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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

und umhristlichc Versammlung, in alle Kirchen und Schule"; es hat nicht
allein die Sanitätspolizei daran el" Interesse, sondern das ganze Volk, alle
Familien, alle Männer und Frauen.

Wollen wir dem, bei aller iinsrer Schulweisheit gar nichts aus dem Laufe
der Weltgeschichte lernen? Wer die Kulturgeschichte des Altertums und der
Neuzeit kennt, der weiß, daß die begabtesten und mächtigsten Völker vor allein
dnrch die Prostitution entnervt, vergiftet, gestürzt worden sind. Wir brauchen
dabei nicht an den schauderhaften Mhlittakultus der Orientalen zu erinnern,
oder um die Hetärenwirtschaft der Griechen und an die Lupauarien der Römer,
oder an die Maitressenzncht des vorigen Jahrhunderts "ut ihrem niederträchtigen
Wahlspruch ^.xrvs nous ig ävlugö!

Die Prostitution ist keine Frage, die heutzutage am grünen Tisch hinter
verschlossenen Thüren erledigt werden darf; sie ist eine Frage von so allge¬
meinem Charakter, von so öffentlicher Bedeutung, daß jedermann, insbesondre
der Vaterlnudsfreuud, das Recht hat, die bloßgelegten Schäden und die vor¬
geschlagnen Maßregeln in vollem Umfange kennen zu lernen.

Wir lebe" in einem Zeitalter der abgewalzten Verflachung, des allein¬
seligmachenden Sports. Edle und erhabene Bestrebungen werden zum Sport
heruntergezogen, gemeine, widerwärtige, tierische zum weltmännischen Sport
geadelt. Der Sport ist der große Steppensnmpf, wo gegenwärtig alle Begriffe
von Sittlichkeit und Würde, von Ehre und Keuschheit, von Tugend und Pflicht
zu einem einfarbigen, unterscheidnngslvseu Brei zusammengeflossen sind. So
sind viele Strömungen in unserm parlamentarischen Lebe", so sind unsre
litterarischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bestrebungen, so ist vor allen
Dingen ein gesundes Geschlechtsleben im großen und ganzen zu einem frivolen
Sport hinabgesunken. Was aber in den höhern Klaffen noch leichtfertige Ge¬
wohnheit bleibt, das wird in den untern Schichten zur brutalen Gemeinheit.

Der Student oder der junge Offizier, der heutzutage nach Grundsätzen
der Keuschheit leben oder sie sogar verfechten wollte, würde unter seinen
Kameraden der Gegenstand unendlichen Spottes werden -- so weit sind wir
glücklich mit unsern sittlichen Anschauungen! Ja, wer die Primn oder Sekunda
i" einer größer" Stadt besucht hat, der weiß zur Genüge, welche Verdorbenheit
sich schon unter den jungen Burschen verrät, wie notwendig es ist, daß hier
die Schule rücksichtslos eingreift, daß der Jugend so früh wie möglich die
Augen geöffnet werden, nur sie vor jenem Gifte zu bewahren. Vor alleu andern
Leidenschaften und Laster" wird die Jugend in nachdrücklichster Weise gewarnt;
sobald aber der Erzieher vor dem Thema der Geschlechtsliebe steht, macht er
es wie der Vogel Strauß oder behandelt den Stoff wie ein großes Mysterium.
Kommt dazu noch die aufreizende, oft versteckt sinnliche Lektüre alter und
moderner Schriftsteller, eines Ovid. eines Horaz u. s. w., so ist es kein Wunder,
daß sich die maßlos gesteigerte Phantasie und die künstlich herausgelockten


Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

und umhristlichc Versammlung, in alle Kirchen und Schule»; es hat nicht
allein die Sanitätspolizei daran el» Interesse, sondern das ganze Volk, alle
Familien, alle Männer und Frauen.

Wollen wir dem, bei aller iinsrer Schulweisheit gar nichts aus dem Laufe
der Weltgeschichte lernen? Wer die Kulturgeschichte des Altertums und der
Neuzeit kennt, der weiß, daß die begabtesten und mächtigsten Völker vor allein
dnrch die Prostitution entnervt, vergiftet, gestürzt worden sind. Wir brauchen
dabei nicht an den schauderhaften Mhlittakultus der Orientalen zu erinnern,
oder um die Hetärenwirtschaft der Griechen und an die Lupauarien der Römer,
oder an die Maitressenzncht des vorigen Jahrhunderts »ut ihrem niederträchtigen
Wahlspruch ^.xrvs nous ig ävlugö!

Die Prostitution ist keine Frage, die heutzutage am grünen Tisch hinter
verschlossenen Thüren erledigt werden darf; sie ist eine Frage von so allge¬
meinem Charakter, von so öffentlicher Bedeutung, daß jedermann, insbesondre
der Vaterlnudsfreuud, das Recht hat, die bloßgelegten Schäden und die vor¬
geschlagnen Maßregeln in vollem Umfange kennen zu lernen.

