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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Sozialismus und Erziehung

sozialen Fragen die Aufgaben der Erziehung in innige Beziehung setzt, zeugt
von tiefer staatsmäunischer Einsicht. Denn die auf die Verbesserung der
materiellen Lage der arbeitenden Klassen gerichteten Bestrebungen treffen, so
notwendig und unabweisbar sie sind, doch nur zunächst das Äußere. Die
innere Zufriedenheit, die Aussöhnung mit ihrem Geschick und mit der Leitung
des Staatswesens, dem sie sich als unentbehrliche Glieder einordnen, kann den
arbeitenden Klassen nur daun wahrhaft und dauernd gebracht werden, wenn
sich mit der Hebung der äußern Lage eine sorgfältige, den Verhältnissen an¬
gepaßte Erziehungsweise und eine vernünftige Pflege der geistigen Interessen
verbindet.

Das letztere wäre ohne Zweifel Pflicht der Kirche, vor allem der evange¬
lischen. Und wirklich erinnert sich diese auch in neuerer Zeit dieser Pflicht.
Es beginnt auch bei dem liberalen Teil ihrer Beamten die Überzeugung zu
dämmern, daß mit der Sonntagspredigt doch uur ein kleiner und recht un¬
wesentlicher und unwirksamer Teil ihres Berufes erledigt sei. Denn wenn
auch alle Geistlichen, nicht bloß einzelne, mit Engelzungen redeten, was nützt
es denn, da die davon nicht berührt und beeinflußt werden, die in erster Linie
davon getroffen werden sollten? So lange die Herren ihren Schwerpunkt nicht
in die Seelsorge legen, so lange sind sie wohl Diener des Wortes, aber nicht
Diener der That. Nachdem die evangelische Kirche Jahrhunderte lang gepredigt
hat, möchte sie nun auf einige Jahrzehnte thatkräftig handeln. Nach dieser
Seite hin könnte ein vielgeschmähter Maun seinen Amtsbrüdern immerhin als
leuchtendes Beispiel dienen!

Mit der Kirche aber wäre die Volksschule berufen, zu arbeiten, die idealen
Interessen so fest zu begründen, daß sie nicht bei dein ersten besten Windstoß,
den das Leben bringt, sofort umgeworfen werden. Sie hat ja die Jugend
eine Zeit lang in der Hciud, vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre, wenn
wir die Fortbildungsschule mit dazu rechnen. Sollte sie in den zehn Jahren
nichts erreichen können? Sollte sie sich ganz machtlos erweisen gegenüber den
zerstörenden Einflüssen, mit denen das ältere Arbeitergeschlecht das heran¬
wachsende zu zersetzen sucht? Wir sind überzeugt, daß sie nicht machtlos ist.
Nur muß sie es aufgeben, in der Menge der Wissensstoffe, im religiösen wie
in dem profanen Unterricht, das Heil zu erblicken. Die Masse thuts wahrlich
uicht. Aber so verblendet ist das Schulregiment immer noch, daß es alles
eingepaukte Wissen ohne weiteres für Kraft hält, während es doch uur die
Fracht von hundert Kameelen bedeutet, die abgeworfen wird, sobald das Ziel
erreicht ist. Auch hier gilt es, wenn etwas erreicht werden soll, mit manchem
alten, unbrauchbar und darum schädlich gewordenen zu brechen und ein Neues
entsprechend deu neuen Verhältnissen zu bauen.

Welch entzückender Ausblick eröffnet sich in dem Gedanken, daß eine Er¬
ziehungsform oder ein Erziehungssystem gefunden werden könnte, das imstande


Sozialismus und Erziehung

sozialen Fragen die Aufgaben der Erziehung in innige Beziehung setzt, zeugt
von tiefer staatsmäunischer Einsicht. Denn die auf die Verbesserung der
materiellen Lage der arbeitenden Klassen gerichteten Bestrebungen treffen, so
notwendig und unabweisbar sie sind, doch nur zunächst das Äußere. Die
innere Zufriedenheit, die Aussöhnung mit ihrem Geschick und mit der Leitung
des Staatswesens, dem sie sich als unentbehrliche Glieder einordnen, kann den
arbeitenden Klassen nur daun wahrhaft und dauernd gebracht werden, wenn
sich mit der Hebung der äußern Lage eine sorgfältige, den Verhältnissen an¬
gepaßte Erziehungsweise und eine vernünftige Pflege der geistigen Interessen
verbindet.

Das letztere wäre ohne Zweifel Pflicht der Kirche, vor allem der evange¬
lischen. Und wirklich erinnert sich diese auch in neuerer Zeit dieser Pflicht.
Es beginnt auch bei dem liberalen Teil ihrer Beamten die Überzeugung zu
dämmern, daß mit der Sonntagspredigt doch uur ein kleiner und recht un¬
wesentlicher und unwirksamer Teil ihres Berufes erledigt sei. Denn wenn
auch alle Geistlichen, nicht bloß einzelne, mit Engelzungen redeten, was nützt
es denn, da die davon nicht berührt und beeinflußt werden, die in erster Linie
davon getroffen werden sollten? So lange die Herren ihren Schwerpunkt nicht
in die Seelsorge legen, so lange sind sie wohl Diener des Wortes, aber nicht
Diener der That. Nachdem die evangelische Kirche Jahrhunderte lang gepredigt
hat, möchte sie nun auf einige Jahrzehnte thatkräftig handeln. Nach dieser
Seite hin könnte ein vielgeschmähter Maun seinen Amtsbrüdern immerhin als
leuchtendes Beispiel dienen!

