Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die soziale Frage

in trockenen Hallen warm laufen, turnen oder spielen könnten. Oft trinken wir
sogar ohne Bedürfnis, nur um uns die Berechtigttilg zum Verweilen an einem
Erholungsorte zu erkaufen. Den einzigen vernünftigen Ausweg bieten Billard
und Kegelschieben, aber in welcher Luft wird jenes gespielt und in was für
Räumen dieses betrieben! Und beides kostet Geld. Auch die kleinste Stadt
müßte ihre weite lichte Halle haben, mit Spielplätzen für die Kiuder, Turn¬
plätzen für die Jugend, Wandelgäugen für das bequemere Alter, daranstoßenden
Lesezimmern und Bibliotheken, mit Gurten und Vvlksbäderu. Das Gebäude
oder der Gebäudekvmplex müßte ein architektonisches Kunstwerk und mit Kunst¬
werken ausgeschmückt sein: mit Wandmalereien und Statuen. Und jede größere
Stadt müßte eine entsprechende Anzahl solcher Einrichtungen besitzen, sodaß
die ganze Bevölkerung versorgt wäre. Das Mittelalter hatte wenigstens seine
Kirchen, seine Rathäuser, Zunfthäuser und Vadstubeu, aber wir Heutigen haben
gar nichts als das "Lokal" und den Biergarten. Einige Anfänge sind ja
vorhanden in Vereiushänsern, Volksbibliotheken, Volksgarten, Vvlksbäderu; die
in Dresden und Leipzig bestehenden Anstalten dieser Art werden hoffentlich
Nachahmung finden; und in London ist vor wenigen Wochen dem Volke ein
sehr großartiges Erhviungshnus übergeben worden -- für die Wochentage
natürlich, wo das Volk nicht Zeit hat, denn Sonntags darf man sich ja in
England nicht vergnügen. Aber wie vereinzelt bleiben vorläufig diese Anfänge;
wie wenig genügt das alles dem Bedürfnis und wie wenig entspricht es dem
großartigen Zuschnitt des modernen Lebens! Wahrlich, um unsre wirklichen
Bedürfnisse zu befriedigen, würde die doppelte und dreifache Zahl der Bau¬
arbeiter, Gärtner, Künstler und nützlichen Handwerker nicht hinreichen!

Mit diesen Betrachtungen haben wir zugleich die alte, in sittlicher wie in
volkswirtschaftlicher Beziehung gleich wichtige Frage beantwortet, ob und in¬
wieweit der Luxus nützlich oder schädlich sei.

Man muß unterscheiden: 1. solche Dinge, die auf niedern Kulturstufen
als Luxus erscheine", auf höhern aber Bedürfnis sind, und zwar Bedürfnis
jedes einzelnen Menschen. Gut zubereitete Speisen; Kleider, die den Jahres¬
zeiten angemessen sind; ein hinreichender Vorrat reiner Leibwäsche;^trockene, sonnige,
luftige Wohn- und Schlafzimmer; besondre Räume für die mancherlei Ver¬
richtungen, die sich nicht gut mit einander vertragen; eine hinlängliche Menge
reinen Wassers zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden; zweckmäßiges und
bequemes Hausgerät; ein Garten oder ein Gürtcheu; gute Heiz- und Kvch-
vorrichtungen; hellbrennende Lampen; eine Zeitschrift, einige Bücher -- das
sind Dinge, die heutzutage jeder Einzelne haben muß, wenn er sich wohl¬
fühlen soll.

