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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Sozialismus und Erziehung

in Dingen des Geschmacks eine krasse Lücke sein. Bei aller sogenannten gelehrten
Bildung ist der Zögling ein Barbar, insofern ihm wesentliche Gebiete des
menschlichen Geistes ganz fremd bleiben. Und wo eine einseitige Erstrebung
vermehrten Wissens, namentlich auf dem Gebiete der Realien, stattfindet, auch
da entsteht nur Halbbildung, weil wertvollere Aufgaben unberücksichtigt bleiben.

Daß es nicht die Aufgabe der Erziehung sein kann, zweibeinige Enehklopädien
herzustellen, aus den Zöglingen Wissensspeicher zu machen, das wird hoffentlich
bald allgemeine Überzeugung werden; denn es kommt weit weniger darauf an,
wie viel Wissen sich der Schüler aneignet, als vielmehr darauf, daß er geistig
arbeiten lernt. In Dingen der Religion ist es aber so, daß das viele Memoriren
und Katechisiren nur zu oft alles religiöse Gefühl im Keime erstickt. Der
Mensch muß wirklich viel Religion haben, da der gewöhnliche theologische
Unterricht sie nicht ausrottet. Sehr wichtig ist ans dem gegenwärtigen Punkte
der geschichtlichen Entwicklung, daß in der Schule auf allen ihren Stufen die
zarte Pflanze der jugendlichen Frömmigkeit durch ein besonnenes Maßhalten
und ein verständnisvolles Anschmiegen an die kindliche Anschauungsweise mit
wahrhaft religiöser Vorsicht geschont werde. Gewiß ist nicht zu wenig
Religionsunterricht in den Schulen; eher ist zu wenig lebendige Religion in
den Lehrern. Und doch dürfte keine andre Kraft und Macht in der Welt den
Prüfungen, Gefahren und Versuchungen gewachsen sei", die die materielle
Kultur, sobald sie einen gewissen Höhepunkt erreicht hat, den Völkern bereitet.
Eine verweltlichte, konventionelle, in Dogmatismus erstarrte oder sonstwie
salzlos gewordene Kirche und Kirchlichkeit vermag es nicht; ebensowenig der
weltliche Idealismus, Bildung und Wissenschaft, Staatsgeist und Staats-
gesiunuttg. Es ist ein leerer Wahn, daß man ohne Zuziehung religiöser
Motive, sei es die Jugend, sei es das Volk, erziehen könne. Ohne solche bleibt
ein ungedeckter Rest in dem Suchen nach höchsten und letzten Beziehungen, den
man mit allem Predigen von Humanität und Menschlichkeit nicht decken kann.
Hier hat die Erziehung eine große Aufgabe. Sie soll mit dafür sorgen, daß das
alle andern überragende, schließlich allein durchschlagende religiöse Motiv die
weltbewegende Kraft wiedergewinne, in deren Schwächung der Mißbrauch der
Vernunft mit Glaubenssätzen, die ihr widersprechen, gewetteifert hat. Die
Schule muß darthun, daß wir noch Religion haben, daß wir noch Christen
sind, und daß wir es sein können, ohne uns den berechtigten Kulturstandpuukten
der Gegenwart irgendwie entfremden zu müssen. Es wird sich zeigen, ob die
Wahrheit des Christentums die Welt des Svzialdemvkrntentuius überwinden
kaun, das in seiner fanatischen Erfassung den Charakter einer religiösen Sekte
angenommen hat.

Ohne Zweifel wird nur ein auf der gesunden Grundlage von Gottesfurcht
in einfacher Sitte aufwachsendes Geschlecht hinreichend Widerstandskraft gegen
die unheimlichen Gewalten entwickeln können, die wie die nagenden Würmer


Sozialismus und Erziehung

in Dingen des Geschmacks eine krasse Lücke sein. Bei aller sogenannten gelehrten
Bildung ist der Zögling ein Barbar, insofern ihm wesentliche Gebiete des
menschlichen Geistes ganz fremd bleiben. Und wo eine einseitige Erstrebung
vermehrten Wissens, namentlich auf dem Gebiete der Realien, stattfindet, auch
da entsteht nur Halbbildung, weil wertvollere Aufgaben unberücksichtigt bleiben.

Daß es nicht die Aufgabe der Erziehung sein kann, zweibeinige Enehklopädien
herzustellen, aus den Zöglingen Wissensspeicher zu machen, das wird hoffentlich
bald allgemeine Überzeugung werden; denn es kommt weit weniger darauf an,
wie viel Wissen sich der Schüler aneignet, als vielmehr darauf, daß er geistig
arbeiten lernt. In Dingen der Religion ist es aber so, daß das viele Memoriren
und Katechisiren nur zu oft alles religiöse Gefühl im Keime erstickt. Der
Mensch muß wirklich viel Religion haben, da der gewöhnliche theologische
Unterricht sie nicht ausrottet. Sehr wichtig ist ans dem gegenwärtigen Punkte
der geschichtlichen Entwicklung, daß in der Schule auf allen ihren Stufen die
zarte Pflanze der jugendlichen Frömmigkeit durch ein besonnenes Maßhalten
und ein verständnisvolles Anschmiegen an die kindliche Anschauungsweise mit
wahrhaft religiöser Vorsicht geschont werde. Gewiß ist nicht zu wenig
Religionsunterricht in den Schulen; eher ist zu wenig lebendige Religion in
den Lehrern. Und doch dürfte keine andre Kraft und Macht in der Welt den
Prüfungen, Gefahren und Versuchungen gewachsen sei», die die materielle
Kultur, sobald sie einen gewissen Höhepunkt erreicht hat, den Völkern bereitet.
Eine verweltlichte, konventionelle, in Dogmatismus erstarrte oder sonstwie
salzlos gewordene Kirche und Kirchlichkeit vermag es nicht; ebensowenig der
weltliche Idealismus, Bildung und Wissenschaft, Staatsgeist und Staats-
gesiunuttg. Es ist ein leerer Wahn, daß man ohne Zuziehung religiöser
Motive, sei es die Jugend, sei es das Volk, erziehen könne. Ohne solche bleibt
ein ungedeckter Rest in dem Suchen nach höchsten und letzten Beziehungen, den
man mit allem Predigen von Humanität und Menschlichkeit nicht decken kann.
Hier hat die Erziehung eine große Aufgabe. Sie soll mit dafür sorgen, daß das
alle andern überragende, schließlich allein durchschlagende religiöse Motiv die
weltbewegende Kraft wiedergewinne, in deren Schwächung der Mißbrauch der
Vernunft mit Glaubenssätzen, die ihr widersprechen, gewetteifert hat. Die
Schule muß darthun, daß wir noch Religion haben, daß wir noch Christen
sind, und daß wir es sein können, ohne uns den berechtigten Kulturstandpuukten
der Gegenwart irgendwie entfremden zu müssen. Es wird sich zeigen, ob die
Wahrheit des Christentums die Welt des Svzialdemvkrntentuius überwinden
kaun, das in seiner fanatischen Erfassung den Charakter einer religiösen Sekte
angenommen hat.

Ohne Zweifel wird nur ein auf der gesunden Grundlage von Gottesfurcht
in einfacher Sitte aufwachsendes Geschlecht hinreichend Widerstandskraft gegen
die unheimlichen Gewalten entwickeln können, die wie die nagenden Würmer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/502>, abgerufen am 01.07.2024.