Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

versteckt betriebene Unzucht ist sie jedoch aus naheliegenden Gründen ziemlich
machtlos. Daher das erschreckende Anwachse" der geheimen Prostitution, z, B, in
Wien und in Berlin. In Wien gab es bis zum Jahre 1873 keine besondern Ver¬
ordnungen gegen dieses Unwesen. Man verurteilte jede Dirne und jede Kupplerin,
deren man habhaft werden konnte, mit drakonischer Strenge zur Zwangsarbeit;
trotzdem zählte man schon im Jahre 1873 in Wien nicht weniger als 15000
Prostituirte. und dabei stieg die Zahl der unehelichen Geburten doch noch auf
die unglaubliche Höhe von fünfzig Prozent. Erst jetzt wurden zahlreiche Be¬
stimmungen erlassen, um der sittlichen Verwilderung in allen Schichten des
Volkes entgegenzuarbeiten. Mau erkannte gesetzlich das Dasein der Prostitution
an und machte alle Anstrengungen, die eingeschriebenen Dirnen unter polizei¬
licher und ärztlicher Aufsicht zu halten und die heimlichen oder vngabundirenden
festzunehmen. Da aber gegenwärtig im Ressort der Wiener Sittenpolizei eine
einheitliche Oberleitung fehlt und jeder Polizeikommissar in seinem Revier nach
eignem Ermessen schalten und walten kann, so gedeiht die Kuppelei in Wien
üppiger als zuvor. Die Verführung und das Angebot zeigen sich an allen
Straßenecken, und die Syphilis ist keineswegs im Abnehmen begriffen. Am
gefährlichsten wird sie verbreitet von den geheimen Prostituirten, zu denen in
Wien die meisten Wäscherinnen, Dienstmädchen, Köchinnen und Zofen, selbst
ans den angesehensten Häusern, gehören. So wurden im Jahre 1881 von
ihnen nicht weniger als 1518 Individuen wegen dieser ansteckenden Krankheit
in die Lazarete aufgenommen, während von den polizeilich beaufsichtigten nur
487 hineingeschickt zu werden brauchten. Wie verheerend die Krankheit wirkt,
läßt sich statistisch genau mir aus den Militärberichten ersehen. Darnach
waren durchschnittlich in den Jahren 1870 bis 1884 in der österreichisch-
ungarischen Armee nicht weniger als 18324 Mann, d. h. sieben Prozent
syphilitisch; in einigen Städten, wie Pest und Insbruck, stieg das Verhältnis
sogar auf neun Prozent.

In Berlin schätzt man die Zahl der feilen Frauenzimmer auf mehr als
30 000. Davon waren im Jahre 1885 nur 3598 ius Sittenbuch eingetragen,
während von den übrigen etwa 12 450 bei der Ausübung ihres Gewerbes ab¬
gefaßt werden konnten. Bedenkt man, daß nach statistischen Berichten von den
unter beständiger Kontrolle stehenden Individuen schon mehr als 25 Prozent
als krank befunden wurden, so kann man sich den gefährlichen Gesundheits¬
zustand der nicht beaufsichtigte" Dirnen leicht vorstellen. Es ist denn auch
kein Wunder, daß sich unter der Zahl der zur Berliner Krankenkasse gehörigen
Arbeiter im Jahre 1885 nicht weniger als 8327 angesteckte befanden, und daß
um, auf ähnliche Zustände beim Militär, unter der Studentenschaft und im
Kaufmannsstande stößt. Die meisten haben zeitlebens an dieser Krankheit zu
leiden, zerstören ihr eignes und andrer Menschen Lebensglück, versündigen sich
an ihren eignen Kindern oder gehen völlig an dem Leiden zu Grunde. Sonst


