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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Sozialismus und Erziehung

rascher wirtschaftlicher Bewegung durch die Beispiele hochgesteigertcr Lebens¬
führung einzelner für die Gesamtheit erwachsen."

In diesem Erlaß spiegeln sich einige der Mächte wieder, die auf die Er¬
ziehung des heranwachsende!? Geschlechts bestimmend einwirken. Denn wenn
einerseits eine planvolle Erziehung auf dem Verhältnis zwischen Erzieher und
Zögling beruht, so macht sich anderseits als ebenso grundlegend und einflu߬
reich das Verhältnis von Geschlecht zu Geschlecht geltend. Nur daß hier von
einer planvollen Thätigkeit nicht die Rede sein kann. Hier findet Assimilation,
dort Erziehung statt. Welches ist die stärkere Macht? Bald scheint das eine,
bald das andre das Übergewicht zu haben. Die Erziehung sollte die stärkere
Macht sein; sie sollte alles das in sich vereinigen, was an guten Einflüssen
in der Gesellschaft wirksam ist, sie sollte alles in sich auflösen, was an schlechten
Wirkungen von dem ältern Geschlecht ausgeht. Oft auch birgt eine hoch will¬
kommene Strömung Gefahren in sich. So brachte der Aufschwung, den
unser Volk seit der nationalen Einigung auf allen Gebieten menschlichen Denkens
und Handelns genommen hat, ein erneutes Nachdenken, eine vertiefte Betrach¬
tung der großen Erziehungsfragen mit, von deren richtiger Beantwortung das
Gedeihen des Ganzen im wesentlichen abhängt. Dabei scheut aber der deutsch-
nationale Gedanke nicht davor zurück, alles Fremde von unsrer Bildung aus¬
zuscheiden, namentlich auch die klassische Grundlage unsrer höhern Bildung
aus den Gymnasien zu entfernen, um sie auf deu Besitz weniger Gelehrten
einzuschränken. Das sind Krisen, die bei jeder Entwicklung hervortreten, sobald
diese ein rascheres Tempo annimmt. Sie sind nicht ohne heilsame Wirkung,
insofern sie auf eine erneute Untersuchung der Lebenssäfte hinweisen, die den
Körper der Nation durchziehen, zu dem Zwecke, alle krankhaften Erscheinungen
auszustoßen. Allerdings darf die Nation in den Krisen nicht stecken bleiben,
sie muß sie überwinden, sonst geht sie zu Grunde, so gut wie der Einzelne,
der einer Krisis, sei es ans geistigem, sei es ans körperlichem Gebiet, nicht den
nötigen Widerstand entgegenzusetzen vermag.

Am schärfsten spitzen sich die Krisen auf sozialem Gebiete zu, nicht uur
soweit diese die wirtschaftlichen, sondern auch die Kulturverhältnisse im engern
Sinne betreffen. Wie große Reformen hier bei uns eingeleitet worden sind,
dürfen wir rühmend hervorheben. Eingeleitet -- noch lange nicht vollendet.
Das Ringen des vierten Standes nach materieller Hebung in Verbindung mit
einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse steht im Vordergründe
der geistigen Bewegung. Wird sie auch zur Zeit von vielen noch nicht be¬
griffen, weil sie sich von liebgewordenen Vorurteilen nicht trennen können, so
wird die soziale Frage kraft ihrer innewohnenden Bedeutung und ihrem drohenden
Ausblicke sich immer stärker aufdrängen.

Wie das Kaisertum hier vorangegangen ist, weil es die Zeichen der Zeit
versteht, ist schon mehrfach hervorgehoben worden. Daß es nun auch zu den


Sozialismus und Erziehung

rascher wirtschaftlicher Bewegung durch die Beispiele hochgesteigertcr Lebens¬
führung einzelner für die Gesamtheit erwachsen."

In diesem Erlaß spiegeln sich einige der Mächte wieder, die auf die Er¬
ziehung des heranwachsende!? Geschlechts bestimmend einwirken. Denn wenn
einerseits eine planvolle Erziehung auf dem Verhältnis zwischen Erzieher und
Zögling beruht, so macht sich anderseits als ebenso grundlegend und einflu߬
reich das Verhältnis von Geschlecht zu Geschlecht geltend. Nur daß hier von
einer planvollen Thätigkeit nicht die Rede sein kann. Hier findet Assimilation,
dort Erziehung statt. Welches ist die stärkere Macht? Bald scheint das eine,
bald das andre das Übergewicht zu haben. Die Erziehung sollte die stärkere
Macht sein; sie sollte alles das in sich vereinigen, was an guten Einflüssen
in der Gesellschaft wirksam ist, sie sollte alles in sich auflösen, was an schlechten
Wirkungen von dem ältern Geschlecht ausgeht. Oft auch birgt eine hoch will¬
kommene Strömung Gefahren in sich. So brachte der Aufschwung, den
unser Volk seit der nationalen Einigung auf allen Gebieten menschlichen Denkens
und Handelns genommen hat, ein erneutes Nachdenken, eine vertiefte Betrach¬
tung der großen Erziehungsfragen mit, von deren richtiger Beantwortung das
Gedeihen des Ganzen im wesentlichen abhängt. Dabei scheut aber der deutsch-
nationale Gedanke nicht davor zurück, alles Fremde von unsrer Bildung aus¬
zuscheiden, namentlich auch die klassische Grundlage unsrer höhern Bildung
aus den Gymnasien zu entfernen, um sie auf deu Besitz weniger Gelehrten
einzuschränken. Das sind Krisen, die bei jeder Entwicklung hervortreten, sobald
diese ein rascheres Tempo annimmt. Sie sind nicht ohne heilsame Wirkung,
insofern sie auf eine erneute Untersuchung der Lebenssäfte hinweisen, die den
Körper der Nation durchziehen, zu dem Zwecke, alle krankhaften Erscheinungen
auszustoßen. Allerdings darf die Nation in den Krisen nicht stecken bleiben,
sie muß sie überwinden, sonst geht sie zu Grunde, so gut wie der Einzelne,
der einer Krisis, sei es ans geistigem, sei es ans körperlichem Gebiet, nicht den
nötigen Widerstand entgegenzusetzen vermag.

