Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Die soziale Frage Seitdem nimmt der natürliche Bevölkerungszuwachs seinen ungestörten Selbstverständlich verläuft die Sache in keinem einzigen Falle genau nach Die soziale Frage Seitdem nimmt der natürliche Bevölkerungszuwachs seinen ungestörten Selbstverständlich verläuft die Sache in keinem einzigen Falle genau nach <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207751"/> <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_1251"> Seitdem nimmt der natürliche Bevölkerungszuwachs seinen ungestörten<lb/> Fortgang, und die Besitzverhältnisse der Landgüter andern sich nach folgendem<lb/> Schema, Denken wir uns einen gräflichen Besitz, der zwei Millionen Thaler<lb/> wert ist, dreißigjährige Geschlechtsfolgen und je vier Kinder. Da zwei davon<lb/> in andre Güter einheiraten, wird das Stammvermögen bei jeder Erbteilung<lb/> halbirt. Demnach zerfällt der ursprüngliche gräfliche Besitz nach sechzig Jahren<lb/> in vier Güter zu 500000 Thalern, die wir als freiherrlich bezeichnen dürfen;<lb/> nach 120 Jahren in 16 Rittergüter zu 125000 Thalern, nach 180 Jahren<lb/> in 64 Bauergüter zu reichlich 30000 Thalern, nach 240 Jahren in 256 klein¬<lb/> bäuerliche Besitzungen zu, 7500 Thalern, nach 300 Jahren in etwa 1000 Acker-<lb/> hüuslerstellen, und nach weiter» 60 Jahren in Parzellen, deren Besitzer auf<lb/> Tagelöhuerarbeit angewiesen sind. In diesem Schema ist die Veränderung der<lb/> Besitzverhültnisse auf den Gütern, die von vornherein kleine Rittergüter oder<lb/> Vanergüter waren, schon mitenthalten. Bleiben die Güter unzerstückelt, und<lb/> werden sie bei der Erbteilung mit Hypotheken belastet, so tritt über kurz oder<lb/> lang ein Zeitpunkt ein. wo sie der Besitzer nicht mehr halten kann. Ein<lb/> Rittergutsbesitzer, dessen Gut 120000 Thaler wert ist, dessen wirkliches Ver¬<lb/> mögen aber nur 10000 Thaler beträgt, hat die Wahl, ob er das Gut auf¬<lb/> geben, oder nicht mehr als Rittergutsbesitzer, fondern als Bauer, was er seinem<lb/> Vermögen unes ist, darauf weiter leben will; d. h. ob er uns herrschaftliche<lb/> Einrichtung, Kost und Kleidung, ans Equipage, auf die Anstellung eines Wirt-<lb/> schnftsinspektors verzichten, eigenhändig Mist laden, seine Söhne auf den Acker<lb/> und hinter die Ochsen, seine Frau und Töchter in den Stall schicken will.<lb/> Und da er sich zum zweiten niemals entschließt, so bleibt ihm nur das erste<lb/> übrig. Der umgekehrte Fall kommt vor; nämlich daß der Bauer ein Gut,<lb/> das 200000 Thaler wert ist, besitzt und fortfährt wie ein Bauer zu leben.<lb/> Natürlich verzehrt ein solcher Maun nicht den fünften Teil seines Einkommens<lb/> und kauft alljährlich neue Äcker dazu und auch zinstragende Papiere. Dem<lb/> bereitet die Versorgung seiner Kinder keine Schwierigkeiten. Merkwürdigerweise<lb/> haben solche Bauern gewöhnlich bloß einen Sohn, und manchmal stirbt auch<lb/> der uoch.</p><lb/> <p xml:id="ID_1252" next="#ID_1253"> Selbstverständlich verläuft die Sache in keinem einzigen Falle genau nach<lb/> dein Schema, aber der Durchschnitt aller Fülle wird ungefähr das Schema<lb/> ergeben. Die Ergänzung des Stammvermögens durch das Zugebrachte der<lb/> Schwiegertöchter ist schon mit angeschlagen, indem wir bei vier Kindern nicht<lb/> Vierteiluug, sondern Zweiteilung annahmen. Meliorationen, Fortschritte der<lb/> Ackerbautechuik kommen durch Vermehrung des Ertrages zwar dem Volts¬<lb/> vermögen, aber nicht dem Vermögen des Besitzers zu gute; dieser kann schon<lb/> froh sein, wenn er die Zinsen des Kapitals hereinbekommt, das er auf Drainagen,<lb/> Düngversnche, neue Maschinen, teure Zuchttiere verwendet. Die Verbindung<lb/> der Industrie mit der Landwirtschaft wirft dem ersten Unternehmer gewöhnlich</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0456]