Grenzboten II 1890 58

versteckt betriebene Unzucht ist sie jedoch aus naheliegenden Gründen ziemlich
machtlos. Daher das erschreckende Anwachse» der geheimen Prostitution, z, B, in
Wien und in Berlin. In Wien gab es bis zum Jahre 1873 keine besondern Ver¬
ordnungen gegen dieses Unwesen. Man verurteilte jede Dirne und jede Kupplerin,
deren man habhaft werden konnte, mit drakonischer Strenge zur Zwangsarbeit;
trotzdem zählte man schon im Jahre 1873 in Wien nicht weniger als 15000
Prostituirte. und dabei stieg die Zahl der unehelichen Geburten doch noch auf
die unglaubliche Höhe von fünfzig Prozent. Erst jetzt wurden zahlreiche Be¬
stimmungen erlassen, um der sittlichen Verwilderung in allen Schichten des
Volkes entgegenzuarbeiten. Mau erkannte gesetzlich das Dasein der Prostitution
an und machte alle Anstrengungen, die eingeschriebenen Dirnen unter polizei¬
licher und ärztlicher Aufsicht zu halten und die heimlichen oder vngabundirenden
festzunehmen. Da aber gegenwärtig im Ressort der Wiener Sittenpolizei eine
einheitliche Oberleitung fehlt und jeder Polizeikommissar in seinem Revier nach
eignem Ermessen schalten und walten kann, so gedeiht die Kuppelei in Wien
üppiger als zuvor. Die Verführung und das Angebot zeigen sich an allen
Straßenecken, und die Syphilis ist keineswegs im Abnehmen begriffen. Am
gefährlichsten wird sie verbreitet von den geheimen Prostituirten, zu denen in
Wien die meisten Wäscherinnen, Dienstmädchen, Köchinnen und Zofen, selbst
ans den angesehensten Häusern, gehören. So wurden im Jahre 1881 von
ihnen nicht weniger als 1518 Individuen wegen dieser ansteckenden Krankheit
in die Lazarete aufgenommen, während von den polizeilich beaufsichtigten nur
487 hineingeschickt zu werden brauchten. Wie verheerend die Krankheit wirkt,
läßt sich statistisch genau mir aus den Militärberichten ersehen. Darnach
waren durchschnittlich in den Jahren 1870 bis 1884 in der österreichisch-
ungarischen Armee nicht weniger als 18324 Mann, d. h. sieben Prozent
syphilitisch; in einigen Städten, wie Pest und Insbruck, stieg das Verhältnis
sogar auf neun Prozent.

In Berlin schätzt man die Zahl der feilen Frauenzimmer auf mehr als
30 000. Davon waren im Jahre 1885 nur 3598 ius Sittenbuch eingetragen,
während von den übrigen etwa 12 450 bei der Ausübung ihres Gewerbes ab¬
gefaßt werden konnten. Bedenkt man, daß nach statistischen Berichten von den
unter beständiger Kontrolle stehenden Individuen schon mehr als 25 Prozent
als krank befunden wurden, so kann man sich den gefährlichen Gesundheits¬
zustand der nicht beaufsichtigte» Dirnen leicht vorstellen. Es ist denn auch
kein Wunder, daß sich unter der Zahl der zur Berliner Krankenkasse gehörigen
Arbeiter im Jahre 1885 nicht weniger als 8327 angesteckte befanden, und daß
um, auf ähnliche Zustände beim Militär, unter der Studentenschaft und im
Kaufmannsstande stößt. Die meisten haben zeitlebens an dieser Krankheit zu
leiden, zerstören ihr eignes und andrer Menschen Lebensglück, versündigen sich
an ihren eignen Kindern oder gehen völlig an dem Leiden zu Grunde. Sonst


