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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

mehren kann, der kau" nicht helfen. Die Landwirtschaft an sich bleibt auch
bei den Preisen, wie wir sie vor zwei Jahren hatten, immer noch ein gutes
und einträgliches Gewerbe, Mir ist ein Gutsbesitzer bekannt, der sich mit
K000 Thalern Vermögen auf einem zu 70 000 Thalern abgeschätzten Gute
noch hält! Es wird wenig Kanfmannsgeschäfte und Fabriken geben, wo das
möglich wäre. Und wie viel angenehmer ist die Arbeit und sind die Lebens¬
verhältnisse eines Rittergutsbesitzers als die eines Kaufmanns oder Fabrikbe¬
sitzers! Was heißt das: zu niedrige Preise? An sich ist es gleichgiltig, ob
der Zentner Roggen 2 oder 20 oder 200 Mark gilt, vorausgesetzt, daß alle
Warenpreise, Löhne und Besoldungen entsprechend niedrig oder hoch stehen.
Fassen wir nnn die Konsumenten ins Ange, so war der Preis der landwirt¬
schaftlichen Erzeugnisse, wie wir ihn vor zwei Jahren hatten, für die Familie"
mit einem Einkommen von 2000 bis 5000 Mark gerade recht, für die mit einen,
kleineren Einkommen aber noch zu hoch, denn sie konnten zur Not so viel Kar¬
toffeln und Brot davon beschaffen, als sie zur Sättigung brauchten, und viele
darunter mußten auf Milch, Butter und Fleisch verzichten. Für Haushal¬
tungen mit großem Einkommen sind die Preise der Lebensmittel gleichgiltig.
Unter den Produzenten aber konnten die wenig verschuldeten und die unverschul¬
dete" bei jenen Preisen sehr gut bestehen, während den verschuldeten anch die
jetzigen Preise noch nicht hoch genug sind. In dieser Thatsache, daß die Lebens¬
mittelpreise für einen Teil der Produzenten noch zu niedrig, für einen Teil der
Konsumenten aber schon zu hoch sind, kommt eben das Mißverhältnis zwischen
Boden und Bevölkerung zum Borschein; der Boden reicht für die Bevölkerung
nicht mehr ans.

Die Getreideeinfuhr ist unter diesen Umständen nicht ein Unglück, sondern
ein Glück, eine Notwendigkeit. Von was sollte die Bevölkerung leben, wenn
wir die mehreren Millionen Doppelzentner russischen Roggen und amerikanischen
Weizen nicht ins Land bekämen? Die Beschwerde der Agrarier darüber
wäre nur dann berechtigt, wenn sie das heimische Bedürfnis zu befriedigen
vermöchten, und wenn infolge der Einfuhr ihr eignes Getreide ungenossen ver¬
faulte und ihr Acker unbestellt bliebe. Davon ist aber doch keine Rede. Nun
kann es sein, daß die Getreidezölle den bedrängten Gutsbesitzern augenblickliche
Rettung gebracht und die drohende Katastrophe verschoben haben. Aber sicher¬
lich nnr verschoben. Wem die Katastrophe droht, von dem läßt sie sich durch
Zölle, durch künstliche Hebung der Lebeusmittelpreise auf die Dauer nicht ab¬
wenden. Die Hebung der Lebensmittelpreise hat, wie ja offen zu Tage liegt,
eine entsprechende Erhöhung aller Warenpreise, Löhne und Besoldungen zur
Folge, die schon nach einem Jahre jenen Borten ausgleicht, und die Guts¬
besitzer stehen dann auf dem alten Flecke.

Weit wirksamer würde eine Seisachtheia, eine Erleichterung oder gänzliche
Tilgung der Grundschulen sein; und der Argwohn ist nicht ganz unbegründet,


Die soziale Frage

mehren kann, der kau« nicht helfen. Die Landwirtschaft an sich bleibt auch
bei den Preisen, wie wir sie vor zwei Jahren hatten, immer noch ein gutes
und einträgliches Gewerbe, Mir ist ein Gutsbesitzer bekannt, der sich mit
K000 Thalern Vermögen auf einem zu 70 000 Thalern abgeschätzten Gute
noch hält! Es wird wenig Kanfmannsgeschäfte und Fabriken geben, wo das
möglich wäre. Und wie viel angenehmer ist die Arbeit und sind die Lebens¬
verhältnisse eines Rittergutsbesitzers als die eines Kaufmanns oder Fabrikbe¬
sitzers! Was heißt das: zu niedrige Preise? An sich ist es gleichgiltig, ob
der Zentner Roggen 2 oder 20 oder 200 Mark gilt, vorausgesetzt, daß alle
Warenpreise, Löhne und Besoldungen entsprechend niedrig oder hoch stehen.
Fassen wir nnn die Konsumenten ins Ange, so war der Preis der landwirt¬
schaftlichen Erzeugnisse, wie wir ihn vor zwei Jahren hatten, für die Familie»
mit einem Einkommen von 2000 bis 5000 Mark gerade recht, für die mit einen,
kleineren Einkommen aber noch zu hoch, denn sie konnten zur Not so viel Kar¬
toffeln und Brot davon beschaffen, als sie zur Sättigung brauchten, und viele
darunter mußten auf Milch, Butter und Fleisch verzichten. Für Haushal¬
tungen mit großem Einkommen sind die Preise der Lebensmittel gleichgiltig.
Unter den Produzenten aber konnten die wenig verschuldeten und die unverschul¬
dete» bei jenen Preisen sehr gut bestehen, während den verschuldeten anch die
jetzigen Preise noch nicht hoch genug sind. In dieser Thatsache, daß die Lebens¬
mittelpreise für einen Teil der Produzenten noch zu niedrig, für einen Teil der
Konsumenten aber schon zu hoch sind, kommt eben das Mißverhältnis zwischen
Boden und Bevölkerung zum Borschein; der Boden reicht für die Bevölkerung
nicht mehr ans.

