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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Nie soziale Frage

Spruche, desto mehr Kräfte werden für geistige Arbeit frei, die nicht allein das
äußere Leben verschönert und durch Entfaltung des innern Lebens den Menschen
erst völlig zum Menschen macht, sondern anch die Leistungsfähigkeit der Ge¬
werbe, die Raschheit und Bequemlichkeit des Verkehrs steigert und für die
Befriedigung jedes Bedürfnisses besondre Veranstaltungen hervorruft. Sollte
ein Großhändler, meint Nvscher, sämtliche Briefe, die er an einem einzigen
Tage fortschickt, selbst an Ort und Stelle tragen, sein Leben würde dazu nicht
hinreichen. Auf dieser dritten Stufe befindet sich das Volk am wohlsten, weil
in ihm vielfache Bedürfnisse geweckt sind, die alle leicht befriedigt werden.

Aber kein Gut wird dem Sterblichen zu Teil, das er uicht mit einem
entsprechenden Opfer bezahlen müßte. Die Zeit, wo das zwölfte Kind noch
mit derselben ungemischten Freude begrüßt ward wie das zweite, und wo der
Jüngling, sobald er mannbar geworden war, von seinen Eltern aufgefordert
wurde, sich eine Gattin zu wählen, diese Zeit ist nun vorüber. Das Land
ist aufgeteilt, die Städte sind gefüllt, die Beamtenklasfen versorgt. Weit
entfernt davon, jede neue Kraft mit Freuden zu begrüßen, wie damals, wo
die Bürgerschaften und Zünfte um die Wette den umliegenden Gutsbesitzern
ihre Hörigen abjagten, um sie zu freien, stolzen Bürgern zu macheu, als die
Schreibkunst eine seltene Kunst war, die der große Haufe ehrfurchtsvoll an-
starrte und der Fürst mit Golde lohnte, sind nun alle Stellen besetzt, und
jeder Stand ist bestrebt, sich gegen die übrigen abzusperren, um die vorhandenen
Stellen dem eignen Nachwuchs zu sichern. Und während in den Zeiten be¬
ginnender Kultur jeder willkommen und nicht allein des Lohnes, sondern
auch des Dankes gewiß ist, der zugreift, wo es etwas zu thun giebt, muß
nun der Arbeitslustige sich erst vergewissern, ob er nicht vielleicht durch einen
Handgriff in die Rechte eines andern eingreift. Vor einiger Zeit wurde in
meinem Wohnort ein Knabe, der einem Reisenden den Koffer vom Bahnhofe
nachtrug, auf die Anzeige eines Dienstmcmnes hin verhaftet. Ein Offizier, der
zufällig Zeuge des Vorfalls war, fühlte sich dadurch so erregt, daß er sich
nicht enthalten konnte, mit der Polizei deshalb in Unterhandlungen zu treten.
Ein Mann, der wegen eines ähnlichen "Vergehens" zu einer Mark Strafe ver¬
urteilt wurde, rief aus: "Was in aller Welt soll ich nun thun? Arbeite ich
nicht, so werde ich eingesperrt, und benutze ich eine mir dargebotene Arbeits¬
gelegenheit, so muß ich den Verdienst als Strafgeld herauszahlen!" Die Sache
beschäftigte mehrere Richterkollegien, und es wurde ein ganzer Berg Akten
darüber zusammengeschrieben.

Auf dieser Stufe wird der Sohn nicht mehr freundlich eingeladen zu
heiraten, sobald er zwanzig Jahre alt geworden ist, und schon das dritte,
vierte Kind wird mit Sorgen begrüßt. Die heranwachsenden Söhne und
Töchter bedeuten freilich anch wieder ein, Kapital, aber diesmal nicht ein
werdendes, sondern ein zehrendes. Die Eltern sind schon froh, wenn dieses


Nie soziale Frage

Spruche, desto mehr Kräfte werden für geistige Arbeit frei, die nicht allein das
äußere Leben verschönert und durch Entfaltung des innern Lebens den Menschen
erst völlig zum Menschen macht, sondern anch die Leistungsfähigkeit der Ge¬
werbe, die Raschheit und Bequemlichkeit des Verkehrs steigert und für die
Befriedigung jedes Bedürfnisses besondre Veranstaltungen hervorruft. Sollte
ein Großhändler, meint Nvscher, sämtliche Briefe, die er an einem einzigen
Tage fortschickt, selbst an Ort und Stelle tragen, sein Leben würde dazu nicht
hinreichen. Auf dieser dritten Stufe befindet sich das Volk am wohlsten, weil
in ihm vielfache Bedürfnisse geweckt sind, die alle leicht befriedigt werden.