Die soziale Frage
Seitdem nimmt der natürliche Bevölkerungszuwachs seinen ungestörten
Fortgang, und die Besitzverhältnisse der Landgüter andern sich nach folgendem
Schema, Denken wir uns einen gräflichen Besitz, der zwei Millionen Thaler
wert ist, dreißigjährige Geschlechtsfolgen und je vier Kinder. Da zwei davon
in andre Güter einheiraten, wird das Stammvermögen bei jeder Erbteilung
halbirt. Demnach zerfällt der ursprüngliche gräfliche Besitz nach sechzig Jahren
in vier Güter zu 500000 Thalern, die wir als freiherrlich bezeichnen dürfen;
nach 120 Jahren in 16 Rittergüter zu 125000 Thalern, nach 180 Jahren
in 64 Bauergüter zu reichlich 30000 Thalern, nach 240 Jahren in 256 klein¬
bäuerliche Besitzungen zu, 7500 Thalern, nach 300 Jahren in etwa 1000 Acker-
hüuslerstellen, und nach weiter» 60 Jahren in Parzellen, deren Besitzer auf
Tagelöhuerarbeit angewiesen sind. In diesem Schema ist die Veränderung der
Besitzverhültnisse auf den Gütern, die von vornherein kleine Rittergüter oder
Vanergüter waren, schon mitenthalten. Bleiben die Güter unzerstückelt, und
werden sie bei der Erbteilung mit Hypotheken belastet, so tritt über kurz oder
lang ein Zeitpunkt ein. wo sie der Besitzer nicht mehr halten kann. Ein
Rittergutsbesitzer, dessen Gut 120000 Thaler wert ist, dessen wirkliches Ver¬
mögen aber nur 10000 Thaler beträgt, hat die Wahl, ob er das Gut auf¬
geben, oder nicht mehr als Rittergutsbesitzer, fondern als Bauer, was er seinem
Vermögen unes ist, darauf weiter leben will; d. h. ob er uns herrschaftliche
Einrichtung, Kost und Kleidung, ans Equipage, auf die Anstellung eines Wirt-
schnftsinspektors verzichten, eigenhändig Mist laden, seine Söhne auf den Acker
und hinter die Ochsen, seine Frau und Töchter in den Stall schicken will.
Und da er sich zum zweiten niemals entschließt, so bleibt ihm nur das erste
übrig. Der umgekehrte Fall kommt vor; nämlich daß der Bauer ein Gut,
das 200000 Thaler wert ist, besitzt und fortfährt wie ein Bauer zu leben.
Natürlich verzehrt ein solcher Maun nicht den fünften Teil seines Einkommens
und kauft alljährlich neue Äcker dazu und auch zinstragende Papiere. Dem
bereitet die Versorgung seiner Kinder keine Schwierigkeiten. Merkwürdigerweise
haben solche Bauern gewöhnlich bloß einen Sohn, und manchmal stirbt auch
der uoch.
Selbstverständlich verläuft die Sache in keinem einzigen Falle genau nach
dein Schema, aber der Durchschnitt aller Fülle wird ungefähr das Schema
ergeben. Die Ergänzung des Stammvermögens durch das Zugebrachte der
Schwiegertöchter ist schon mit angeschlagen, indem wir bei vier Kindern nicht
Vierteiluug, sondern Zweiteilung annahmen. Meliorationen, Fortschritte der
Ackerbautechuik kommen durch Vermehrung des Ertrages zwar dem Volts¬
vermögen, aber nicht dem Vermögen des Besitzers zu gute; dieser kann schon
froh sein, wenn er die Zinsen des Kapitals hereinbekommt, das er auf Drainagen,
Düngversnche, neue Maschinen, teure Zuchttiere verwendet. Die Verbindung
der Industrie mit der Landwirtschaft wirft dem ersten Unternehmer gewöhnlich
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