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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

Da trat eine Wendung ein, die nur in einem. Lande möglich ist, wo die
Heuchelei und das Muckertum alle Lebensanschauungen so durchtränkt haben, wie
in England. Eine große Zahl gebildeter anständiger Frauen trat zusanunen, um
gegen dieses Gesetz, das angeblich die geheiligten Freiheiten des Weibes beschränkte,
seine Würde mit Füßen trat und die Prostitution in England offiziell anerkannte,
geschlossen vorzugehen. Unter der Leitung einer Miß Vnttler und unter dem
Beifall und der Mitwirkung kurzsichtiger viol'g'vnuzn kam ein Verein zu stunde,
der sich nannte: "I'tlo Iaäiv3 national aWooiation lor tuo revval ok vont"Al"n8
6686^808 ave3, und der alle Kräfte aufwandte, das die ganze englische Nation
angeblich bloßstellende Gesetz vom Jahre 1864 so schnell wie möglich wieder
abzuschaffen. Diesem Vereine mit seineu scheinbar hochherzigen und nationalen
Bestrebungen anzugehören, wurde in der bessern Gesellschaft allmählich zum
Sport. Die geschickt betriebene Agitation machte so große Fortschritte, daß
schon im Jahre 1873 dem Unterhause eine Petition um Abschnffnng jener
Verordnung eingereicht werden konnte. Sie wurde selbstverständlich abgelehnt.
Um so heftiger entbrannte der Kampf. Die ersten Damen Englands traten
dem Vereine bei, und schon im Jahre 1879 kounte eine so umfangreiche Ein-
gabe an das Parlament gemacht werden, daß sich dieses genötigt sah, eine
besondre Kommission zur Untersuchung der Frage zu erwählen. Im Jahre
1882 war diese mit ihrer Beratung fertig; sie entschied sich in der Mehrzahl
für Beibehaltung des Gesetzes von Jahre 1864. Der Kampf dauerte weiter
und wurde immer erbitterter. Man vergaß schließlich, daß es sich im Grunde
um die Unterdrückung der Prostitution und um die Sicherung der öffentlichen
Gesundheit handle. Die Frage wurde zur Parteisache, und endlich im Jahre
1883 zum allgemeinen Entsetzen der Ärzte, der Sittenlehrer und aller ver¬
stündigen Männer die Abschaffung der xrovvntion ave mit Stimmenmehrheit
durchgesetzt. Die Prostituirten haben damit wieder alle Rechte der übrigen
Frauen Englands erhalten; sie sind wieder frei, können thun, was sie wollen
und anstecken, wen sie wollen. Die Unsittlichkeit hat selbstverständlich seitdem
in allen Städten in doppeltem Maße zugenommen, aber die Regierung und
die englischen Frauen haben nun doch das erhebende Bewußtsein, daß es für
sie offiziell keine Prostitution in England mehr giebt und daß man die Eng¬
länder nun wieder das erste der gesitteten Kulturvölker zu nennen Pflegt, üst-
es 1", sagt Reuß, 1s rösulwt imqnsl von1s.it -u/rivor 1" lig'us nos tominoL
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Zwar wurden infolge der unerhörten Enthüllungen, die bald darauf die
Aali-nött 6a?6des brachte, zwei Gesetze von englische" Parlament gegeben, um
die unmündigen Frauenzimmer zu schützen und die drotnols zu unterdrücken; aber
auch diese Verordnungen bleiben gegenüber der persönlichen Freiheit wirkungslos.

So lange die Sanitätspolizei die Prostituirten in ihrer Gewalt hat, kann
wenigstens die Ansteckungsgefahr immer mehr beschränkt werden; gegen die


Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

Da trat eine Wendung ein, die nur in einem. Lande möglich ist, wo die
Heuchelei und das Muckertum alle Lebensanschauungen so durchtränkt haben, wie
in England. Eine große Zahl gebildeter anständiger Frauen trat zusanunen, um
gegen dieses Gesetz, das angeblich die geheiligten Freiheiten des Weibes beschränkte,
seine Würde mit Füßen trat und die Prostitution in England offiziell anerkannte,
geschlossen vorzugehen. Unter der Leitung einer Miß Vnttler und unter dem
Beifall und der Mitwirkung kurzsichtiger viol'g'vnuzn kam ein Verein zu stunde,
der sich nannte: "I'tlo Iaäiv3 national aWooiation lor tuo revval ok vont»Al»n8
6686^808 ave3, und der alle Kräfte aufwandte, das die ganze englische Nation
angeblich bloßstellende Gesetz vom Jahre 1864 so schnell wie möglich wieder
abzuschaffen. Diesem Vereine mit seineu scheinbar hochherzigen und nationalen
Bestrebungen anzugehören, wurde in der bessern Gesellschaft allmählich zum
Sport. Die geschickt betriebene Agitation machte so große Fortschritte, daß
schon im Jahre 1873 dem Unterhause eine Petition um Abschnffnng jener
Verordnung eingereicht werden konnte. Sie wurde selbstverständlich abgelehnt.
Um so heftiger entbrannte der Kampf. Die ersten Damen Englands traten
dem Vereine bei, und schon im Jahre 1879 kounte eine so umfangreiche Ein-
gabe an das Parlament gemacht werden, daß sich dieses genötigt sah, eine
besondre Kommission zur Untersuchung der Frage zu erwählen. Im Jahre
1882 war diese mit ihrer Beratung fertig; sie entschied sich in der Mehrzahl
für Beibehaltung des Gesetzes von Jahre 1864. Der Kampf dauerte weiter
und wurde immer erbitterter. Man vergaß schließlich, daß es sich im Grunde
um die Unterdrückung der Prostitution und um die Sicherung der öffentlichen
Gesundheit handle. Die Frage wurde zur Parteisache, und endlich im Jahre
1883 zum allgemeinen Entsetzen der Ärzte, der Sittenlehrer und aller ver¬
stündigen Männer die Abschaffung der xrovvntion ave mit Stimmenmehrheit
durchgesetzt. Die Prostituirten haben damit wieder alle Rechte der übrigen
Frauen Englands erhalten; sie sind wieder frei, können thun, was sie wollen
und anstecken, wen sie wollen. Die Unsittlichkeit hat selbstverständlich seitdem
in allen Städten in doppeltem Maße zugenommen, aber die Regierung und
die englischen Frauen haben nun doch das erhebende Bewußtsein, daß es für
sie offiziell keine Prostitution in England mehr giebt und daß man die Eng¬
länder nun wieder das erste der gesitteten Kulturvölker zu nennen Pflegt, üst-
es 1», sagt Reuß, 1s rösulwt imqnsl von1s.it -u/rivor 1» lig'us nos tominoL
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Zwar wurden infolge der unerhörten Enthüllungen, die bald darauf die
Aali-nött 6a?6des brachte, zwei Gesetze von englische» Parlament gegeben, um
die unmündigen Frauenzimmer zu schützen und die drotnols zu unterdrücken; aber
auch diese Verordnungen bleiben gegenüber der persönlichen Freiheit wirkungslos.

