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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Sozialismus und Erziehung

ein Agdrasils Esche den stolzen Leliensbanm unsers Volkes zu unterwühlen
drohen.

Aber der Schulerziehung allein kann diese schwierige Arbeit nicht über-
lassen werden. Wenn in der geistigen Arbeit, in dem Streben, die idealen
Güter der Menschheit zu mehren, das beste Gegengewicht gegen die Gefahren
liegt, die eine materielle Zeitströmung mit ihren Beispielen hochgesteigerter
Lebensführung Einzelner mit sich führt, so liegt hierin eine dringende Mahnung
an das ältere Geschlecht, und hier vor allem an die Besitzenden, deren Bei¬
spiel so unendlich fördernd, wie anderseits so unendlich verderblich auf die
breitern Schichten der Gesellschaft einwirken kann. Wie ganze Geschlechter in
die Fußtapfen der Knlturschöpfer eintreten, in ihnen Führer und Berater er¬
kennen, so hebt auch der Einzelne im täglichen Leben seinen Blick zu denen
empor, die über ihm stehen. Nach ihrem Vorbild formt er fein äußeres Leben,
ihr Handeln bestimmt sein sittliches Urteil, sein ganzes Thun. Was die Be¬
sitzenden denken und erstreben, thun und treiben, das pflanzt sich fort in leisen
Wellenschlügen bis in die untersten Volksschichten, bis in die entlegensten
Winkel. Ihr Verhalten wirkt bestimmend auf das wirtschaftliche und sittliche
Leben des Volkes. Schon Aristoteles nannte den Menschen das nachahmungs-
lustigste Geschöpf ('^Loo ^^.^i^x^oc^vo). In den besitzenden Gesellschaftskreisen
sucht das Volk fein besseres Ich verkörpert wieder. Darum ist es so empört,
wenn es das nicht sindet, sondern Zustünde, die mit seinem bessern Empfinden
in vollem Widerspruch stehen. Darum erwächst aber auch für die besitzenden
Kreise die Pflicht, allezeit sich der hohen, erzieherischen Aufgabe bewußt zu
fein, ihr gemäß zu denken und zu handeln. Sie haben viel versäumt und
viel gut zu machen. Wären sie allezeit ihrer Pflicht eingedenk gewesen, hätten
sie nicht in blutsaugerischer Weise die untern Stände für ihre materiellen
Interessen ausgebeutet, so wäre das, was wir Sozialdemokratie nennen, über¬
haupt nie entstanden.

Noch ist es nicht zu spät, wenn nur die obern Schichten immer mehr das
Bewußtsein durchdringt, daß man mit der erhöhten Stellung auch erhöhte
Pflichten übernimmt, insofern man den untern Schichten des Volkes als Er¬
zieher entgegentritt, um sie nach allen Seiten hin zu heben und zu fördern.
Ein großartiger Gedanke, der auch dem Erlaß Kaiser Wilhelms II. an die
Offiziere zu Grunde liegt, weittragend in den Folgen und schwierig in der
Ausführung, da er von jedem Einzelnen Opfer verlangt und Umbildung der
Gesinnung. Aber in ihm. eröffnet sich der Ausblick auf ein neues geistiges
Dasein. Denn in dem Bewußtsein, daß die höhere Kultur innerhalb des
Volkes sich nicht wie auf ein mir ihr zugehöriges Privileg zurückziehen darf,
sondern daß sie die tieferstehende zu sich emporziehen muß, entsteht eine Macht,
die zu einem wahrhaft geschichtlichen Prinzip anwächst, durch das die Fort-
bildung der kommenden Geschlechter ans lange bestimmt wird.


Sozialismus und Erziehung

ein Agdrasils Esche den stolzen Leliensbanm unsers Volkes zu unterwühlen
drohen.

Aber der Schulerziehung allein kann diese schwierige Arbeit nicht über-
lassen werden. Wenn in der geistigen Arbeit, in dem Streben, die idealen
Güter der Menschheit zu mehren, das beste Gegengewicht gegen die Gefahren
liegt, die eine materielle Zeitströmung mit ihren Beispielen hochgesteigerter
Lebensführung Einzelner mit sich führt, so liegt hierin eine dringende Mahnung
an das ältere Geschlecht, und hier vor allem an die Besitzenden, deren Bei¬
spiel so unendlich fördernd, wie anderseits so unendlich verderblich auf die
breitern Schichten der Gesellschaft einwirken kann. Wie ganze Geschlechter in
die Fußtapfen der Knlturschöpfer eintreten, in ihnen Führer und Berater er¬
kennen, so hebt auch der Einzelne im täglichen Leben seinen Blick zu denen
empor, die über ihm stehen. Nach ihrem Vorbild formt er fein äußeres Leben,
ihr Handeln bestimmt sein sittliches Urteil, sein ganzes Thun. Was die Be¬
sitzenden denken und erstreben, thun und treiben, das pflanzt sich fort in leisen
Wellenschlügen bis in die untersten Volksschichten, bis in die entlegensten
Winkel. Ihr Verhalten wirkt bestimmend auf das wirtschaftliche und sittliche
Leben des Volkes. Schon Aristoteles nannte den Menschen das nachahmungs-
lustigste Geschöpf ('^Loo ^^.^i^x^oc^vo). In den besitzenden Gesellschaftskreisen
sucht das Volk fein besseres Ich verkörpert wieder. Darum ist es so empört,
wenn es das nicht sindet, sondern Zustünde, die mit seinem bessern Empfinden
in vollem Widerspruch stehen. Darum erwächst aber auch für die besitzenden
Kreise die Pflicht, allezeit sich der hohen, erzieherischen Aufgabe bewußt zu
fein, ihr gemäß zu denken und zu handeln. Sie haben viel versäumt und
viel gut zu machen. Wären sie allezeit ihrer Pflicht eingedenk gewesen, hätten
sie nicht in blutsaugerischer Weise die untern Stände für ihre materiellen
Interessen ausgebeutet, so wäre das, was wir Sozialdemokratie nennen, über¬
haupt nie entstanden.

