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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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(Lin dunkles Aapitel der Uulwrgeschichte

Triebe des jungen Menschen allmählich ganz von allen Gesetzen der Bernnnft
ablösen.

Man muß Schopenhauer Recht geben, wenn er sagt: ,,Die Geschlechtsliebe
erlveist sich nächst der Liebe zum Leben als die stärkste und thätigste aller
Triebfedern, nimmt die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern Teiles der
Menschheit fortwährend in Anspruch, ist das letzte Ziel fast jedes menschlichen
Bestrebens, erlangt auf die wichtigsten Angelegenheiten nachteiligen Einfluß,
unterbricht die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde, setzt bisweilen
selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung, zettelt täglich die ver¬
worrensten und schlimmsten Händel an, löst die wertvollsten Verhältnisse auf,
zerreißt die festesten Baude, nimmt bisweilen Leben oder Gesundheit, bisweilen
Reichtum, Rung und Glück zu ihrem. Opfer, ja macht den sonst Redlichen
gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräter, tritt demnach im ganzen ans
als ein feindseliger Dämon." Man verlangt fortwährend von der Mädchen-
erziehung, die weiblichen Wesen zu verständigen Müttern heranzubilden, aber
man spricht seltsamerweise-niemals davon, daß der Staat ein ebenso großes
Interesse daran haben müßte, sittliche Staatsbürger und vernünftige Familien¬
väter zu erziehen. In Wirklichkeit sind denn mich alle unsre Einrichtungen
geradezu darauf angelegt, ans der männlichen Jngend die selbstsüchtigsten
Junggesellen zu machen. Der Staat scheint nicht zu Nüssen, daß er sich in
sein eignes Fleisch schneidet, wenn er den Junggesellen dieselben oder verhält¬
nismäßig noch größere Rechte gewährt als den Familienvätern; man braucht
dabei nur an den gleichen Wohnnngsgeldzuschuß, an die gleiche Alters-
znlage, an dieselbe Besteuerung bei gleichem Gehalt u. s. w. zu erinnern.

Eine Nation, die nicht mehr weiß, daß eine ihrer vorzüglichsten Aufgaben
die Sicherung eines geordneten Geschlechtslebens und einer gesunden Fort-
Pflanzung ist, daß ihre natürliche Stütze und Kraft einzig und allein in einem
fest gegründeten Familienleben liegt, befindet sich bereits im Niedergang. Die
Familie hat aber keinen gefährlicheren und hinterlistigeren Feind, als die
Prostitution. Seit einer Reihe von Jahren, sagt der französische Arzt L. Reuß
in seinem kulturgeschichtlich wertvollen Buche: l'rostitrckion an xvint alö
vno <lo l'b/g'Ivno ot av 1'aÄwim8er"lion on Franoe 0t ü (Paris,
Baillivre und Sohn, 1889), hat die Frage der Prostitution eine außerordentliche
Wichtigkeit angenommen. Die allmächtige Auflösung aller guten Sitte, das
beständige Wachsen der geheimen Unzucht, die allgemeine Verbreitung der ge¬
schlechtlichen Krankheiten, insbesondre der Lustseuche, das tägliche Aufblühen
einer Schmutzlitteratnr und Schmntzmalerei beschäftigen in hohem Grade nicht
nur die Gesuudheitslehrer und die Staatsregierung, sondern alle aufgeklärten
Männer, die um die Zukunft der Familie und des Vaterlandes besorgt sind.
Sollen wir uns vor diesem gefährlichen Feinde die Augen verbinden, nur
flüsternd von ihm reden und ihn achselzuckend sogar als eine "berechtigte


(Lin dunkles Aapitel der Uulwrgeschichte

Triebe des jungen Menschen allmählich ganz von allen Gesetzen der Bernnnft
ablösen.

Man muß Schopenhauer Recht geben, wenn er sagt: ,,Die Geschlechtsliebe
erlveist sich nächst der Liebe zum Leben als die stärkste und thätigste aller
Triebfedern, nimmt die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern Teiles der
Menschheit fortwährend in Anspruch, ist das letzte Ziel fast jedes menschlichen
Bestrebens, erlangt auf die wichtigsten Angelegenheiten nachteiligen Einfluß,
unterbricht die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde, setzt bisweilen
selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung, zettelt täglich die ver¬
worrensten und schlimmsten Händel an, löst die wertvollsten Verhältnisse auf,
zerreißt die festesten Baude, nimmt bisweilen Leben oder Gesundheit, bisweilen
Reichtum, Rung und Glück zu ihrem. Opfer, ja macht den sonst Redlichen
gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräter, tritt demnach im ganzen ans
als ein feindseliger Dämon." Man verlangt fortwährend von der Mädchen-
erziehung, die weiblichen Wesen zu verständigen Müttern heranzubilden, aber
man spricht seltsamerweise-niemals davon, daß der Staat ein ebenso großes
Interesse daran haben müßte, sittliche Staatsbürger und vernünftige Familien¬
väter zu erziehen. In Wirklichkeit sind denn mich alle unsre Einrichtungen
geradezu darauf angelegt, ans der männlichen Jngend die selbstsüchtigsten
Junggesellen zu machen. Der Staat scheint nicht zu Nüssen, daß er sich in
sein eignes Fleisch schneidet, wenn er den Junggesellen dieselben oder verhält¬
nismäßig noch größere Rechte gewährt als den Familienvätern; man braucht
dabei nur an den gleichen Wohnnngsgeldzuschuß, an die gleiche Alters-
znlage, an dieselbe Besteuerung bei gleichem Gehalt u. s. w. zu erinnern.

