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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart

auf Erden, Man erkennt schon ans diesen kurzen Sätzen, daß der Boden, auf
dem sie erwachsen sind, viel mehr in das Reich der Sitte, der Religion, des
Charakters, als ins soziale Gebiet gehört. Soziale Mißstände sind vorhanden
gewesen, die Ausbeutung des Arbeiters durch das Kapital hat stattgefunden,
Grund zu Unzufriedenheit war da, aber die Begehrlichkeit und Herrschsucht der
gegenwärtigen Sozialdemokratie geht weit darüber hinaus. Der Sozialdemokrat
von heute ist ein junger Mensch, der ohne Zügel und Zucht aufgewachsen ist,
mit fünfzehn Jahren selbständig geworden ist, ein für sein Alter hohes Ein¬
kommen hat, aber stets mehr braucht, als er einnimmt. Es ist ein Mensch, der vor
nichts Achtung hat, der nichts kennt als die ödeste Selbstsucht, der niemandem
gehorchen will, der sich einen Arbeiter nennt, aber die Arbeit für das größte
Übel hält und glaubt, sich alles Glück auf Erden in Volksversammlungen er-
brülleu und erstimmen zu können. Und weil er sich als Teil einer großen,
weltstürmenden Macht fühlt, gebraucht er seiue Macht dem Arbeitgeber gegen¬
über. Es ist doch eine schöne Sache, sich durch Faulenzen höhere Löhne er¬
trotzen zu können. Die meisten der gegenwärtigen Streikbewegungen sind der
reine Übermut. Wenn Not vorhanden ist, so pflegt sie gerade da zu sein,
wo man nicht Streikt. In der Eisleber Gegend haben neulich die Hundejungen
gestreikt; das sind die jungen Burschen, die im Bergwerke den niedrigen Wagen
ziehen, der Hund heißt. Diese erhalten täglich 2 Mark 20 Pfennige Lohn,
also mehr als mancher Landbriefbote, der ein ebenso beschwerliches, aber ver¬
antwortlicheres Amt hat und Weib und Kind zu ernähren hat. Die Jungen
sind sechzehn bis achtzehn Jahre alt, haben für niemand zu sorgen und -- kommen
nicht aus. Natürlich, denn sie sind bei allen Vereinen, besuchen alle Tanz¬
böden und kaufen in Eisleben in den "Fnnfzigpfennigbazars" Geschenke ein, die
sie den Dienstmädchen zuwerfen. So schlimm treibt es ja nun ihr Herr Vater
nicht, aber auch er hat seineu silbernen Seideldeckel und befolgt den Grundsatz:
Was verdient wird, wird versoffen, und die Fran Mutter versteht uicht zu
wirtschaften, wenn sie auch wollte. Das sind die Mansfelder Bergleute, deren
Lob von gewisser Seite kürzlich mit Trommeln und Trompeten verkündet wurde,
weil sie noch konservativ gewählt haben. Man sehe sich die Leute nur näher
an. Die Zigarrenarbeiter, die Handschuhmacher, die Gasarbeiter kämpfen nur
die Herrschaft über ihre Arbeitgeber, indem sie ganz offen den Grundsatz auf¬
stellen: Wir sind so viele Hunderttausend, und ihr seid so wenige, ihr habt
uns zu gehorchen. Der Vauhandwcrker hätte es am liebsten, wenn der Herr
Maurernleister ihm sein Handwerkszeug nachtrüge -- wie es wirklich geschehen
ist --, er frühstückte am liebsten Kaviar, sicherlich leistet er sich ein üppiges
Frühstück, während das Mittagessen schnöde behandelt wird, um Weib und
Kind nichts abgeben zu müssen, und alle betrachten den Tagelohn als eine
Art vou Einkommensteuer, die der "Burschewa" dem Arbeiter zu zahlen hat,
wobei es auf Menge oder Art der Arbeitsleistung nicht weiter ankommt.


