gleichgewicht nach der einen Seite hin gestört, so leidet die Kultur,
wird es nach der andern Seite hin verschoben, so ist die natürliche Grundlage
eines gesunden Volkslebens bedroht. Daß intensive Wirtschaft den Ertrag
erhöht, ist wohl richtig, aber einmal wird diese Erhöhung fast aufgewogen
durch den Verlust an Fruchtncker bei steter Vermehrung und Vergrößerung der
Straßen, Bahnen, Fabriken nud Gruben. Sodann hat die Vermehrung des
Ertrages durch künstliche Düngung u. dergl. ihre Grenzen; geht man mit
diesen Mitteln über ein gewisses Maß hinaus, so ist das zuviel aufgewendete
nicht bloß verloren, sondern schadet dem Acker. Gar kein Vorteil ist es, daß
man überall mit Pflug und Spaten bis an die Flußufer vorrückt, da ja
jährliche Überschwemmungen etwa die Hälfte des Ertrages wegnehmen, Ließe
man die Uferflächen wieder, wie früher, als Viehweide liegen, so wäre der
Ertrag sicherer.

Es ist ein weises und inhaltreiches Wort, das der Negerhäuptling Man-
deira in seiner merkwürdigen Unterredung mit dem Abgesandten unsers Kaisers,
dem Afrikareisenden Otto Ehlers, so nebenbei fallen ließ. Er berichtete über
die Reiseeindrücke, die seine Leute aus Deutschland mitgebracht hätten, und
sagte u. a.: „Die Menschen laufen bei euch in großen Scharen herum, und
man sieht nicht, wovon sie leben, denn alles ist Stein." Gewiß ist es ein
wunderbarer Triumph der Kultur, daß anderthalb, daß zwei, daß vier Millionen
Menschen auf und zwischen Steinen leben können, Menschen, die niemals weder
säen noch ernten, wie es denn schon ein Triumph der Kultur war, als zum
erstenmale ein Volk den nordischen Winter ohne Hungersnot zu überstehen
vermochte in einer Gegend, die weder Wild noch Fische in hinreichender Menge
zur Nahrung darbot. Allein die Macht der Industrie, die jenes Wunder wirkt,
hat doch auch wie alles Irdische ihre Grenzen. Gesund ist der Austausch
industrieller Erzeugnisse gegen Naturprodukte fremder Länder nur so lange,
als er uns diejenigen Erzeugnisse andrer Zonen verschafft, die daheim nicht
gedeihen, bei den notwendigen Nahrungsmitteln aber sich auf deu Ausgleich
ungleicher Ernten, Verbesserung der heimischen Fruchtarten und Viehrassen
u. dergl. beschränkt. Sobald ein Volk mit feiner Ernährung teilweise auf das
Ausland angewiesen ist, führt es kein natürliches Dasein mehr, sondern nur
noch ein künstliches. Im Kriege befindet es sich in der Lage einer ungenügend
vcrproviantirten Festung, und im Frieden erfordert die Erzeugung der zum
Ankauf der Lebensmittel notwendigen Jndustriewaren übermäßige und darum
nicht mehr heilsame Anstrengungen. Man pflegt solche Erwägungen mit


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[0548] Die soziale Frage mäßiger Zuschuß ausländischen Brotgetreides von der Zeit ab notwendig ge¬ worden ist, wo die industrielle Bevölkerung zu überwiegen anfing, so dürfen wir annehmen, daß der deutsche Landmann durchschnittlich sich und einen Städter zu ernähren vermag, daß demnach fünfzig Prozent landwirtschaftliche und fünfzig Prozent industrielle Bevölkerung das richtige Verhältnis bilden. Wird das Gleichgewicht nach der einen Seite hin gestört, so leidet die Kultur, wird es nach der andern Seite hin verschoben, so ist die natürliche Grundlage eines gesunden Volkslebens bedroht. Daß intensive Wirtschaft den Ertrag erhöht, ist wohl richtig, aber einmal wird diese Erhöhung fast aufgewogen durch den Verlust an Fruchtncker bei steter Vermehrung und Vergrößerung der Straßen, Bahnen, Fabriken nud Gruben. Sodann hat die Vermehrung des Ertrages durch künstliche Düngung u. dergl. ihre Grenzen; geht man mit diesen Mitteln über ein gewisses Maß hinaus, so ist das zuviel aufgewendete nicht bloß verloren, sondern schadet dem Acker. Gar kein Vorteil ist es, daß man überall mit Pflug und Spaten bis an die Flußufer vorrückt, da ja jährliche Überschwemmungen etwa die Hälfte des Ertrages wegnehmen, Ließe man die Uferflächen wieder, wie früher, als Viehweide liegen, so wäre der Ertrag sicherer. Es ist ein weises und inhaltreiches Wort, das der Negerhäuptling Man- deira in seiner merkwürdigen Unterredung mit dem Abgesandten unsers Kaisers, dem Afrikareisenden Otto Ehlers, so nebenbei fallen ließ. Er berichtete über die Reiseeindrücke, die seine Leute aus Deutschland mitgebracht hätten, und sagte u. a.: „Die Menschen laufen bei euch in großen Scharen herum, und man sieht nicht, wovon sie leben, denn alles ist Stein." Gewiß ist es ein wunderbarer Triumph der Kultur, daß anderthalb, daß zwei, daß vier Millionen Menschen auf und zwischen Steinen leben können, Menschen, die niemals weder säen noch ernten, wie es denn schon ein Triumph der Kultur war, als zum erstenmale ein Volk den nordischen Winter ohne Hungersnot zu überstehen vermochte in einer Gegend, die weder Wild noch Fische in hinreichender Menge zur Nahrung darbot. Allein die Macht der Industrie, die jenes Wunder wirkt, hat doch auch wie alles Irdische ihre Grenzen. Gesund ist der Austausch industrieller Erzeugnisse gegen Naturprodukte fremder Länder nur so lange, als er uns diejenigen Erzeugnisse andrer Zonen verschafft, die daheim nicht gedeihen, bei den notwendigen Nahrungsmitteln aber sich auf deu Ausgleich ungleicher Ernten, Verbesserung der heimischen Fruchtarten und Viehrassen u. dergl. beschränkt. Sobald ein Volk mit feiner Ernährung teilweise auf das Ausland angewiesen ist, führt es kein natürliches Dasein mehr, sondern nur noch ein künstliches. Im Kriege befindet es sich in der Lage einer ungenügend vcrproviantirten Festung, und im Frieden erfordert die Erzeugung der zum Ankauf der Lebensmittel notwendigen Jndustriewaren übermäßige und darum nicht mehr heilsame Anstrengungen. Man pflegt solche Erwägungen mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/548>, abgerufen am 03.07.2024.