2. solche, die zwar ein Kulturvolk als Ganzes nicht entbehren kann, die
aber nicht jeder Einzelne zu besitzen braucht. Paläste, Juwelen, Brokate, die
Hilfsmittel wissenschaftlicher Forschung, Kunstwerke, Musikinstrumente, Teppich-


Die soziale Frage

in trockenen Hallen warm laufen, turnen oder spielen könnten. Oft trinken wir
sogar ohne Bedürfnis, nur um uns die Berechtigttilg zum Verweilen an einem
Erholungsorte zu erkaufen. Den einzigen vernünftigen Ausweg bieten Billard
und Kegelschieben, aber in welcher Luft wird jenes gespielt und in was für
Räumen dieses betrieben! Und beides kostet Geld. Auch die kleinste Stadt
müßte ihre weite lichte Halle haben, mit Spielplätzen für die Kiuder, Turn¬
plätzen für die Jugend, Wandelgäugen für das bequemere Alter, daranstoßenden
Lesezimmern und Bibliotheken, mit Gurten und Vvlksbäderu. Das Gebäude
oder der Gebäudekvmplex müßte ein architektonisches Kunstwerk und mit Kunst¬
werken ausgeschmückt sein: mit Wandmalereien und Statuen. Und jede größere
Stadt müßte eine entsprechende Anzahl solcher Einrichtungen besitzen, sodaß
die ganze Bevölkerung versorgt wäre. Das Mittelalter hatte wenigstens seine
Kirchen, seine Rathäuser, Zunfthäuser und Vadstubeu, aber wir Heutigen haben
gar nichts als das „Lokal" und den Biergarten. Einige Anfänge sind ja
vorhanden in Vereiushänsern, Volksbibliotheken, Volksgarten, Vvlksbäderu; die
in Dresden und Leipzig bestehenden Anstalten dieser Art werden hoffentlich
Nachahmung finden; und in London ist vor wenigen Wochen dem Volke ein
sehr großartiges Erhviungshnus übergeben worden — für die Wochentage
natürlich, wo das Volk nicht Zeit hat, denn Sonntags darf man sich ja in
England nicht vergnügen. Aber wie vereinzelt bleiben vorläufig diese Anfänge;
wie wenig genügt das alles dem Bedürfnis und wie wenig entspricht es dem
großartigen Zuschnitt des modernen Lebens! Wahrlich, um unsre wirklichen
Bedürfnisse zu befriedigen, würde die doppelte und dreifache Zahl der Bau¬
arbeiter, Gärtner, Künstler und nützlichen Handwerker nicht hinreichen!

Mit diesen Betrachtungen haben wir zugleich die alte, in sittlicher wie in
volkswirtschaftlicher Beziehung gleich wichtige Frage beantwortet, ob und in¬
wieweit der Luxus nützlich oder schädlich sei.

Man muß unterscheiden: 1. solche Dinge, die auf niedern Kulturstufen
als Luxus erscheine», auf höhern aber Bedürfnis sind, und zwar Bedürfnis
jedes einzelnen Menschen. Gut zubereitete Speisen; Kleider, die den Jahres¬
zeiten angemessen sind; ein hinreichender Vorrat reiner Leibwäsche;^trockene, sonnige,
luftige Wohn- und Schlafzimmer; besondre Räume für die mancherlei Ver¬
richtungen, die sich nicht gut mit einander vertragen; eine hinlängliche Menge
reinen Wassers zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden; zweckmäßiges und
bequemes Hausgerät; ein Garten oder ein Gürtcheu; gute Heiz- und Kvch-
vorrichtungen; hellbrennende Lampen; eine Zeitschrift, einige Bücher — das
sind Dinge, die heutzutage jeder Einzelne haben muß, wenn er sich wohl¬
fühlen soll.