Mit der Kirche aber wäre die Volksschule berufen, zu arbeiten, die idealen
Interessen so fest zu begründen, daß sie nicht bei dein ersten besten Windstoß,
den das Leben bringt, sofort umgeworfen werden. Sie hat ja die Jugend
eine Zeit lang in der Hciud, vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre, wenn
wir die Fortbildungsschule mit dazu rechnen. Sollte sie in den zehn Jahren
nichts erreichen können? Sollte sie sich ganz machtlos erweisen gegenüber den
zerstörenden Einflüssen, mit denen das ältere Arbeitergeschlecht das heran¬
wachsende zu zersetzen sucht? Wir sind überzeugt, daß sie nicht machtlos ist.
Nur muß sie es aufgeben, in der Menge der Wissensstoffe, im religiösen wie
in dem profanen Unterricht, das Heil zu erblicken. Die Masse thuts wahrlich
uicht. Aber so verblendet ist das Schulregiment immer noch, daß es alles
eingepaukte Wissen ohne weiteres für Kraft hält, während es doch uur die
Fracht von hundert Kameelen bedeutet, die abgeworfen wird, sobald das Ziel
erreicht ist. Auch hier gilt es, wenn etwas erreicht werden soll, mit manchem
alten, unbrauchbar und darum schädlich gewordenen zu brechen und ein Neues
entsprechend deu neuen Verhältnissen zu bauen.

Welch entzückender Ausblick eröffnet sich in dem Gedanken, daß eine Er¬
ziehungsform oder ein Erziehungssystem gefunden werden könnte, das imstande


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[0500] Sozialismus und Erziehung sozialen Fragen die Aufgaben der Erziehung in innige Beziehung setzt, zeugt von tiefer staatsmäunischer Einsicht. Denn die auf die Verbesserung der materiellen Lage der arbeitenden Klassen gerichteten Bestrebungen treffen, so notwendig und unabweisbar sie sind, doch nur zunächst das Äußere. Die innere Zufriedenheit, die Aussöhnung mit ihrem Geschick und mit der Leitung des Staatswesens, dem sie sich als unentbehrliche Glieder einordnen, kann den arbeitenden Klassen nur daun wahrhaft und dauernd gebracht werden, wenn sich mit der Hebung der äußern Lage eine sorgfältige, den Verhältnissen an¬ gepaßte Erziehungsweise und eine vernünftige Pflege der geistigen Interessen verbindet. Das letztere wäre ohne Zweifel Pflicht der Kirche, vor allem der evange¬ lischen. Und wirklich erinnert sich diese auch in neuerer Zeit dieser Pflicht. Es beginnt auch bei dem liberalen Teil ihrer Beamten die Überzeugung zu dämmern, daß mit der Sonntagspredigt doch uur ein kleiner und recht un¬ wesentlicher und unwirksamer Teil ihres Berufes erledigt sei. Denn wenn auch alle Geistlichen, nicht bloß einzelne, mit Engelzungen redeten, was nützt es denn, da die davon nicht berührt und beeinflußt werden, die in erster Linie davon getroffen werden sollten? So lange die Herren ihren Schwerpunkt nicht in die Seelsorge legen, so lange sind sie wohl Diener des Wortes, aber nicht Diener der That. Nachdem die evangelische Kirche Jahrhunderte lang gepredigt hat, möchte sie nun auf einige Jahrzehnte thatkräftig handeln. Nach dieser Seite hin könnte ein vielgeschmähter Maun seinen Amtsbrüdern immerhin als leuchtendes Beispiel dienen! Mit der Kirche aber wäre die Volksschule berufen, zu arbeiten, die idealen Interessen so fest zu begründen, daß sie nicht bei dein ersten besten Windstoß, den das Leben bringt, sofort umgeworfen werden. Sie hat ja die Jugend eine Zeit lang in der Hciud, vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre, wenn wir die Fortbildungsschule mit dazu rechnen. Sollte sie in den zehn Jahren nichts erreichen können? Sollte sie sich ganz machtlos erweisen gegenüber den zerstörenden Einflüssen, mit denen das ältere Arbeitergeschlecht das heran¬ wachsende zu zersetzen sucht? Wir sind überzeugt, daß sie nicht machtlos ist. Nur muß sie es aufgeben, in der Menge der Wissensstoffe, im religiösen wie in dem profanen Unterricht, das Heil zu erblicken. Die Masse thuts wahrlich uicht. Aber so verblendet ist das Schulregiment immer noch, daß es alles eingepaukte Wissen ohne weiteres für Kraft hält, während es doch uur die Fracht von hundert Kameelen bedeutet, die abgeworfen wird, sobald das Ziel erreicht ist. Auch hier gilt es, wenn etwas erreicht werden soll, mit manchem alten, unbrauchbar und darum schädlich gewordenen zu brechen und ein Neues entsprechend deu neuen Verhältnissen zu bauen. Welch entzückender Ausblick eröffnet sich in dem Gedanken, daß eine Er¬ ziehungsform oder ein Erziehungssystem gefunden werden könnte, das imstande

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/500>, abgerufen am 28.12.2024.