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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart

der Kirche sind. Die Reihe kirchlicher Anstalten ist lang, was ein Mitteln und
Kräften aufgewendet wird, ist nicht unbedeutend, aber der Erfolg ist im Ver¬
hältnis zur Aufgabe verschwindend klein. Es sind immer nur einzelne, die
gerettet oder bewahrt oder gepflegt werden können. Das muß der Kirche ge¬
nügen; sie hat es mit der einzelnen Seele, mit dem "Nächsten" zu thun. Der
Nächste ist aber der, den sie erreichen kann und der sich erreichen läßt. Was
aber die Seelsorge betrifft, so möchte ich wohl wissen, ob so viele, die das
Wort brauchen, auch wissen, was Seelsorge sei. Seelsorge ist ein geistlicher
Rat, der nur dem gegeben werden kann und darf und nur bei dem hilft, der
sich beraten läßt. Seelsorge kann sich mir auf die noch kirchlichen Bestandteile
der Gemeinde beziehen. Versteht man aber unter Seelsorge eine persönliche
Thätigkeit in der Gemeinde, so kann man sich bei einiger Gerechtigkeit nicht
beklagen, daß es daran fehle. Truge Leute giebt es natürlich in jedem Stande;
im allgemeinen kann man sagen, daß es an Arbeit der Geistlichen außerhalb
der Kirchenmauern keineswegs mangelt, daß vielmehr eine gewisse hastige Viel¬
geschäftigkeit Platz gegriffen hat, der man einige Sammlung und Beschränkung
empfehlen könnte. Wenn nun diese Thätigkeit nicht das bewirkt, was man
hoffte, so liegt das daran, daß, wo sie besonders nötig ist, das heißt in den
großen Gemeinden, die Kräfte nicht entfernt ausreichen, und daran, daß sie
ihrer Natur nach in den Kreisen, wo sie Einfluß ausüben sollte, nicht wirken
kann. Da, wo der Einfluß der Sozialdemokratie beginnt, hat der der Kirche
längst aufgehört. Auch wird eine väterliche Vermcihnung dort, wo das Haus
seine Schuldigkeit nicht thut oder da, wo die Werkstatt oder die Mitarbeiter¬
schaft eine erdrückende Herrschaft auf den Einzelnen ausübe", wenig ausrichten.
Der Lehrling oder Geselle wird so lauge geschunden, bis er mit in das Horn
der Führer stößt, der ordentliche Arbeiter, der es ablehnt, sozialistische Schriften
zu lesen und zur Streikkasse beizusteuern, wird einfach weggebissen. In diesen
Kreisen hat die Kirche nichts zu suchen, solchen Mitteln hat sie nichts gleich¬
wertiges entgegenzusetzen. Sie hat ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie lehrte
und Warute, so lange die Leute noch zugänglich waren.

Ganz anders gestaltet sich die Aufgabe des Staates. Die staatliche Auf¬
gabe empfängt ihren Umfang durch die Grenzpfühle und die Bevölkerungsziffer.
Der Staat kann die Grenze seiner Thätigkeit nicht enger ziehen, als seine eignen
Grenzen sind, er hat es selbst mit denen zu thun, die sich außerhalb der Ge¬
setze stellen. Wenn also die Kirche helfen soll, und wenn diese Hilfe etwas
schaffen soll, so heißt das: die Kirche soll sich an diesen weitern Aufgaben
des Staates beteiligen, denn ihre eigne Arbeit macht sie doch so wie so.

Eine solche Beteiligung wäre etwas ganz natürliches, wenn die Dinge so
geblieben wären, wie sie zur Zeit der Nieformation waren. Damals wurde
bei der Gründung der evangelischen Kirche der christliche Staat gleichsam als
Vorhof der Kirche angesehen. Er hatte die Verwaltung der weltlichen Ge-


Die Aufgabe der Gegenwart

der Kirche sind. Die Reihe kirchlicher Anstalten ist lang, was ein Mitteln und
Kräften aufgewendet wird, ist nicht unbedeutend, aber der Erfolg ist im Ver¬
hältnis zur Aufgabe verschwindend klein. Es sind immer nur einzelne, die
gerettet oder bewahrt oder gepflegt werden können. Das muß der Kirche ge¬
nügen; sie hat es mit der einzelnen Seele, mit dem „Nächsten" zu thun. Der
Nächste ist aber der, den sie erreichen kann und der sich erreichen läßt. Was
aber die Seelsorge betrifft, so möchte ich wohl wissen, ob so viele, die das
Wort brauchen, auch wissen, was Seelsorge sei. Seelsorge ist ein geistlicher
Rat, der nur dem gegeben werden kann und darf und nur bei dem hilft, der
sich beraten läßt. Seelsorge kann sich mir auf die noch kirchlichen Bestandteile
der Gemeinde beziehen. Versteht man aber unter Seelsorge eine persönliche
Thätigkeit in der Gemeinde, so kann man sich bei einiger Gerechtigkeit nicht
beklagen, daß es daran fehle. Truge Leute giebt es natürlich in jedem Stande;
im allgemeinen kann man sagen, daß es an Arbeit der Geistlichen außerhalb
der Kirchenmauern keineswegs mangelt, daß vielmehr eine gewisse hastige Viel¬
geschäftigkeit Platz gegriffen hat, der man einige Sammlung und Beschränkung
empfehlen könnte. Wenn nun diese Thätigkeit nicht das bewirkt, was man
hoffte, so liegt das daran, daß, wo sie besonders nötig ist, das heißt in den
großen Gemeinden, die Kräfte nicht entfernt ausreichen, und daran, daß sie
ihrer Natur nach in den Kreisen, wo sie Einfluß ausüben sollte, nicht wirken
kann. Da, wo der Einfluß der Sozialdemokratie beginnt, hat der der Kirche
längst aufgehört. Auch wird eine väterliche Vermcihnung dort, wo das Haus
seine Schuldigkeit nicht thut oder da, wo die Werkstatt oder die Mitarbeiter¬
schaft eine erdrückende Herrschaft auf den Einzelnen ausübe«, wenig ausrichten.
Der Lehrling oder Geselle wird so lauge geschunden, bis er mit in das Horn
der Führer stößt, der ordentliche Arbeiter, der es ablehnt, sozialistische Schriften
zu lesen und zur Streikkasse beizusteuern, wird einfach weggebissen. In diesen
Kreisen hat die Kirche nichts zu suchen, solchen Mitteln hat sie nichts gleich¬
wertiges entgegenzusetzen. Sie hat ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie lehrte
und Warute, so lange die Leute noch zugänglich waren.