Die Getreideeinfuhr ist unter diesen Umständen nicht ein Unglück, sondern
ein Glück, eine Notwendigkeit. Von was sollte die Bevölkerung leben, wenn
wir die mehreren Millionen Doppelzentner russischen Roggen und amerikanischen
Weizen nicht ins Land bekämen? Die Beschwerde der Agrarier darüber
wäre nur dann berechtigt, wenn sie das heimische Bedürfnis zu befriedigen
vermöchten, und wenn infolge der Einfuhr ihr eignes Getreide ungenossen ver¬
faulte und ihr Acker unbestellt bliebe. Davon ist aber doch keine Rede. Nun
kann es sein, daß die Getreidezölle den bedrängten Gutsbesitzern augenblickliche
Rettung gebracht und die drohende Katastrophe verschoben haben. Aber sicher¬
lich nnr verschoben. Wem die Katastrophe droht, von dem läßt sie sich durch
Zölle, durch künstliche Hebung der Lebeusmittelpreise auf die Dauer nicht ab¬
wenden. Die Hebung der Lebensmittelpreise hat, wie ja offen zu Tage liegt,
eine entsprechende Erhöhung aller Warenpreise, Löhne und Besoldungen zur
Folge, die schon nach einem Jahre jenen Borten ausgleicht, und die Guts¬
besitzer stehen dann auf dem alten Flecke.

Weit wirksamer würde eine Seisachtheia, eine Erleichterung oder gänzliche
Tilgung der Grundschulen sein; und der Argwohn ist nicht ganz unbegründet,


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[0458] Die soziale Frage mehren kann, der kau« nicht helfen. Die Landwirtschaft an sich bleibt auch bei den Preisen, wie wir sie vor zwei Jahren hatten, immer noch ein gutes und einträgliches Gewerbe, Mir ist ein Gutsbesitzer bekannt, der sich mit K000 Thalern Vermögen auf einem zu 70 000 Thalern abgeschätzten Gute noch hält! Es wird wenig Kanfmannsgeschäfte und Fabriken geben, wo das möglich wäre. Und wie viel angenehmer ist die Arbeit und sind die Lebens¬ verhältnisse eines Rittergutsbesitzers als die eines Kaufmanns oder Fabrikbe¬ sitzers! Was heißt das: zu niedrige Preise? An sich ist es gleichgiltig, ob der Zentner Roggen 2 oder 20 oder 200 Mark gilt, vorausgesetzt, daß alle Warenpreise, Löhne und Besoldungen entsprechend niedrig oder hoch stehen. Fassen wir nnn die Konsumenten ins Ange, so war der Preis der landwirt¬ schaftlichen Erzeugnisse, wie wir ihn vor zwei Jahren hatten, für die Familie» mit einem Einkommen von 2000 bis 5000 Mark gerade recht, für die mit einen, kleineren Einkommen aber noch zu hoch, denn sie konnten zur Not so viel Kar¬ toffeln und Brot davon beschaffen, als sie zur Sättigung brauchten, und viele darunter mußten auf Milch, Butter und Fleisch verzichten. Für Haushal¬ tungen mit großem Einkommen sind die Preise der Lebensmittel gleichgiltig. Unter den Produzenten aber konnten die wenig verschuldeten und die unverschul¬ dete» bei jenen Preisen sehr gut bestehen, während den verschuldeten anch die jetzigen Preise noch nicht hoch genug sind. In dieser Thatsache, daß die Lebens¬ mittelpreise für einen Teil der Produzenten noch zu niedrig, für einen Teil der Konsumenten aber schon zu hoch sind, kommt eben das Mißverhältnis zwischen Boden und Bevölkerung zum Borschein; der Boden reicht für die Bevölkerung nicht mehr ans. Die Getreideeinfuhr ist unter diesen Umständen nicht ein Unglück, sondern ein Glück, eine Notwendigkeit. Von was sollte die Bevölkerung leben, wenn wir die mehreren Millionen Doppelzentner russischen Roggen und amerikanischen Weizen nicht ins Land bekämen? Die Beschwerde der Agrarier darüber wäre nur dann berechtigt, wenn sie das heimische Bedürfnis zu befriedigen vermöchten, und wenn infolge der Einfuhr ihr eignes Getreide ungenossen ver¬ faulte und ihr Acker unbestellt bliebe. Davon ist aber doch keine Rede. Nun kann es sein, daß die Getreidezölle den bedrängten Gutsbesitzern augenblickliche Rettung gebracht und die drohende Katastrophe verschoben haben. Aber sicher¬ lich nnr verschoben. Wem die Katastrophe droht, von dem läßt sie sich durch Zölle, durch künstliche Hebung der Lebeusmittelpreise auf die Dauer nicht ab¬ wenden. Die Hebung der Lebensmittelpreise hat, wie ja offen zu Tage liegt, eine entsprechende Erhöhung aller Warenpreise, Löhne und Besoldungen zur Folge, die schon nach einem Jahre jenen Borten ausgleicht, und die Guts¬ besitzer stehen dann auf dem alten Flecke. Weit wirksamer würde eine Seisachtheia, eine Erleichterung oder gänzliche Tilgung der Grundschulen sein; und der Argwohn ist nicht ganz unbegründet,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/458>, abgerufen am 22.07.2024.