Grenzboten II 1890 58
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207760"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1280" prev="#ID_1279"> versteckt betriebene Unzucht ist sie jedoch aus naheliegenden Gründen ziemlich<lb/>
machtlos. Daher das erschreckende Anwachse» der geheimen Prostitution, z, B, in<lb/>
Wien und in Berlin. In Wien gab es bis zum Jahre 1873 keine besondern Ver¬<lb/>
ordnungen gegen dieses Unwesen. Man verurteilte jede Dirne und jede Kupplerin,<lb/>
deren man habhaft werden konnte, mit drakonischer Strenge zur Zwangsarbeit;<lb/>
trotzdem zählte man schon im Jahre 1873 in Wien nicht weniger als 15000<lb/>
Prostituirte. und dabei stieg die Zahl der unehelichen Geburten doch noch auf<lb/>
die unglaubliche Höhe von fünfzig Prozent. Erst jetzt wurden zahlreiche Be¬<lb/>
stimmungen erlassen, um der sittlichen Verwilderung in allen Schichten des<lb/>
Volkes entgegenzuarbeiten. Mau erkannte gesetzlich das Dasein der Prostitution<lb/>
an und machte alle Anstrengungen, die eingeschriebenen Dirnen unter polizei¬<lb/>
licher und ärztlicher Aufsicht zu halten und die heimlichen oder vngabundirenden<lb/>
festzunehmen. Da aber gegenwärtig im Ressort der Wiener Sittenpolizei eine<lb/>
einheitliche Oberleitung fehlt und jeder Polizeikommissar in seinem Revier nach<lb/>
eignem Ermessen schalten und walten kann, so gedeiht die Kuppelei in Wien<lb/>
üppiger als zuvor. Die Verführung und das Angebot zeigen sich an allen<lb/>
Straßenecken, und die Syphilis ist keineswegs im Abnehmen begriffen. Am<lb/>
gefährlichsten wird sie verbreitet von den geheimen Prostituirten, zu denen in<lb/>
Wien die meisten Wäscherinnen, Dienstmädchen, Köchinnen und Zofen, selbst<lb/>
ans den angesehensten Häusern, gehören. So wurden im Jahre 1881 von<lb/>
ihnen nicht weniger als 1518 Individuen wegen dieser ansteckenden Krankheit<lb/>
in die Lazarete aufgenommen, während von den polizeilich beaufsichtigten nur<lb/>
487 hineingeschickt zu werden brauchten. Wie verheerend die Krankheit wirkt,<lb/>
läßt sich statistisch genau mir aus den Militärberichten ersehen. Darnach<lb/>
waren durchschnittlich in den Jahren 1870 bis 1884 in der österreichisch-<lb/>
ungarischen Armee nicht weniger als 18324 Mann, d. h. sieben Prozent<lb/>
syphilitisch; in einigen Städten, wie Pest und Insbruck, stieg das Verhältnis<lb/>
sogar auf neun Prozent.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1281" next="#ID_1282"> In Berlin schätzt man die Zahl der feilen Frauenzimmer auf mehr als<lb/>
30 000. Davon waren im Jahre 1885 nur 3598 ius Sittenbuch eingetragen,<lb/>
während von den übrigen etwa 12 450 bei der Ausübung ihres Gewerbes ab¬<lb/>
gefaßt werden konnten. Bedenkt man, daß nach statistischen Berichten von den<lb/>
unter beständiger Kontrolle stehenden Individuen schon mehr als 25 Prozent<lb/>
als krank befunden wurden, so kann man sich den gefährlichen Gesundheits¬<lb/>
zustand der nicht beaufsichtigte» Dirnen leicht vorstellen. Es ist denn auch<lb/>
kein Wunder, daß sich unter der Zahl der zur Berliner Krankenkasse gehörigen<lb/>
Arbeiter im Jahre 1885 nicht weniger als 8327 angesteckte befanden, und daß<lb/>
um, auf ähnliche Zustände beim Militär, unter der Studentenschaft und im<lb/>
Kaufmannsstande stößt. Die meisten haben zeitlebens an dieser Krankheit zu<lb/>
leiden, zerstören ihr eignes und andrer Menschen Lebensglück, versündigen sich<lb/>
