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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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vom Wiener volkstheater

und die französischen "Sitten"stücke im Theater an der Wien. Übrigens sind auch
die Preise immer noch mäßig, und so wurde vielen, die früher nur die Lokal-
Possen des Josefstädter Theaters besuchten, weil ihnen alle übrigen Theater
zu teuer waren, eine edlere Gattung von Bühnendarstellmigen erst erschlossen.
Auch besitzt das Volkstheater wenigstens einige Schauspieler und Schau¬
spielerinnen, an denen sich selbst Kenner erfreuen konnten: Throlt, Martinelli,
Kutschers und vor allen Fräulein Scmdrock. Die letzte ist eine durchaus ur¬
sprüngliche Kraft, wenn sie auch vielleicht im einzelnen von Sarah Bernard
gelernt hat: welche Künstlerin wäre völlig frei von fremden Einflüssen, könnte
sich ganz unabhängig von Vorgängern halten, eines Vorbildes ganz entbehren!
Fräulein Scmdrock hat zuerst im Wiedner Theater die Jsa in dem Dumasscheu
"Fall Clmnenceau" gespielt und da schon die Aufmerksamkeit berufener Beur¬
teiler erregt. Leider war die Rolle undankbar. Im Volkstheater spielte sie
die Hauptrolle in der "Hochzeit von Vaterl," die sie mit großer Gestaltungs¬
kraft wahrscheinlich zu machen bestrebt war. Verdiente Triumphe feierte sie
dann im März und April: in der "Eva" des unglücklichen Richard Voß, in
Heibergs "König Midas" und zuletzt in der "Alexandra" von Voß. Sie ist
eine sehr realistische Darstellerin, der es nicht immer, wie Charlotte Wolter,
darum zu thun ist, die Grenzen des plastisch Schönen einzuhalten, aber sie
versöhnt für so manche allzu heftige Bewegung durch die elementare Gewalt
echter Leidenschaft, mit der sie ihre Rollen erfüllt; das siud immer Frauen
und Mädchen von Fleisch und Blut, nie seufzende, gestikulirende, deklamirende
Puppen, wie es deren auf unsern Bühnen so viele giebt.

Ein Verdienst der Volkstheaterdirektivn war es auch, Friedrich Mitter-
wurzer, der mehrere Jahre in Wien nicht erschienen war, zu einem Gast¬
spiel einzuladen. Wir haben für diesen Schauspieler ein kleines Vorurteil:
es stammt noch aus der Zeit, wo er Mitglied des Burgtheaters war.
Denn es ist etwas von dem Wesen Ludwig Devrients in ihm: er ist
ebenso vielgestaltig und ebenso dämonisch erregt. Viele nennen ihn heute
noch einen Effekthascher und Kulissenreißer, weil er immer mit äußer¬
lichen Dingen überraschen will und besonders nichts so macht, wie es
andre berühmte Schauspieler der Gegenwart machen: er tritt von rechts auf,
wo andre von links kommen, er steht, wo andre sitzen, trägt ein rotes Kleid,
too sonst ein blaues üblich ist, erscheint blond, wo jeder andre eine schwarze
Perücke trägt. Wäre dies nun seine ganze Kunst, dann freilich verdiente er
jene Namen. Aber er macht sich auch in der Charakteristik von dem hergebrachten
Typus los und weiß alte Rollen in neue umzuschaffen. Wo es sich um Gestalten
handelt, die vom Dichter scharf und unzweideutig umrissen sind, wird ihm
diese Gabe freilich oft verhängnisvoll; unbezahlbar aber ist sie, wo der Dichter
schwach "der flüchtig charcckterisirt. Übrigens aber giebt es doch auch große
Dichterschvpfungen, die vieldeutig sind: wer wollte z. V. einen Kanon für die


Grenzboten II 18S0 6S
vom Wiener volkstheater

und die französischen „Sitten"stücke im Theater an der Wien. Übrigens sind auch
die Preise immer noch mäßig, und so wurde vielen, die früher nur die Lokal-
Possen des Josefstädter Theaters besuchten, weil ihnen alle übrigen Theater
zu teuer waren, eine edlere Gattung von Bühnendarstellmigen erst erschlossen.
Auch besitzt das Volkstheater wenigstens einige Schauspieler und Schau¬
spielerinnen, an denen sich selbst Kenner erfreuen konnten: Throlt, Martinelli,
Kutschers und vor allen Fräulein Scmdrock. Die letzte ist eine durchaus ur¬
sprüngliche Kraft, wenn sie auch vielleicht im einzelnen von Sarah Bernard
gelernt hat: welche Künstlerin wäre völlig frei von fremden Einflüssen, könnte
sich ganz unabhängig von Vorgängern halten, eines Vorbildes ganz entbehren!
Fräulein Scmdrock hat zuerst im Wiedner Theater die Jsa in dem Dumasscheu
»Fall Clmnenceau" gespielt und da schon die Aufmerksamkeit berufener Beur¬
teiler erregt. Leider war die Rolle undankbar. Im Volkstheater spielte sie
die Hauptrolle in der „Hochzeit von Vaterl," die sie mit großer Gestaltungs¬
kraft wahrscheinlich zu machen bestrebt war. Verdiente Triumphe feierte sie
dann im März und April: in der „Eva" des unglücklichen Richard Voß, in
Heibergs „König Midas" und zuletzt in der „Alexandra" von Voß. Sie ist
eine sehr realistische Darstellerin, der es nicht immer, wie Charlotte Wolter,
darum zu thun ist, die Grenzen des plastisch Schönen einzuhalten, aber sie
versöhnt für so manche allzu heftige Bewegung durch die elementare Gewalt
echter Leidenschaft, mit der sie ihre Rollen erfüllt; das siud immer Frauen
und Mädchen von Fleisch und Blut, nie seufzende, gestikulirende, deklamirende
Puppen, wie es deren auf unsern Bühnen so viele giebt.