Eine Nation, die nicht mehr weiß, daß eine ihrer vorzüglichsten Aufgaben
die Sicherung eines geordneten Geschlechtslebens und einer gesunden Fort-
Pflanzung ist, daß ihre natürliche Stütze und Kraft einzig und allein in einem
fest gegründeten Familienleben liegt, befindet sich bereits im Niedergang. Die
Familie hat aber keinen gefährlicheren und hinterlistigeren Feind, als die
Prostitution. Seit einer Reihe von Jahren, sagt der französische Arzt L. Reuß
in seinem kulturgeschichtlich wertvollen Buche: l'rostitrckion an xvint alö
vno <lo l'b/g'Ivno ot av 1'aÄwim8er»lion on Franoe 0t ü (Paris,
Baillivre und Sohn, 1889), hat die Frage der Prostitution eine außerordentliche
Wichtigkeit angenommen. Die allmächtige Auflösung aller guten Sitte, das
beständige Wachsen der geheimen Unzucht, die allgemeine Verbreitung der ge¬
schlechtlichen Krankheiten, insbesondre der Lustseuche, das tägliche Aufblühen
einer Schmutzlitteratnr und Schmntzmalerei beschäftigen in hohem Grade nicht
nur die Gesuudheitslehrer und die Staatsregierung, sondern alle aufgeklärten
Männer, die um die Zukunft der Familie und des Vaterlandes besorgt sind.
Sollen wir uns vor diesem gefährlichen Feinde die Augen verbinden, nur
flüsternd von ihm reden und ihn achselzuckend sogar als eine „berechtigte


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[0462] (Lin dunkles Aapitel der Uulwrgeschichte Triebe des jungen Menschen allmählich ganz von allen Gesetzen der Bernnnft ablösen. Man muß Schopenhauer Recht geben, wenn er sagt: ,,Die Geschlechtsliebe erlveist sich nächst der Liebe zum Leben als die stärkste und thätigste aller Triebfedern, nimmt die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern Teiles der Menschheit fortwährend in Anspruch, ist das letzte Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens, erlangt auf die wichtigsten Angelegenheiten nachteiligen Einfluß, unterbricht die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde, setzt bisweilen selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung, zettelt täglich die ver¬ worrensten und schlimmsten Händel an, löst die wertvollsten Verhältnisse auf, zerreißt die festesten Baude, nimmt bisweilen Leben oder Gesundheit, bisweilen Reichtum, Rung und Glück zu ihrem. Opfer, ja macht den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräter, tritt demnach im ganzen ans als ein feindseliger Dämon." Man verlangt fortwährend von der Mädchen- erziehung, die weiblichen Wesen zu verständigen Müttern heranzubilden, aber man spricht seltsamerweise-niemals davon, daß der Staat ein ebenso großes Interesse daran haben müßte, sittliche Staatsbürger und vernünftige Familien¬ väter zu erziehen. In Wirklichkeit sind denn mich alle unsre Einrichtungen geradezu darauf angelegt, ans der männlichen Jngend die selbstsüchtigsten Junggesellen zu machen. Der Staat scheint nicht zu Nüssen, daß er sich in sein eignes Fleisch schneidet, wenn er den Junggesellen dieselben oder verhält¬ nismäßig noch größere Rechte gewährt als den Familienvätern; man braucht dabei nur an den gleichen Wohnnngsgeldzuschuß, an die gleiche Alters- znlage, an dieselbe Besteuerung bei gleichem Gehalt u. s. w. zu erinnern. Eine Nation, die nicht mehr weiß, daß eine ihrer vorzüglichsten Aufgaben die Sicherung eines geordneten Geschlechtslebens und einer gesunden Fort- Pflanzung ist, daß ihre natürliche Stütze und Kraft einzig und allein in einem fest gegründeten Familienleben liegt, befindet sich bereits im Niedergang. Die Familie hat aber keinen gefährlicheren und hinterlistigeren Feind, als die Prostitution. Seit einer Reihe von Jahren, sagt der französische Arzt L. Reuß in seinem kulturgeschichtlich wertvollen Buche: l'rostitrckion an xvint alö vno <lo l'b/g'Ivno ot av 1'aÄwim8er»lion on Franoe 0t ü (Paris, Baillivre und Sohn, 1889), hat die Frage der Prostitution eine außerordentliche Wichtigkeit angenommen. Die allmächtige Auflösung aller guten Sitte, das beständige Wachsen der geheimen Unzucht, die allgemeine Verbreitung der ge¬ schlechtlichen Krankheiten, insbesondre der Lustseuche, das tägliche Aufblühen einer Schmutzlitteratnr und Schmntzmalerei beschäftigen in hohem Grade nicht nur die Gesuudheitslehrer und die Staatsregierung, sondern alle aufgeklärten Männer, die um die Zukunft der Familie und des Vaterlandes besorgt sind. Sollen wir uns vor diesem gefährlichen Feinde die Augen verbinden, nur flüsternd von ihm reden und ihn achselzuckend sogar als eine „berechtigte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/462>, abgerufen am 22.07.2024.