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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart

Hier sieht man doch nicht eine Spur von Sozialismus mehr, sondern nur
Faulheit, Übermut und Genußsucht, mit einem Worte, Zeichen der Ver¬
wilderung.

Natürlich will jedermnnu Recht haben, auch dann, wenn er Unrecht hat,
und so sind die Theorien vom menschenwürdigen Dasein, so ist die Lehre des
Materialismus höchlichst willkommen. Diese Lehren haben die Sozialdemokratie
nicht gemacht, aber sie haben die vorhandenen bösen Triebe genährt und gro߬
gezogen. Der Materialismus ist die Religion der krassen Selbstsucht, es ist
sehr begreiflich, daß ihr jene versetzten, unzufrieden und begehrlich gemachten
Leute mit Begeisterung zufallen. Hier ist es wieder nicht die gedrückte Lage
des Arbeiters, der Kampf ums Brot, um den es sich handelt, sondern ein
sittlicher und religiöser Schade, der einesteils ans dein Boden des Sozialismus
erwachsen ist, andernteils dem Sozialismus die Wege bahnt. Es sind also
Dinge, die die Kirche sehr wohl angehen, ja vielleicht mehr und unmittelbarer
als deu Staat. Man sieht es bei der gegenwärtig vorliegenden Gewerbegesetz¬
uvvelle. Schon wenn er die Sonntagsarbeit verbietet, tritt der Staat auf
kirchliches Gebiet, noch mehr, wenn er sich bemüht, die Autorität der Eltern
einer zucht- und pietätlosen Jugend gegenüber zu stärken. Aber man sieht
auch, daß der Staat auf diesem Gebiete, wenn er nur mit Gesetzen und Straf-
bestimmungen vorgeht, ziemlich wehrlos ist. Ich bin neugierig, welche Para¬
graphen schließlich zutage kommen werden, aber fest überzeugt, daß sie wenig
nützen werden.

Aber die Kirche soll helfen. Der Kaiser hat es gesagt, und an eines
Kaisers Wort soll mau nicht drehn noch deuteln. Wir thun es auch uicht,
sind vielmehr ganz sicher, daß des Kaisers Wort mehr als ein bloßes Wort sei,
daß es nicht mir einen Willen, sondern auch einen Weg bedeute. Inzwischen
steht doch noch vieles im Wege; wie viel, das läßt ein Artikel der "Nord¬
deutschen Allgemeinen Zeitung" erkennen, worin die Geistlichen im Dienste des
Staates zu desto treuerer Seelsorge aufgefordert und alle die Vereine und
Anstalten aufgezählt werden, die der innern Mission dienen. Der Artikel giebt
einer Anschauung Ausdruck, wie sie in weiten Kreisen der Gebildeten und
namentlich auch in denen der höhern Beamtenkreise herrscht. Sie bewegt sich
in der schon früher bezeichneten Denkgewohnheit, sich mit den Dingen schnell
abzufinden, indem man sie einfach begrifflich aneinander reiht. Also: Mit¬
wirkung der Kirche, Seelsorge der Geistlichen, kirchliche Institute, siud vor¬
handen -- fertig! Man hat nnr nötig hinzuzufügen: Auf auf, ihr Herren,
ihr machts euch zu bequem; tummelt euch, springt an!

Als ob es darau läge! Die Aufgabe der Kirche liegt in der Richtung
der staatlichen Aufgabe", aber sie deckt sich nicht mit ihnen. Was die Kirche
an Seelsorge übt, was sie an Werken und Anstalten ins Leben ruft, thut sie
in eigner Sache; ja alle diese Arbeiten haben nur Sinn, insvfem sie Sache


Die Aufgabe der Gegenwart

Hier sieht man doch nicht eine Spur von Sozialismus mehr, sondern nur
Faulheit, Übermut und Genußsucht, mit einem Worte, Zeichen der Ver¬
wilderung.

Natürlich will jedermnnu Recht haben, auch dann, wenn er Unrecht hat,
und so sind die Theorien vom menschenwürdigen Dasein, so ist die Lehre des
Materialismus höchlichst willkommen. Diese Lehren haben die Sozialdemokratie
nicht gemacht, aber sie haben die vorhandenen bösen Triebe genährt und gro߬
gezogen. Der Materialismus ist die Religion der krassen Selbstsucht, es ist
sehr begreiflich, daß ihr jene versetzten, unzufrieden und begehrlich gemachten
Leute mit Begeisterung zufallen. Hier ist es wieder nicht die gedrückte Lage
des Arbeiters, der Kampf ums Brot, um den es sich handelt, sondern ein
sittlicher und religiöser Schade, der einesteils ans dein Boden des Sozialismus
erwachsen ist, andernteils dem Sozialismus die Wege bahnt. Es sind also
Dinge, die die Kirche sehr wohl angehen, ja vielleicht mehr und unmittelbarer
als deu Staat. Man sieht es bei der gegenwärtig vorliegenden Gewerbegesetz¬
uvvelle. Schon wenn er die Sonntagsarbeit verbietet, tritt der Staat auf
kirchliches Gebiet, noch mehr, wenn er sich bemüht, die Autorität der Eltern
einer zucht- und pietätlosen Jugend gegenüber zu stärken. Aber man sieht
auch, daß der Staat auf diesem Gebiete, wenn er nur mit Gesetzen und Straf-
bestimmungen vorgeht, ziemlich wehrlos ist. Ich bin neugierig, welche Para¬
graphen schließlich zutage kommen werden, aber fest überzeugt, daß sie wenig
nützen werden.