Ein Verdienst der Volkstheaterdirektivn war es auch, Friedrich Mitter-
wurzer, der mehrere Jahre in Wien nicht erschienen war, zu einem Gast¬
spiel einzuladen. Wir haben für diesen Schauspieler ein kleines Vorurteil:
es stammt noch aus der Zeit, wo er Mitglied des Burgtheaters war.
Denn es ist etwas von dem Wesen Ludwig Devrients in ihm: er ist
ebenso vielgestaltig und ebenso dämonisch erregt. Viele nennen ihn heute
noch einen Effekthascher und Kulissenreißer, weil er immer mit äußer¬
lichen Dingen überraschen will und besonders nichts so macht, wie es
andre berühmte Schauspieler der Gegenwart machen: er tritt von rechts auf,
wo andre von links kommen, er steht, wo andre sitzen, trägt ein rotes Kleid,
too sonst ein blaues üblich ist, erscheint blond, wo jeder andre eine schwarze
Perücke trägt. Wäre dies nun seine ganze Kunst, dann freilich verdiente er
jene Namen. Aber er macht sich auch in der Charakteristik von dem hergebrachten
Typus los und weiß alte Rollen in neue umzuschaffen. Wo es sich um Gestalten
handelt, die vom Dichter scharf und unzweideutig umrissen sind, wird ihm
diese Gabe freilich oft verhängnisvoll; unbezahlbar aber ist sie, wo der Dichter
schwach »der flüchtig charcckterisirt. Übrigens aber giebt es doch auch große
Dichterschvpfungen, die vieldeutig sind: wer wollte z. V. einen Kanon für die


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[0521] vom Wiener volkstheater und die französischen „Sitten"stücke im Theater an der Wien. Übrigens sind auch die Preise immer noch mäßig, und so wurde vielen, die früher nur die Lokal- Possen des Josefstädter Theaters besuchten, weil ihnen alle übrigen Theater zu teuer waren, eine edlere Gattung von Bühnendarstellmigen erst erschlossen. Auch besitzt das Volkstheater wenigstens einige Schauspieler und Schau¬ spielerinnen, an denen sich selbst Kenner erfreuen konnten: Throlt, Martinelli, Kutschers und vor allen Fräulein Scmdrock. Die letzte ist eine durchaus ur¬ sprüngliche Kraft, wenn sie auch vielleicht im einzelnen von Sarah Bernard gelernt hat: welche Künstlerin wäre völlig frei von fremden Einflüssen, könnte sich ganz unabhängig von Vorgängern halten, eines Vorbildes ganz entbehren! Fräulein Scmdrock hat zuerst im Wiedner Theater die Jsa in dem Dumasscheu »Fall Clmnenceau" gespielt und da schon die Aufmerksamkeit berufener Beur¬ teiler erregt. Leider war die Rolle undankbar. Im Volkstheater spielte sie die Hauptrolle in der „Hochzeit von Vaterl," die sie mit großer Gestaltungs¬ kraft wahrscheinlich zu machen bestrebt war. Verdiente Triumphe feierte sie dann im März und April: in der „Eva" des unglücklichen Richard Voß, in Heibergs „König Midas" und zuletzt in der „Alexandra" von Voß. Sie ist eine sehr realistische Darstellerin, der es nicht immer, wie Charlotte Wolter, darum zu thun ist, die Grenzen des plastisch Schönen einzuhalten, aber sie versöhnt für so manche allzu heftige Bewegung durch die elementare Gewalt echter Leidenschaft, mit der sie ihre Rollen erfüllt; das siud immer Frauen und Mädchen von Fleisch und Blut, nie seufzende, gestikulirende, deklamirende Puppen, wie es deren auf unsern Bühnen so viele giebt. Ein Verdienst der Volkstheaterdirektivn war es auch, Friedrich Mitter- wurzer, der mehrere Jahre in Wien nicht erschienen war, zu einem Gast¬ spiel einzuladen. Wir haben für diesen Schauspieler ein kleines Vorurteil: es stammt noch aus der Zeit, wo er Mitglied des Burgtheaters war. Denn es ist etwas von dem Wesen Ludwig Devrients in ihm: er ist ebenso vielgestaltig und ebenso dämonisch erregt. Viele nennen ihn heute noch einen Effekthascher und Kulissenreißer, weil er immer mit äußer¬ lichen Dingen überraschen will und besonders nichts so macht, wie es andre berühmte Schauspieler der Gegenwart machen: er tritt von rechts auf, wo andre von links kommen, er steht, wo andre sitzen, trägt ein rotes Kleid, too sonst ein blaues üblich ist, erscheint blond, wo jeder andre eine schwarze Perücke trägt. Wäre dies nun seine ganze Kunst, dann freilich verdiente er jene Namen. Aber er macht sich auch in der Charakteristik von dem hergebrachten Typus los und weiß alte Rollen in neue umzuschaffen. Wo es sich um Gestalten handelt, die vom Dichter scharf und unzweideutig umrissen sind, wird ihm diese Gabe freilich oft verhängnisvoll; unbezahlbar aber ist sie, wo der Dichter schwach »der flüchtig charcckterisirt. Übrigens aber giebt es doch auch große Dichterschvpfungen, die vieldeutig sind: wer wollte z. V. einen Kanon für die Grenzboten II 18S0 6S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/521>, abgerufen am 01.07.2024.