an ihren eignen Kindern oder gehen völlig an dem Leiden zu Grunde. Sonst</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1890 58</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0465] versteckt betriebene Unzucht ist sie jedoch aus naheliegenden Gründen ziemlich machtlos. Daher das erschreckende Anwachse» der geheimen Prostitution, z, B, in Wien und in Berlin. In Wien gab es bis zum Jahre 1873 keine besondern Ver¬ ordnungen gegen dieses Unwesen. Man verurteilte jede Dirne und jede Kupplerin, deren man habhaft werden konnte, mit drakonischer Strenge zur Zwangsarbeit; trotzdem zählte man schon im Jahre 1873 in Wien nicht weniger als 15000 Prostituirte. und dabei stieg die Zahl der unehelichen Geburten doch noch auf die unglaubliche Höhe von fünfzig Prozent. Erst jetzt wurden zahlreiche Be¬ stimmungen erlassen, um der sittlichen Verwilderung in allen Schichten des Volkes entgegenzuarbeiten. Mau erkannte gesetzlich das Dasein der Prostitution an und machte alle Anstrengungen, die eingeschriebenen Dirnen unter polizei¬ licher und ärztlicher Aufsicht zu halten und die heimlichen oder vngabundirenden festzunehmen. Da aber gegenwärtig im Ressort der Wiener Sittenpolizei eine einheitliche Oberleitung fehlt und jeder Polizeikommissar in seinem Revier nach eignem Ermessen schalten und walten kann, so gedeiht die Kuppelei in Wien üppiger als zuvor. Die Verführung und das Angebot zeigen sich an allen Straßenecken, und die Syphilis ist keineswegs im Abnehmen begriffen. Am gefährlichsten wird sie verbreitet von den geheimen Prostituirten, zu denen in Wien die meisten Wäscherinnen, Dienstmädchen, Köchinnen und Zofen, selbst ans den angesehensten Häusern, gehören. So wurden im Jahre 1881 von ihnen nicht weniger als 1518 Individuen wegen dieser ansteckenden Krankheit in die Lazarete aufgenommen, während von den polizeilich beaufsichtigten nur 487 hineingeschickt zu werden brauchten. Wie verheerend die Krankheit wirkt, läßt sich statistisch genau mir aus den Militärberichten ersehen. Darnach waren durchschnittlich in den Jahren 1870 bis 1884 in der österreichisch- ungarischen Armee nicht weniger als 18324 Mann, d. h. sieben Prozent syphilitisch; in einigen Städten, wie Pest und Insbruck, stieg das Verhältnis sogar auf neun Prozent. In Berlin schätzt man die Zahl der feilen Frauenzimmer auf mehr als 30 000. Davon waren im Jahre 1885 nur 3598 ius Sittenbuch eingetragen, während von den übrigen etwa 12 450 bei der Ausübung ihres Gewerbes ab¬ gefaßt werden konnten. Bedenkt man, daß nach statistischen Berichten von den unter beständiger Kontrolle stehenden Individuen schon mehr als 25 Prozent als krank befunden wurden, so kann man sich den gefährlichen Gesundheits¬ zustand der nicht beaufsichtigte» Dirnen leicht vorstellen. Es ist denn auch kein Wunder, daß sich unter der Zahl der zur Berliner Krankenkasse gehörigen Arbeiter im Jahre 1885 nicht weniger als 8327 angesteckte befanden, und daß um, auf ähnliche Zustände beim Militär, unter der Studentenschaft und im Kaufmannsstande stößt. Die meisten haben zeitlebens an dieser Krankheit zu leiden, zerstören ihr eignes und andrer Menschen Lebensglück, versündigen sich an ihren eignen Kindern oder gehen völlig an dem Leiden zu Grunde. Sonst Grenzboten II 1890 58

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/465
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/465>, abgerufen am 28.12.2024.