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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ein dunkles Kapitel der Vul! Urgeschichte

Eigentümlichkeit unsrer Kultur" anerkennen? Ein unausrottbares oder ge¬
schichtlich zu allem Zeiten nachweisbares Übel ist noch lange keine berechtigte
Eigentümlichkeit, und wer es unterläßt, in seinem eignen Körper den Herd
einer ansteckenden Krankheit so fest wie möglich abzusperren, der läuft Gefahr,
daß er bald von seiner "berechtigten Eigentümlichkeit" ganz aufgefressen wird.

Es ist geradezu erschreckend, welchen Schaden man durch Unthätigkeit und
Gleichgültigkeit, oder gar dnrch einfältige Beschönigung auf sittlichem Gebiete
verursachen kauu. Nirgends in der Welt offenbaren sich die Folgen eines
solchen Verfahrens verblüffender, als bei dem wegen seiner Sittlichkeit geprie¬
senen Volke der Engländer. Die Zahl der Prostituirten in London ist rach
Reußens statistischen Angaben in den letzten Jahren bis aus 10000V gestiegen,
von denen 15 bis 20000 mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind. Trotz
der zur Schau getragenen Religiosität, trotz der Sabbathfeier und der Heils¬
armee wird das schmachvolle Gewerbe nirgends in der Welt mit solcher Scham¬
losigkeit und Frechheit betrieben, wie in England. Man braucht nur abends
auf Regent-street, Waterloo-road, Waterloo-place, Haymarket u. s. w. spazieren
zu gehen, um zu dieser Überzeugung zu gelangen. Die Prostitution ist in
England aus Achtung vor der unverletzlichen persönlichen Freiheit nicht den
geringsten Beschränkungen unterworfen; die Dirnen und ZuHalter stehen unter
keinen andern Bestimmungen, als unter denen des gemeinen Rechtes. Die
Unzugänglichkeit der Behausung, eines der heiligsten Vorrechte des englischen
Bürgers, bezieht sich auch auf jene Personen. Eine polizeiliche Durchsuchung
der Lasterstätten ist in England nnr dann möglich, wenn mindestens zwei
vollberechtigte Bürger Beschwerde erheben; aber erst wenn sie eine Kaution
von ungefähr 600 Thalern hinterlegt haben, wagt die Polizei eine Unter¬
suchung des denunzirten Hauses. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen
die Zuchtlosigkeit ungestört um sich greifen kann. Der reiche Engländer hat
weder Zeit noch Geduld, seine Vergnügungen vorzubereiten; das müssen andre
für ihn thun. Wenn ihn seine Sinnlichkeit reizt, so gehorcht er blindlings
und milt dann auch sofort bedient sei". Diese Eigentümlichkeit der Engländer
hat die Kuppelei in London zu einer unglaublichem Entwicklung gebracht. Wir
können hier auf dieses unerquickliche Thema uicht weiter eingehen. Wer dar¬
über näheres erfahren will, mag das in dem genannten Werke nachlesen.

Im Jahre 1804 wurde endlich, weil die Lustseuche im Heere und in der
Marine Englands eine beispiellose Höhe erreicht hatte, die eonwFious ävsLÄSks
xrevention -lok. erlassen, seltsamerweise aber unter Ausschluß von London, Edin-
l'urg, Dublin, Glasgow und Manchester. Die segensreichen Folgen dieses
Gesetzes, das eine weitgehende sanitätspolizeAche Aufsicht über alle Prosti-
tuirten vorschrieb, wurden sehr bald von den Ärzten wahrgenommen. Die
ansteckenden Krankheiten nahmen in den betreffenden Städten immer mehr ub,
und die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Ruhe wuchsen zusehends.


Ein dunkles Kapitel der Vul! Urgeschichte

Eigentümlichkeit unsrer Kultur" anerkennen? Ein unausrottbares oder ge¬
schichtlich zu allem Zeiten nachweisbares Übel ist noch lange keine berechtigte
Eigentümlichkeit, und wer es unterläßt, in seinem eignen Körper den Herd
einer ansteckenden Krankheit so fest wie möglich abzusperren, der läuft Gefahr,
daß er bald von seiner „berechtigten Eigentümlichkeit" ganz aufgefressen wird.

Es ist geradezu erschreckend, welchen Schaden man durch Unthätigkeit und
Gleichgültigkeit, oder gar dnrch einfältige Beschönigung auf sittlichem Gebiete
verursachen kauu. Nirgends in der Welt offenbaren sich die Folgen eines
solchen Verfahrens verblüffender, als bei dem wegen seiner Sittlichkeit geprie¬
senen Volke der Engländer. Die Zahl der Prostituirten in London ist rach
Reußens statistischen Angaben in den letzten Jahren bis aus 10000V gestiegen,
von denen 15 bis 20000 mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind. Trotz
der zur Schau getragenen Religiosität, trotz der Sabbathfeier und der Heils¬
armee wird das schmachvolle Gewerbe nirgends in der Welt mit solcher Scham¬
losigkeit und Frechheit betrieben, wie in England. Man braucht nur abends
auf Regent-street, Waterloo-road, Waterloo-place, Haymarket u. s. w. spazieren
zu gehen, um zu dieser Überzeugung zu gelangen. Die Prostitution ist in
England aus Achtung vor der unverletzlichen persönlichen Freiheit nicht den
geringsten Beschränkungen unterworfen; die Dirnen und ZuHalter stehen unter
keinen andern Bestimmungen, als unter denen des gemeinen Rechtes. Die
Unzugänglichkeit der Behausung, eines der heiligsten Vorrechte des englischen
Bürgers, bezieht sich auch auf jene Personen. Eine polizeiliche Durchsuchung
der Lasterstätten ist in England nnr dann möglich, wenn mindestens zwei
vollberechtigte Bürger Beschwerde erheben; aber erst wenn sie eine Kaution
von ungefähr 600 Thalern hinterlegt haben, wagt die Polizei eine Unter¬
suchung des denunzirten Hauses. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen
die Zuchtlosigkeit ungestört um sich greifen kann. Der reiche Engländer hat
weder Zeit noch Geduld, seine Vergnügungen vorzubereiten; das müssen andre
für ihn thun. Wenn ihn seine Sinnlichkeit reizt, so gehorcht er blindlings
und milt dann auch sofort bedient sei». Diese Eigentümlichkeit der Engländer
hat die Kuppelei in London zu einer unglaublichem Entwicklung gebracht. Wir
können hier auf dieses unerquickliche Thema uicht weiter eingehen. Wer dar¬
über näheres erfahren will, mag das in dem genannten Werke nachlesen.