Aber kein Gut wird dem Sterblichen zu Teil, das er uicht mit einem
entsprechenden Opfer bezahlen müßte. Die Zeit, wo das zwölfte Kind noch
mit derselben ungemischten Freude begrüßt ward wie das zweite, und wo der
Jüngling, sobald er mannbar geworden war, von seinen Eltern aufgefordert
wurde, sich eine Gattin zu wählen, diese Zeit ist nun vorüber. Das Land
ist aufgeteilt, die Städte sind gefüllt, die Beamtenklasfen versorgt. Weit
entfernt davon, jede neue Kraft mit Freuden zu begrüßen, wie damals, wo
die Bürgerschaften und Zünfte um die Wette den umliegenden Gutsbesitzern
ihre Hörigen abjagten, um sie zu freien, stolzen Bürgern zu macheu, als die
Schreibkunst eine seltene Kunst war, die der große Haufe ehrfurchtsvoll an-
starrte und der Fürst mit Golde lohnte, sind nun alle Stellen besetzt, und
jeder Stand ist bestrebt, sich gegen die übrigen abzusperren, um die vorhandenen
Stellen dem eignen Nachwuchs zu sichern. Und während in den Zeiten be¬
ginnender Kultur jeder willkommen und nicht allein des Lohnes, sondern
auch des Dankes gewiß ist, der zugreift, wo es etwas zu thun giebt, muß
nun der Arbeitslustige sich erst vergewissern, ob er nicht vielleicht durch einen
Handgriff in die Rechte eines andern eingreift. Vor einiger Zeit wurde in
meinem Wohnort ein Knabe, der einem Reisenden den Koffer vom Bahnhofe
nachtrug, auf die Anzeige eines Dienstmcmnes hin verhaftet. Ein Offizier, der
zufällig Zeuge des Vorfalls war, fühlte sich dadurch so erregt, daß er sich
nicht enthalten konnte, mit der Polizei deshalb in Unterhandlungen zu treten.
Ein Mann, der wegen eines ähnlichen „Vergehens" zu einer Mark Strafe ver¬
urteilt wurde, rief aus: „Was in aller Welt soll ich nun thun? Arbeite ich
nicht, so werde ich eingesperrt, und benutze ich eine mir dargebotene Arbeits¬
gelegenheit, so muß ich den Verdienst als Strafgeld herauszahlen!" Die Sache
beschäftigte mehrere Richterkollegien, und es wurde ein ganzer Berg Akten
darüber zusammengeschrieben.

Auf dieser Stufe wird der Sohn nicht mehr freundlich eingeladen zu
heiraten, sobald er zwanzig Jahre alt geworden ist, und schon das dritte,
vierte Kind wird mit Sorgen begrüßt. Die heranwachsenden Söhne und
Töchter bedeuten freilich anch wieder ein, Kapital, aber diesmal nicht ein
werdendes, sondern ein zehrendes. Die Eltern sind schon froh, wenn dieses


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[0546] Nie soziale Frage Spruche, desto mehr Kräfte werden für geistige Arbeit frei, die nicht allein das äußere Leben verschönert und durch Entfaltung des innern Lebens den Menschen erst völlig zum Menschen macht, sondern anch die Leistungsfähigkeit der Ge¬ werbe, die Raschheit und Bequemlichkeit des Verkehrs steigert und für die Befriedigung jedes Bedürfnisses besondre Veranstaltungen hervorruft. Sollte ein Großhändler, meint Nvscher, sämtliche Briefe, die er an einem einzigen Tage fortschickt, selbst an Ort und Stelle tragen, sein Leben würde dazu nicht hinreichen. Auf dieser dritten Stufe befindet sich das Volk am wohlsten, weil in ihm vielfache Bedürfnisse geweckt sind, die alle leicht befriedigt werden. Aber kein Gut wird dem Sterblichen zu Teil, das er uicht mit einem entsprechenden Opfer bezahlen müßte. Die Zeit, wo das zwölfte Kind noch mit derselben ungemischten Freude begrüßt ward wie das zweite, und wo der Jüngling, sobald er mannbar geworden war, von seinen Eltern aufgefordert wurde, sich eine Gattin zu wählen, diese Zeit ist nun vorüber. Das Land ist aufgeteilt, die Städte sind gefüllt, die Beamtenklasfen versorgt. Weit entfernt davon, jede neue Kraft mit Freuden zu begrüßen, wie damals, wo die Bürgerschaften und Zünfte um die Wette den umliegenden Gutsbesitzern ihre Hörigen abjagten, um sie zu freien, stolzen Bürgern zu macheu, als die Schreibkunst eine seltene Kunst war, die der große Haufe ehrfurchtsvoll an- starrte und der Fürst mit Golde lohnte, sind nun alle Stellen besetzt, und jeder Stand ist bestrebt, sich gegen die übrigen abzusperren, um die vorhandenen Stellen dem eignen Nachwuchs zu sichern. Und während in den Zeiten be¬ ginnender Kultur jeder willkommen und nicht allein des Lohnes, sondern auch des Dankes gewiß ist, der zugreift, wo es etwas zu thun giebt, muß nun der Arbeitslustige sich erst vergewissern, ob er nicht vielleicht durch einen Handgriff in die Rechte eines andern eingreift. Vor einiger Zeit wurde in meinem Wohnort ein Knabe, der einem Reisenden den Koffer vom Bahnhofe nachtrug, auf die Anzeige eines Dienstmcmnes hin verhaftet. Ein Offizier, der zufällig Zeuge des Vorfalls war, fühlte sich dadurch so erregt, daß er sich nicht enthalten konnte, mit der Polizei deshalb in Unterhandlungen zu treten. Ein Mann, der wegen eines ähnlichen „Vergehens" zu einer Mark Strafe ver¬ urteilt wurde, rief aus: „Was in aller Welt soll ich nun thun? Arbeite ich nicht, so werde ich eingesperrt, und benutze ich eine mir dargebotene Arbeits¬ gelegenheit, so muß ich den Verdienst als Strafgeld herauszahlen!" Die Sache beschäftigte mehrere Richterkollegien, und es wurde ein ganzer Berg Akten darüber zusammengeschrieben. Auf dieser Stufe wird der Sohn nicht mehr freundlich eingeladen zu heiraten, sobald er zwanzig Jahre alt geworden ist, und schon das dritte, vierte Kind wird mit Sorgen begrüßt. Die heranwachsenden Söhne und Töchter bedeuten freilich anch wieder ein, Kapital, aber diesmal nicht ein werdendes, sondern ein zehrendes. Die Eltern sind schon froh, wenn dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/546>, abgerufen am 27.12.2024.