Aber die Kirche soll helfen. Der Kaiser hat es gesagt, und an eines
Kaisers Wort soll mau nicht drehn noch deuteln. Wir thun es auch uicht,
sind vielmehr ganz sicher, daß des Kaisers Wort mehr als ein bloßes Wort sei,
daß es nicht mir einen Willen, sondern auch einen Weg bedeute. Inzwischen
steht doch noch vieles im Wege; wie viel, das läßt ein Artikel der „Nord¬
deutschen Allgemeinen Zeitung" erkennen, worin die Geistlichen im Dienste des
Staates zu desto treuerer Seelsorge aufgefordert und alle die Vereine und
Anstalten aufgezählt werden, die der innern Mission dienen. Der Artikel giebt
einer Anschauung Ausdruck, wie sie in weiten Kreisen der Gebildeten und
namentlich auch in denen der höhern Beamtenkreise herrscht. Sie bewegt sich
in der schon früher bezeichneten Denkgewohnheit, sich mit den Dingen schnell
abzufinden, indem man sie einfach begrifflich aneinander reiht. Also: Mit¬
wirkung der Kirche, Seelsorge der Geistlichen, kirchliche Institute, siud vor¬
handen — fertig! Man hat nnr nötig hinzuzufügen: Auf auf, ihr Herren,
ihr machts euch zu bequem; tummelt euch, springt an!

Als ob es darau läge! Die Aufgabe der Kirche liegt in der Richtung
der staatlichen Aufgabe«, aber sie deckt sich nicht mit ihnen. Was die Kirche
an Seelsorge übt, was sie an Werken und Anstalten ins Leben ruft, thut sie
in eigner Sache; ja alle diese Arbeiten haben nur Sinn, insvfem sie Sache


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[0491] Die Aufgabe der Gegenwart Hier sieht man doch nicht eine Spur von Sozialismus mehr, sondern nur Faulheit, Übermut und Genußsucht, mit einem Worte, Zeichen der Ver¬ wilderung. Natürlich will jedermnnu Recht haben, auch dann, wenn er Unrecht hat, und so sind die Theorien vom menschenwürdigen Dasein, so ist die Lehre des Materialismus höchlichst willkommen. Diese Lehren haben die Sozialdemokratie nicht gemacht, aber sie haben die vorhandenen bösen Triebe genährt und gro߬ gezogen. Der Materialismus ist die Religion der krassen Selbstsucht, es ist sehr begreiflich, daß ihr jene versetzten, unzufrieden und begehrlich gemachten Leute mit Begeisterung zufallen. Hier ist es wieder nicht die gedrückte Lage des Arbeiters, der Kampf ums Brot, um den es sich handelt, sondern ein sittlicher und religiöser Schade, der einesteils ans dein Boden des Sozialismus erwachsen ist, andernteils dem Sozialismus die Wege bahnt. Es sind also Dinge, die die Kirche sehr wohl angehen, ja vielleicht mehr und unmittelbarer als deu Staat. Man sieht es bei der gegenwärtig vorliegenden Gewerbegesetz¬ uvvelle. Schon wenn er die Sonntagsarbeit verbietet, tritt der Staat auf kirchliches Gebiet, noch mehr, wenn er sich bemüht, die Autorität der Eltern einer zucht- und pietätlosen Jugend gegenüber zu stärken. Aber man sieht auch, daß der Staat auf diesem Gebiete, wenn er nur mit Gesetzen und Straf- bestimmungen vorgeht, ziemlich wehrlos ist. Ich bin neugierig, welche Para¬ graphen schließlich zutage kommen werden, aber fest überzeugt, daß sie wenig nützen werden. Aber die Kirche soll helfen. Der Kaiser hat es gesagt, und an eines Kaisers Wort soll mau nicht drehn noch deuteln. Wir thun es auch uicht, sind vielmehr ganz sicher, daß des Kaisers Wort mehr als ein bloßes Wort sei, daß es nicht mir einen Willen, sondern auch einen Weg bedeute. Inzwischen steht doch noch vieles im Wege; wie viel, das läßt ein Artikel der „Nord¬ deutschen Allgemeinen Zeitung" erkennen, worin die Geistlichen im Dienste des Staates zu desto treuerer Seelsorge aufgefordert und alle die Vereine und Anstalten aufgezählt werden, die der innern Mission dienen. Der Artikel giebt einer Anschauung Ausdruck, wie sie in weiten Kreisen der Gebildeten und namentlich auch in denen der höhern Beamtenkreise herrscht. Sie bewegt sich in der schon früher bezeichneten Denkgewohnheit, sich mit den Dingen schnell abzufinden, indem man sie einfach begrifflich aneinander reiht. Also: Mit¬ wirkung der Kirche, Seelsorge der Geistlichen, kirchliche Institute, siud vor¬ handen — fertig! Man hat nnr nötig hinzuzufügen: Auf auf, ihr Herren, ihr machts euch zu bequem; tummelt euch, springt an! Als ob es darau läge! Die Aufgabe der Kirche liegt in der Richtung der staatlichen Aufgabe«, aber sie deckt sich nicht mit ihnen. Was die Kirche an Seelsorge übt, was sie an Werken und Anstalten ins Leben ruft, thut sie in eigner Sache; ja alle diese Arbeiten haben nur Sinn, insvfem sie Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/491>, abgerufen am 28.06.2024.