Noch ist es nicht zu spät, wenn nur die obern Schichten immer mehr das
Bewußtsein durchdringt, daß man mit der erhöhten Stellung auch erhöhte
Pflichten übernimmt, insofern man den untern Schichten des Volkes als Er¬
zieher entgegentritt, um sie nach allen Seiten hin zu heben und zu fördern.
Ein großartiger Gedanke, der auch dem Erlaß Kaiser Wilhelms II. an die
Offiziere zu Grunde liegt, weittragend in den Folgen und schwierig in der
Ausführung, da er von jedem Einzelnen Opfer verlangt und Umbildung der
Gesinnung. Aber in ihm. eröffnet sich der Ausblick auf ein neues geistiges
Dasein. Denn in dem Bewußtsein, daß die höhere Kultur innerhalb des
Volkes sich nicht wie auf ein mir ihr zugehöriges Privileg zurückziehen darf,
sondern daß sie die tieferstehende zu sich emporziehen muß, entsteht eine Macht,
die zu einem wahrhaft geschichtlichen Prinzip anwächst, durch das die Fort-
bildung der kommenden Geschlechter ans lange bestimmt wird.


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[0503] Sozialismus und Erziehung ein Agdrasils Esche den stolzen Leliensbanm unsers Volkes zu unterwühlen drohen. Aber der Schulerziehung allein kann diese schwierige Arbeit nicht über- lassen werden. Wenn in der geistigen Arbeit, in dem Streben, die idealen Güter der Menschheit zu mehren, das beste Gegengewicht gegen die Gefahren liegt, die eine materielle Zeitströmung mit ihren Beispielen hochgesteigerter Lebensführung Einzelner mit sich führt, so liegt hierin eine dringende Mahnung an das ältere Geschlecht, und hier vor allem an die Besitzenden, deren Bei¬ spiel so unendlich fördernd, wie anderseits so unendlich verderblich auf die breitern Schichten der Gesellschaft einwirken kann. Wie ganze Geschlechter in die Fußtapfen der Knlturschöpfer eintreten, in ihnen Führer und Berater er¬ kennen, so hebt auch der Einzelne im täglichen Leben seinen Blick zu denen empor, die über ihm stehen. Nach ihrem Vorbild formt er fein äußeres Leben, ihr Handeln bestimmt sein sittliches Urteil, sein ganzes Thun. Was die Be¬ sitzenden denken und erstreben, thun und treiben, das pflanzt sich fort in leisen Wellenschlügen bis in die untersten Volksschichten, bis in die entlegensten Winkel. Ihr Verhalten wirkt bestimmend auf das wirtschaftliche und sittliche Leben des Volkes. Schon Aristoteles nannte den Menschen das nachahmungs- lustigste Geschöpf ('^Loo ^^.^i^x^oc^vo). In den besitzenden Gesellschaftskreisen sucht das Volk fein besseres Ich verkörpert wieder. Darum ist es so empört, wenn es das nicht sindet, sondern Zustünde, die mit seinem bessern Empfinden in vollem Widerspruch stehen. Darum erwächst aber auch für die besitzenden Kreise die Pflicht, allezeit sich der hohen, erzieherischen Aufgabe bewußt zu fein, ihr gemäß zu denken und zu handeln. Sie haben viel versäumt und viel gut zu machen. Wären sie allezeit ihrer Pflicht eingedenk gewesen, hätten sie nicht in blutsaugerischer Weise die untern Stände für ihre materiellen Interessen ausgebeutet, so wäre das, was wir Sozialdemokratie nennen, über¬ haupt nie entstanden. Noch ist es nicht zu spät, wenn nur die obern Schichten immer mehr das Bewußtsein durchdringt, daß man mit der erhöhten Stellung auch erhöhte Pflichten übernimmt, insofern man den untern Schichten des Volkes als Er¬ zieher entgegentritt, um sie nach allen Seiten hin zu heben und zu fördern. Ein großartiger Gedanke, der auch dem Erlaß Kaiser Wilhelms II. an die Offiziere zu Grunde liegt, weittragend in den Folgen und schwierig in der Ausführung, da er von jedem Einzelnen Opfer verlangt und Umbildung der Gesinnung. Aber in ihm. eröffnet sich der Ausblick auf ein neues geistiges Dasein. Denn in dem Bewußtsein, daß die höhere Kultur innerhalb des Volkes sich nicht wie auf ein mir ihr zugehöriges Privileg zurückziehen darf, sondern daß sie die tieferstehende zu sich emporziehen muß, entsteht eine Macht, die zu einem wahrhaft geschichtlichen Prinzip anwächst, durch das die Fort- bildung der kommenden Geschlechter ans lange bestimmt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/503>, abgerufen am 29.06.2024.