2. solche, die zwar ein Kulturvolk als Ganzes nicht entbehren kann, die
aber nicht jeder Einzelne zu besitzen braucht. Paläste, Juwelen, Brokate, die
Hilfsmittel wissenschaftlicher Forschung, Kunstwerke, Musikinstrumente, Teppich-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207745"/>
            <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1231" prev="#ID_1230"> in trockenen Hallen warm laufen, turnen oder spielen könnten. Oft trinken wir<lb/>
sogar ohne Bedürfnis, nur um uns die Berechtigttilg zum Verweilen an einem<lb/>
Erholungsorte zu erkaufen. Den einzigen vernünftigen Ausweg bieten Billard<lb/>
und Kegelschieben, aber in welcher Luft wird jenes gespielt und in was für<lb/>
Räumen dieses betrieben! Und beides kostet Geld. Auch die kleinste Stadt<lb/>
müßte ihre weite lichte Halle haben, mit Spielplätzen für die Kiuder, Turn¬<lb/>
plätzen für die Jugend, Wandelgäugen für das bequemere Alter, daranstoßenden<lb/>
Lesezimmern und Bibliotheken, mit Gurten und Vvlksbäderu. Das Gebäude<lb/>
oder der Gebäudekvmplex müßte ein architektonisches Kunstwerk und mit Kunst¬<lb/>
werken ausgeschmückt sein: mit Wandmalereien und Statuen. Und jede größere<lb/>
Stadt müßte eine entsprechende Anzahl solcher Einrichtungen besitzen, sodaß<lb/>
die ganze Bevölkerung versorgt wäre. Das Mittelalter hatte wenigstens seine<lb/>
Kirchen, seine Rathäuser, Zunfthäuser und Vadstubeu, aber wir Heutigen haben<lb/>
gar nichts als das &#x201E;Lokal" und den Biergarten. Einige Anfänge sind ja<lb/>
vorhanden in Vereiushänsern, Volksbibliotheken, Volksgarten, Vvlksbäderu; die<lb/>
in Dresden und Leipzig bestehenden Anstalten dieser Art werden hoffentlich<lb/>
Nachahmung finden; und in London ist vor wenigen Wochen dem Volke ein<lb/>
sehr großartiges Erhviungshnus übergeben worden &#x2014; für die Wochentage<lb/>
natürlich, wo das Volk nicht Zeit hat, denn Sonntags darf man sich ja in<lb/>
England nicht vergnügen. Aber wie vereinzelt bleiben vorläufig diese Anfänge;<lb/>
wie wenig genügt das alles dem Bedürfnis und wie wenig entspricht es dem<lb/>
großartigen Zuschnitt des modernen Lebens! Wahrlich, um unsre wirklichen<lb/>
Bedürfnisse zu befriedigen, würde die doppelte und dreifache Zahl der Bau¬<lb/>
arbeiter, Gärtner, Künstler und nützlichen Handwerker nicht hinreichen!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1232"> Mit diesen Betrachtungen haben wir zugleich die alte, in sittlicher wie in<lb/>
volkswirtschaftlicher Beziehung gleich wichtige Frage beantwortet, ob und in¬<lb/>
wieweit der Luxus nützlich oder schädlich sei.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1233"> Man muß unterscheiden: 1. solche Dinge, die auf niedern Kulturstufen<lb/>
als Luxus erscheine», auf höhern aber Bedürfnis sind, und zwar Bedürfnis<lb/>
jedes einzelnen Menschen. Gut zubereitete Speisen; Kleider, die den Jahres¬<lb/>
zeiten angemessen sind; ein hinreichender Vorrat reiner Leibwäsche;^trockene, sonnige,<lb/>
luftige Wohn- und Schlafzimmer; besondre Räume für die mancherlei Ver¬<lb/>
richtungen, die sich nicht gut mit einander vertragen; eine hinlängliche Menge<lb/>
reinen Wassers zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden; zweckmäßiges und<lb/>
bequemes Hausgerät; ein Garten oder ein Gürtcheu; gute Heiz- und Kvch-<lb/>
vorrichtungen; hellbrennende Lampen; eine Zeitschrift, einige Bücher &#x2014; das<lb/>
sind Dinge, die heutzutage jeder Einzelne haben muß, wenn er sich wohl¬<lb/>