Die Aufgabe der Gegenwart

auf Erden, Man erkennt schon ans diesen kurzen Sätzen, daß der Boden, auf
dem sie erwachsen sind, viel mehr in das Reich der Sitte, der Religion, des
Charakters, als ins soziale Gebiet gehört. Soziale Mißstände sind vorhanden
gewesen, die Ausbeutung des Arbeiters durch das Kapital hat stattgefunden,
Grund zu Unzufriedenheit war da, aber die Begehrlichkeit und Herrschsucht der
gegenwärtigen Sozialdemokratie geht weit darüber hinaus. Der Sozialdemokrat
von heute ist ein junger Mensch, der ohne Zügel und Zucht aufgewachsen ist,
mit fünfzehn Jahren selbständig geworden ist, ein für sein Alter hohes Ein¬
kommen hat, aber stets mehr braucht, als er einnimmt. Es ist ein Mensch, der vor
nichts Achtung hat, der nichts kennt als die ödeste Selbstsucht, der niemandem
gehorchen will, der sich einen Arbeiter nennt, aber die Arbeit für das größte
Übel hält und glaubt, sich alles Glück auf Erden in Volksversammlungen er-
brülleu und erstimmen zu können. Und weil er sich als Teil einer großen,
weltstürmenden Macht fühlt, gebraucht er seiue Macht dem Arbeitgeber gegen¬
über. Es ist doch eine schöne Sache, sich durch Faulenzen höhere Löhne er¬
trotzen zu können. Die meisten der gegenwärtigen Streikbewegungen sind der
reine Übermut. Wenn Not vorhanden ist, so pflegt sie gerade da zu sein,
wo man nicht Streikt. In der Eisleber Gegend haben neulich die Hundejungen
gestreikt; das sind die jungen Burschen, die im Bergwerke den niedrigen Wagen
ziehen, der Hund heißt. Diese erhalten täglich 2 Mark 20 Pfennige Lohn,
also mehr als mancher Landbriefbote, der ein ebenso beschwerliches, aber ver¬
antwortlicheres Amt hat und Weib und Kind zu ernähren hat. Die Jungen
sind sechzehn bis achtzehn Jahre alt, haben für niemand zu sorgen und — kommen
nicht aus. Natürlich, denn sie sind bei allen Vereinen, besuchen alle Tanz¬
böden und kaufen in Eisleben in den „Fnnfzigpfennigbazars" Geschenke ein, die
sie den Dienstmädchen zuwerfen. So schlimm treibt es ja nun ihr Herr Vater
nicht, aber auch er hat seineu silbernen Seideldeckel und befolgt den Grundsatz:
Was verdient wird, wird versoffen, und die Fran Mutter versteht uicht zu
wirtschaften, wenn sie auch wollte. Das sind die Mansfelder Bergleute, deren
Lob von gewisser Seite kürzlich mit Trommeln und Trompeten verkündet wurde,
weil sie noch konservativ gewählt haben. Man sehe sich die Leute nur näher
an. Die Zigarrenarbeiter, die Handschuhmacher, die Gasarbeiter kämpfen nur
die Herrschaft über ihre Arbeitgeber, indem sie ganz offen den Grundsatz auf¬
stellen: Wir sind so viele Hunderttausend, und ihr seid so wenige, ihr habt
uns zu gehorchen. Der Vauhandwcrker hätte es am liebsten, wenn der Herr
Maurernleister ihm sein Handwerkszeug nachtrüge — wie es wirklich geschehen
ist —, er frühstückte am liebsten Kaviar, sicherlich leistet er sich ein üppiges
Frühstück, während das Mittagessen schnöde behandelt wird, um Weib und
Kind nichts abgeben zu müssen, und alle betrachten den Tagelohn als eine
Art vou Einkommensteuer, die der „Burschewa" dem Arbeiter zu zahlen hat,
wobei es auf Menge oder Art der Arbeitsleistung nicht weiter ankommt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/490>, abgerufen am 27.12.2024.