Am schärfsten spitzen sich die Krisen auf sozialem Gebiete zu, nicht uur
soweit diese die wirtschaftlichen, sondern auch die Kulturverhältnisse im engern
Sinne betreffen. Wie große Reformen hier bei uns eingeleitet worden sind,
dürfen wir rühmend hervorheben. Eingeleitet — noch lange nicht vollendet.
Das Ringen des vierten Standes nach materieller Hebung in Verbindung mit
einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse steht im Vordergründe
der geistigen Bewegung. Wird sie auch zur Zeit von vielen noch nicht be¬
griffen, weil sie sich von liebgewordenen Vorurteilen nicht trennen können, so
wird die soziale Frage kraft ihrer innewohnenden Bedeutung und ihrem drohenden
Ausblicke sich immer stärker aufdrängen.

Wie das Kaisertum hier vorangegangen ist, weil es die Zeichen der Zeit
versteht, ist schon mehrfach hervorgehoben worden. Daß es nun auch zu den


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[0499] Sozialismus und Erziehung rascher wirtschaftlicher Bewegung durch die Beispiele hochgesteigertcr Lebens¬ führung einzelner für die Gesamtheit erwachsen." In diesem Erlaß spiegeln sich einige der Mächte wieder, die auf die Er¬ ziehung des heranwachsende!? Geschlechts bestimmend einwirken. Denn wenn einerseits eine planvolle Erziehung auf dem Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling beruht, so macht sich anderseits als ebenso grundlegend und einflu߬ reich das Verhältnis von Geschlecht zu Geschlecht geltend. Nur daß hier von einer planvollen Thätigkeit nicht die Rede sein kann. Hier findet Assimilation, dort Erziehung statt. Welches ist die stärkere Macht? Bald scheint das eine, bald das andre das Übergewicht zu haben. Die Erziehung sollte die stärkere Macht sein; sie sollte alles das in sich vereinigen, was an guten Einflüssen in der Gesellschaft wirksam ist, sie sollte alles in sich auflösen, was an schlechten Wirkungen von dem ältern Geschlecht ausgeht. Oft auch birgt eine hoch will¬ kommene Strömung Gefahren in sich. So brachte der Aufschwung, den unser Volk seit der nationalen Einigung auf allen Gebieten menschlichen Denkens und Handelns genommen hat, ein erneutes Nachdenken, eine vertiefte Betrach¬ tung der großen Erziehungsfragen mit, von deren richtiger Beantwortung das Gedeihen des Ganzen im wesentlichen abhängt. Dabei scheut aber der deutsch- nationale Gedanke nicht davor zurück, alles Fremde von unsrer Bildung aus¬ zuscheiden, namentlich auch die klassische Grundlage unsrer höhern Bildung aus den Gymnasien zu entfernen, um sie auf deu Besitz weniger Gelehrten einzuschränken. Das sind Krisen, die bei jeder Entwicklung hervortreten, sobald diese ein rascheres Tempo annimmt. Sie sind nicht ohne heilsame Wirkung, insofern sie auf eine erneute Untersuchung der Lebenssäfte hinweisen, die den Körper der Nation durchziehen, zu dem Zwecke, alle krankhaften Erscheinungen auszustoßen. Allerdings darf die Nation in den Krisen nicht stecken bleiben, sie muß sie überwinden, sonst geht sie zu Grunde, so gut wie der Einzelne, der einer Krisis, sei es ans geistigem, sei es ans körperlichem Gebiet, nicht den nötigen Widerstand entgegenzusetzen vermag. Am schärfsten spitzen sich die Krisen auf sozialem Gebiete zu, nicht uur soweit diese die wirtschaftlichen, sondern auch die Kulturverhältnisse im engern Sinne betreffen. Wie große Reformen hier bei uns eingeleitet worden sind, dürfen wir rühmend hervorheben. Eingeleitet — noch lange nicht vollendet. Das Ringen des vierten Standes nach materieller Hebung in Verbindung mit einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse steht im Vordergründe der geistigen Bewegung. Wird sie auch zur Zeit von vielen noch nicht be¬ griffen, weil sie sich von liebgewordenen Vorurteilen nicht trennen können, so wird die soziale Frage kraft ihrer innewohnenden Bedeutung und ihrem drohenden Ausblicke sich immer stärker aufdrängen. Wie das Kaisertum hier vorangegangen ist, weil es die Zeichen der Zeit versteht, ist schon mehrfach hervorgehoben worden. Daß es nun auch zu den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/499>, abgerufen am 01.07.2024.