Ganz anders gestaltet sich die Aufgabe des Staates. Die staatliche Auf¬
gabe empfängt ihren Umfang durch die Grenzpfühle und die Bevölkerungsziffer.
Der Staat kann die Grenze seiner Thätigkeit nicht enger ziehen, als seine eignen
Grenzen sind, er hat es selbst mit denen zu thun, die sich außerhalb der Ge¬
setze stellen. Wenn also die Kirche helfen soll, und wenn diese Hilfe etwas
schaffen soll, so heißt das: die Kirche soll sich an diesen weitern Aufgaben
des Staates beteiligen, denn ihre eigne Arbeit macht sie doch so wie so.

Eine solche Beteiligung wäre etwas ganz natürliches, wenn die Dinge so
geblieben wären, wie sie zur Zeit der Nieformation waren. Damals wurde
bei der Gründung der evangelischen Kirche der christliche Staat gleichsam als
Vorhof der Kirche angesehen. Er hatte die Verwaltung der weltlichen Ge-


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[0492] Die Aufgabe der Gegenwart der Kirche sind. Die Reihe kirchlicher Anstalten ist lang, was ein Mitteln und Kräften aufgewendet wird, ist nicht unbedeutend, aber der Erfolg ist im Ver¬ hältnis zur Aufgabe verschwindend klein. Es sind immer nur einzelne, die gerettet oder bewahrt oder gepflegt werden können. Das muß der Kirche ge¬ nügen; sie hat es mit der einzelnen Seele, mit dem „Nächsten" zu thun. Der Nächste ist aber der, den sie erreichen kann und der sich erreichen läßt. Was aber die Seelsorge betrifft, so möchte ich wohl wissen, ob so viele, die das Wort brauchen, auch wissen, was Seelsorge sei. Seelsorge ist ein geistlicher Rat, der nur dem gegeben werden kann und darf und nur bei dem hilft, der sich beraten läßt. Seelsorge kann sich mir auf die noch kirchlichen Bestandteile der Gemeinde beziehen. Versteht man aber unter Seelsorge eine persönliche Thätigkeit in der Gemeinde, so kann man sich bei einiger Gerechtigkeit nicht beklagen, daß es daran fehle. Truge Leute giebt es natürlich in jedem Stande; im allgemeinen kann man sagen, daß es an Arbeit der Geistlichen außerhalb der Kirchenmauern keineswegs mangelt, daß vielmehr eine gewisse hastige Viel¬ geschäftigkeit Platz gegriffen hat, der man einige Sammlung und Beschränkung empfehlen könnte. Wenn nun diese Thätigkeit nicht das bewirkt, was man hoffte, so liegt das daran, daß, wo sie besonders nötig ist, das heißt in den großen Gemeinden, die Kräfte nicht entfernt ausreichen, und daran, daß sie ihrer Natur nach in den Kreisen, wo sie Einfluß ausüben sollte, nicht wirken kann. Da, wo der Einfluß der Sozialdemokratie beginnt, hat der der Kirche längst aufgehört. Auch wird eine väterliche Vermcihnung dort, wo das Haus seine Schuldigkeit nicht thut oder da, wo die Werkstatt oder die Mitarbeiter¬ schaft eine erdrückende Herrschaft auf den Einzelnen ausübe«, wenig ausrichten. Der Lehrling oder Geselle wird so lauge geschunden, bis er mit in das Horn der Führer stößt, der ordentliche Arbeiter, der es ablehnt, sozialistische Schriften zu lesen und zur Streikkasse beizusteuern, wird einfach weggebissen. In diesen Kreisen hat die Kirche nichts zu suchen, solchen Mitteln hat sie nichts gleich¬ wertiges entgegenzusetzen. Sie hat ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie lehrte und Warute, so lange die Leute noch zugänglich waren. Ganz anders gestaltet sich die Aufgabe des Staates. Die staatliche Auf¬ gabe empfängt ihren Umfang durch die Grenzpfühle und die Bevölkerungsziffer. Der Staat kann die Grenze seiner Thätigkeit nicht enger ziehen, als seine eignen Grenzen sind, er hat es selbst mit denen zu thun, die sich außerhalb der Ge¬ setze stellen. Wenn also die Kirche helfen soll, und wenn diese Hilfe etwas schaffen soll, so heißt das: die Kirche soll sich an diesen weitern Aufgaben des Staates beteiligen, denn ihre eigne Arbeit macht sie doch so wie so. Eine solche Beteiligung wäre etwas ganz natürliches, wenn die Dinge so geblieben wären, wie sie zur Zeit der Nieformation waren. Damals wurde bei der Gründung der evangelischen Kirche der christliche Staat gleichsam als Vorhof der Kirche angesehen. Er hatte die Verwaltung der weltlichen Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/492>, abgerufen am 01.07.2024.