Im Jahre 1804 wurde endlich, weil die Lustseuche im Heere und in der
Marine Englands eine beispiellose Höhe erreicht hatte, die eonwFious ävsLÄSks
xrevention -lok. erlassen, seltsamerweise aber unter Ausschluß von London, Edin-
l'urg, Dublin, Glasgow und Manchester. Die segensreichen Folgen dieses
Gesetzes, das eine weitgehende sanitätspolizeAche Aufsicht über alle Prosti-
tuirten vorschrieb, wurden sehr bald von den Ärzten wahrgenommen. Die
ansteckenden Krankheiten nahmen in den betreffenden Städten immer mehr ub,
und die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Ruhe wuchsen zusehends.


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[0463] Ein dunkles Kapitel der Vul! Urgeschichte Eigentümlichkeit unsrer Kultur" anerkennen? Ein unausrottbares oder ge¬ schichtlich zu allem Zeiten nachweisbares Übel ist noch lange keine berechtigte Eigentümlichkeit, und wer es unterläßt, in seinem eignen Körper den Herd einer ansteckenden Krankheit so fest wie möglich abzusperren, der läuft Gefahr, daß er bald von seiner „berechtigten Eigentümlichkeit" ganz aufgefressen wird. Es ist geradezu erschreckend, welchen Schaden man durch Unthätigkeit und Gleichgültigkeit, oder gar dnrch einfältige Beschönigung auf sittlichem Gebiete verursachen kauu. Nirgends in der Welt offenbaren sich die Folgen eines solchen Verfahrens verblüffender, als bei dem wegen seiner Sittlichkeit geprie¬ senen Volke der Engländer. Die Zahl der Prostituirten in London ist rach Reußens statistischen Angaben in den letzten Jahren bis aus 10000V gestiegen, von denen 15 bis 20000 mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind. Trotz der zur Schau getragenen Religiosität, trotz der Sabbathfeier und der Heils¬ armee wird das schmachvolle Gewerbe nirgends in der Welt mit solcher Scham¬ losigkeit und Frechheit betrieben, wie in England. Man braucht nur abends auf Regent-street, Waterloo-road, Waterloo-place, Haymarket u. s. w. spazieren zu gehen, um zu dieser Überzeugung zu gelangen. Die Prostitution ist in England aus Achtung vor der unverletzlichen persönlichen Freiheit nicht den geringsten Beschränkungen unterworfen; die Dirnen und ZuHalter stehen unter keinen andern Bestimmungen, als unter denen des gemeinen Rechtes. Die Unzugänglichkeit der Behausung, eines der heiligsten Vorrechte des englischen Bürgers, bezieht sich auch auf jene Personen. Eine polizeiliche Durchsuchung der Lasterstätten ist in England nnr dann möglich, wenn mindestens zwei vollberechtigte Bürger Beschwerde erheben; aber erst wenn sie eine Kaution von ungefähr 600 Thalern hinterlegt haben, wagt die Polizei eine Unter¬ suchung des denunzirten Hauses. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen die Zuchtlosigkeit ungestört um sich greifen kann. Der reiche Engländer hat weder Zeit noch Geduld, seine Vergnügungen vorzubereiten; das müssen andre für ihn thun. Wenn ihn seine Sinnlichkeit reizt, so gehorcht er blindlings und milt dann auch sofort bedient sei». Diese Eigentümlichkeit der Engländer hat die Kuppelei in London zu einer unglaublichem Entwicklung gebracht. Wir können hier auf dieses unerquickliche Thema uicht weiter eingehen. Wer dar¬ über näheres erfahren will, mag das in dem genannten Werke nachlesen. Im Jahre 1804 wurde endlich, weil die Lustseuche im Heere und in der Marine Englands eine beispiellose Höhe erreicht hatte, die eonwFious ävsLÄSks xrevention -lok. erlassen, seltsamerweise aber unter Ausschluß von London, Edin- l'urg, Dublin, Glasgow und Manchester. Die segensreichen Folgen dieses Gesetzes, das eine weitgehende sanitätspolizeAche Aufsicht über alle Prosti- tuirten vorschrieb, wurden sehr bald von den Ärzten wahrgenommen. Die ansteckenden Krankheiten nahmen in den betreffenden Städten immer mehr ub, und die öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Ruhe wuchsen zusehends.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/463>, abgerufen am 22.07.2024.