Wir lebe» in einem Zeitalter der abgewalzten Verflachung, des allein¬
seligmachenden Sports. Edle und erhabene Bestrebungen werden zum Sport
heruntergezogen, gemeine, widerwärtige, tierische zum weltmännischen Sport
geadelt. Der Sport ist der große Steppensnmpf, wo gegenwärtig alle Begriffe
von Sittlichkeit und Würde, von Ehre und Keuschheit, von Tugend und Pflicht
zu einem einfarbigen, unterscheidnngslvseu Brei zusammengeflossen sind. So
sind viele Strömungen in unserm parlamentarischen Lebe», so sind unsre
litterarischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bestrebungen, so ist vor allen
Dingen ein gesundes Geschlechtsleben im großen und ganzen zu einem frivolen
Sport hinabgesunken. Was aber in den höhern Klaffen noch leichtfertige Ge¬
wohnheit bleibt, das wird in den untern Schichten zur brutalen Gemeinheit.

Der Student oder der junge Offizier, der heutzutage nach Grundsätzen
der Keuschheit leben oder sie sogar verfechten wollte, würde unter seinen
Kameraden der Gegenstand unendlichen Spottes werden — so weit sind wir
glücklich mit unsern sittlichen Anschauungen! Ja, wer die Primn oder Sekunda
i» einer größer» Stadt besucht hat, der weiß zur Genüge, welche Verdorbenheit
sich schon unter den jungen Burschen verrät, wie notwendig es ist, daß hier
die Schule rücksichtslos eingreift, daß der Jugend so früh wie möglich die
Augen geöffnet werden, nur sie vor jenem Gifte zu bewahren. Vor alleu andern
Leidenschaften und Laster» wird die Jugend in nachdrücklichster Weise gewarnt;
sobald aber der Erzieher vor dem Thema der Geschlechtsliebe steht, macht er
es wie der Vogel Strauß oder behandelt den Stoff wie ein großes Mysterium.
Kommt dazu noch die aufreizende, oft versteckt sinnliche Lektüre alter und
moderner Schriftsteller, eines Ovid. eines Horaz u. s. w., so ist es kein Wunder,
daß sich die maßlos gesteigerte Phantasie und die künstlich herausgelockten


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[0461] Ein dunkles Kapitel der Kulturgeschichte und umhristlichc Versammlung, in alle Kirchen und Schule»; es hat nicht allein die Sanitätspolizei daran el» Interesse, sondern das ganze Volk, alle Familien, alle Männer und Frauen. Wollen wir dem, bei aller iinsrer Schulweisheit gar nichts aus dem Laufe der Weltgeschichte lernen? Wer die Kulturgeschichte des Altertums und der Neuzeit kennt, der weiß, daß die begabtesten und mächtigsten Völker vor allein dnrch die Prostitution entnervt, vergiftet, gestürzt worden sind. Wir brauchen dabei nicht an den schauderhaften Mhlittakultus der Orientalen zu erinnern, oder um die Hetärenwirtschaft der Griechen und an die Lupauarien der Römer, oder an die Maitressenzncht des vorigen Jahrhunderts »ut ihrem niederträchtigen Wahlspruch ^.xrvs nous ig ävlugö! Die Prostitution ist keine Frage, die heutzutage am grünen Tisch hinter verschlossenen Thüren erledigt werden darf; sie ist eine Frage von so allge¬ meinem Charakter, von so öffentlicher Bedeutung, daß jedermann, insbesondre der Vaterlnudsfreuud, das Recht hat, die bloßgelegten Schäden und die vor¬ geschlagnen Maßregeln in vollem Umfange kennen zu lernen. Wir lebe» in einem Zeitalter der abgewalzten Verflachung, des allein¬ seligmachenden Sports. Edle und erhabene Bestrebungen werden zum Sport heruntergezogen, gemeine, widerwärtige, tierische zum weltmännischen Sport geadelt. Der Sport ist der große Steppensnmpf, wo gegenwärtig alle Begriffe von Sittlichkeit und Würde, von Ehre und Keuschheit, von Tugend und Pflicht zu einem einfarbigen, unterscheidnngslvseu Brei zusammengeflossen sind. So sind viele Strömungen in unserm parlamentarischen Lebe», so sind unsre litterarischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bestrebungen, so ist vor allen Dingen ein gesundes Geschlechtsleben im großen und ganzen zu einem frivolen Sport hinabgesunken. Was aber in den höhern Klaffen noch leichtfertige Ge¬ wohnheit bleibt, das wird in den untern Schichten zur brutalen Gemeinheit. Der Student oder der junge Offizier, der heutzutage nach Grundsätzen der Keuschheit leben oder sie sogar verfechten wollte, würde unter seinen Kameraden der Gegenstand unendlichen Spottes werden — so weit sind wir glücklich mit unsern sittlichen Anschauungen! Ja, wer die Primn oder Sekunda i» einer größer» Stadt besucht hat, der weiß zur Genüge, welche Verdorbenheit sich schon unter den jungen Burschen verrät, wie notwendig es ist, daß hier die Schule rücksichtslos eingreift, daß der Jugend so früh wie möglich die Augen geöffnet werden, nur sie vor jenem Gifte zu bewahren. Vor alleu andern Leidenschaften und Laster» wird die Jugend in nachdrücklichster Weise gewarnt; sobald aber der Erzieher vor dem Thema der Geschlechtsliebe steht, macht er es wie der Vogel Strauß oder behandelt den Stoff wie ein großes Mysterium. Kommt dazu noch die aufreizende, oft versteckt sinnliche Lektüre alter und moderner Schriftsteller, eines Ovid. eines Horaz u. s. w., so ist es kein Wunder, daß sich die maßlos gesteigerte Phantasie und die künstlich herausgelockten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/461>, abgerufen am 28.09.2024.