So lange die Sanitätspolizei die Prostituirten in ihrer Gewalt hat, kann
wenigstens die Ansteckungsgefahr immer mehr beschränkt werden; gegen die


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[0464] Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte Da trat eine Wendung ein, die nur in einem. Lande möglich ist, wo die Heuchelei und das Muckertum alle Lebensanschauungen so durchtränkt haben, wie in England. Eine große Zahl gebildeter anständiger Frauen trat zusanunen, um gegen dieses Gesetz, das angeblich die geheiligten Freiheiten des Weibes beschränkte, seine Würde mit Füßen trat und die Prostitution in England offiziell anerkannte, geschlossen vorzugehen. Unter der Leitung einer Miß Vnttler und unter dem Beifall und der Mitwirkung kurzsichtiger viol'g'vnuzn kam ein Verein zu stunde, der sich nannte: "I'tlo Iaäiv3 national aWooiation lor tuo revval ok vont»Al»n8 6686^808 ave3, und der alle Kräfte aufwandte, das die ganze englische Nation angeblich bloßstellende Gesetz vom Jahre 1864 so schnell wie möglich wieder abzuschaffen. Diesem Vereine mit seineu scheinbar hochherzigen und nationalen Bestrebungen anzugehören, wurde in der bessern Gesellschaft allmählich zum Sport. Die geschickt betriebene Agitation machte so große Fortschritte, daß schon im Jahre 1873 dem Unterhause eine Petition um Abschnffnng jener Verordnung eingereicht werden konnte. Sie wurde selbstverständlich abgelehnt. Um so heftiger entbrannte der Kampf. Die ersten Damen Englands traten dem Vereine bei, und schon im Jahre 1879 kounte eine so umfangreiche Ein- gabe an das Parlament gemacht werden, daß sich dieses genötigt sah, eine besondre Kommission zur Untersuchung der Frage zu erwählen. Im Jahre 1882 war diese mit ihrer Beratung fertig; sie entschied sich in der Mehrzahl für Beibehaltung des Gesetzes von Jahre 1864. Der Kampf dauerte weiter und wurde immer erbitterter. Man vergaß schließlich, daß es sich im Grunde um die Unterdrückung der Prostitution und um die Sicherung der öffentlichen Gesundheit handle. Die Frage wurde zur Parteisache, und endlich im Jahre 1883 zum allgemeinen Entsetzen der Ärzte, der Sittenlehrer und aller ver¬ stündigen Männer die Abschaffung der xrovvntion ave mit Stimmenmehrheit durchgesetzt. Die Prostituirten haben damit wieder alle Rechte der übrigen Frauen Englands erhalten; sie sind wieder frei, können thun, was sie wollen und anstecken, wen sie wollen. Die Unsittlichkeit hat selbstverständlich seitdem in allen Städten in doppeltem Maße zugenommen, aber die Regierung und die englischen Frauen haben nun doch das erhebende Bewußtsein, daß es für sie offiziell keine Prostitution in England mehr giebt und daß man die Eng¬ länder nun wieder das erste der gesitteten Kulturvölker zu nennen Pflegt, üst- es 1», sagt Reuß, 1s rösulwt imqnsl von1s.it -u/rivor 1» lig'us nos tominoL u-nglaiMs! Il n'/ a ora-iinent xa8 lion alö lo8 on tolle-ita'. Zwar wurden infolge der unerhörten Enthüllungen, die bald darauf die Aali-nött 6a?6des brachte, zwei Gesetze von englische» Parlament gegeben, um die unmündigen Frauenzimmer zu schützen und die drotnols zu unterdrücken; aber auch diese Verordnungen bleiben gegenüber der persönlichen Freiheit wirkungslos. So lange die Sanitätspolizei die Prostituirten in ihrer Gewalt hat, kann wenigstens die Ansteckungsgefahr immer mehr beschränkt werden; gegen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/464>, abgerufen am 22.07.2024.