fühlen soll.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1234" next="#ID_1235"> 2. solche, die zwar ein Kulturvolk als Ganzes nicht entbehren kann, die<lb/>
aber nicht jeder Einzelne zu besitzen braucht. Paläste, Juwelen, Brokate, die<lb/>
Hilfsmittel wissenschaftlicher Forschung, Kunstwerke, Musikinstrumente, Teppich-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Die soziale Frage in trockenen Hallen warm laufen, turnen oder spielen könnten. Oft trinken wir sogar ohne Bedürfnis, nur um uns die Berechtigttilg zum Verweilen an einem Erholungsorte zu erkaufen. Den einzigen vernünftigen Ausweg bieten Billard und Kegelschieben, aber in welcher Luft wird jenes gespielt und in was für Räumen dieses betrieben! Und beides kostet Geld. Auch die kleinste Stadt müßte ihre weite lichte Halle haben, mit Spielplätzen für die Kiuder, Turn¬ plätzen für die Jugend, Wandelgäugen für das bequemere Alter, daranstoßenden Lesezimmern und Bibliotheken, mit Gurten und Vvlksbäderu. Das Gebäude oder der Gebäudekvmplex müßte ein architektonisches Kunstwerk und mit Kunst¬ werken ausgeschmückt sein: mit Wandmalereien und Statuen. Und jede größere Stadt müßte eine entsprechende Anzahl solcher Einrichtungen besitzen, sodaß die ganze Bevölkerung versorgt wäre. Das Mittelalter hatte wenigstens seine Kirchen, seine Rathäuser, Zunfthäuser und Vadstubeu, aber wir Heutigen haben gar nichts als das „Lokal" und den Biergarten. Einige Anfänge sind ja vorhanden in Vereiushänsern, Volksbibliotheken, Volksgarten, Vvlksbäderu; die in Dresden und Leipzig bestehenden Anstalten dieser Art werden hoffentlich Nachahmung finden; und in London ist vor wenigen Wochen dem Volke ein sehr großartiges Erhviungshnus übergeben worden — für die Wochentage natürlich, wo das Volk nicht Zeit hat, denn Sonntags darf man sich ja in England nicht vergnügen. Aber wie vereinzelt bleiben vorläufig diese Anfänge; wie wenig genügt das alles dem Bedürfnis und wie wenig entspricht es dem großartigen Zuschnitt des modernen Lebens! Wahrlich, um unsre wirklichen Bedürfnisse zu befriedigen, würde die doppelte und dreifache Zahl der Bau¬ arbeiter, Gärtner, Künstler und nützlichen Handwerker nicht hinreichen! Mit diesen Betrachtungen haben wir zugleich die alte, in sittlicher wie in volkswirtschaftlicher Beziehung gleich wichtige Frage beantwortet, ob und in¬ wieweit der Luxus nützlich oder schädlich sei. Man muß unterscheiden: 1. solche Dinge, die auf niedern Kulturstufen als Luxus erscheine», auf höhern aber Bedürfnis sind, und zwar Bedürfnis jedes einzelnen Menschen. Gut zubereitete Speisen; Kleider, die den Jahres¬ zeiten angemessen sind; ein hinreichender Vorrat reiner Leibwäsche;^trockene, sonnige, luftige Wohn- und Schlafzimmer; besondre Räume für die mancherlei Ver¬ richtungen, die sich nicht gut mit einander vertragen; eine hinlängliche Menge reinen Wassers zum Trinken, Kochen, Waschen und Baden; zweckmäßiges und bequemes Hausgerät; ein Garten oder ein Gürtcheu; gute Heiz- und Kvch- vorrichtungen; hellbrennende Lampen; eine Zeitschrift, einige Bücher — das sind Dinge, die heutzutage jeder Einzelne haben muß, wenn er sich wohl¬ fühlen soll. 2. solche, die zwar ein Kulturvolk als Ganzes nicht entbehren kann, die aber nicht jeder Einzelne zu besitzen braucht. Paläste, Juwelen, Brokate, die Hilfsmittel wissenschaftlicher Forschung, Kunstwerke, Musikinstrumente, Teppich-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/450>, abgerufen am 02.07.2024.