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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

sind freilich an sich kein Luxus, Wohl aber ist es ihre Überfülle. Gelänge es
nun, einen erheblichen Teil des Volkes aus diesen ungesunden und kärglich
bezahlten Luxusgewerben in die gesundem und besser bezahlten Bedarf"is-
gewerbe überzuleiten, so würde damit für diesen Teil die körperliche, geistige
und wirtschaftliche Gesundheit zurückerobert sein.

Aber könnten denn mehr Arbeiter als bisher in den Bedürfnisgewcrben
Verwendung finden bei der herrschenden Überproduktion? Und ob! An Über¬
produktion, damit kommeu wir zur dritten Seite des Gegenstandes, leiden ja
nur eben dieselben Luxusgewerbe, die ihrer wirtschaftlichen und Gcsnndheits-
schädlichkeit wegen verlassen werden sollten. An allen notwendigen Dingen
dagegen leiden wir, das Volk im ganzen, immer noch Mangel. Wir haben
zwar viel zu viel Krimskrams, Flitterstaat, Taschentücher mit Bildern, das
Stück für drei Pfennige, Abziehbildchen und andre Spielereien, Zeitungen,
Schundlitteratur auf elendem Papier in elenden Einbänden, Fusel und Tabak.
Aber wir haben viel zu wenig Brot. Fleisch, Fische (durch die Abwässer der
Fabriken werden die Bäche in stinkende schwarze Höllenströme verwandelt und
die Fische darin getötet), gute Milch und Butter, gutes Gemüse und Obst,
viel zu wenig geräumige und gesunde Wohnungen, viel zu wenig bequemes
und nützliches Hansgerät und nützliche Maschinen; viel zu wenig gute Bilder
und gute, gut ausgestattete Bücher in guten Einbänden (im Buchladen stecken
sie wohl, aber dem Einzelnen, der sie braucht, sind sie meist unerreichbar); viel
zu wenig Gärten, viel zu wenig Luft, Wasser und Reinlichkeit. Luft und
Reinlichkeit kosten nämlich in größern Städten weit mehr Geld, als neun
Zehntel der Einwohner dranzuwenden haben, um bei Tag und bei Nacht
gesunde Luft atmen zu können, muß der Großstädter auf Wohnung mindestens
vierhundert Thaler ausgeben. Und Reinlichkeit ist im Norden ohne einen
gewissen Wäschvorrat, ohne häufige Anwendung von heißem Wasser und Seife
und die damit verbundene mühselige, unangenehme und nicht ganz billige
Arbeit nicht möglich. Was uns endlich ganz fehlt, das sind öffentliche Ge¬
bäude, wie sie die alten Griechen und Römer in ihren Gymnasien, Stoen und
Bädern besaßen, und zu deren Einrichtung unsre vielgerllhmte Kultur sich noch
uiuner nicht aufgeschwungen hat, obwohl wir sie viel nötiger brauchen als die
südlichen Völker. Wie armselig sind unsre großen Städte mit Kinderspiel¬
plätzen ausgestattet! Wie viel tausend Kinder sind auf die Straße angewiesen,
Wenn sie die Polizei dort duldet, lind nun gar im Winter! Namentlich bei
Regenwetter; denn wenn Schnee liegt und die -- für Ärmere freilich meist
unerschwinglich terre -- Eisbahn geöffnet ist, da geht es ja. Und was machen
Wir Erwachsenen bei Regenwetter? Wir kriechen in Spelunken, deren Luft und
Behaglichkeit für Sträflinge gerade gut genug wäre, und hocken dort beim
Biere, oder wenn es gar zu naßkalt ist, bei wärmendem aber dafür teureren
Getränken, nach denen wir keine Sehnsucht empfinden würden, wenn wir uns


GreiizbiUen II 1M0 56
Die soziale Frage

sind freilich an sich kein Luxus, Wohl aber ist es ihre Überfülle. Gelänge es
nun, einen erheblichen Teil des Volkes aus diesen ungesunden und kärglich
bezahlten Luxusgewerben in die gesundem und besser bezahlten Bedarf»is-
gewerbe überzuleiten, so würde damit für diesen Teil die körperliche, geistige
und wirtschaftliche Gesundheit zurückerobert sein.

Aber könnten denn mehr Arbeiter als bisher in den Bedürfnisgewcrben
Verwendung finden bei der herrschenden Überproduktion? Und ob! An Über¬
produktion, damit kommeu wir zur dritten Seite des Gegenstandes, leiden ja
nur eben dieselben Luxusgewerbe, die ihrer wirtschaftlichen und Gcsnndheits-
schädlichkeit wegen verlassen werden sollten. An allen notwendigen Dingen
dagegen leiden wir, das Volk im ganzen, immer noch Mangel. Wir haben
zwar viel zu viel Krimskrams, Flitterstaat, Taschentücher mit Bildern, das
Stück für drei Pfennige, Abziehbildchen und andre Spielereien, Zeitungen,
Schundlitteratur auf elendem Papier in elenden Einbänden, Fusel und Tabak.
Aber wir haben viel zu wenig Brot. Fleisch, Fische (durch die Abwässer der
Fabriken werden die Bäche in stinkende schwarze Höllenströme verwandelt und
die Fische darin getötet), gute Milch und Butter, gutes Gemüse und Obst,
viel zu wenig geräumige und gesunde Wohnungen, viel zu wenig bequemes
und nützliches Hansgerät und nützliche Maschinen; viel zu wenig gute Bilder
und gute, gut ausgestattete Bücher in guten Einbänden (im Buchladen stecken
sie wohl, aber dem Einzelnen, der sie braucht, sind sie meist unerreichbar); viel
zu wenig Gärten, viel zu wenig Luft, Wasser und Reinlichkeit. Luft und
Reinlichkeit kosten nämlich in größern Städten weit mehr Geld, als neun
Zehntel der Einwohner dranzuwenden haben, um bei Tag und bei Nacht
gesunde Luft atmen zu können, muß der Großstädter auf Wohnung mindestens
vierhundert Thaler ausgeben. Und Reinlichkeit ist im Norden ohne einen
gewissen Wäschvorrat, ohne häufige Anwendung von heißem Wasser und Seife
und die damit verbundene mühselige, unangenehme und nicht ganz billige
Arbeit nicht möglich. Was uns endlich ganz fehlt, das sind öffentliche Ge¬
bäude, wie sie die alten Griechen und Römer in ihren Gymnasien, Stoen und
Bädern besaßen, und zu deren Einrichtung unsre vielgerllhmte Kultur sich noch
uiuner nicht aufgeschwungen hat, obwohl wir sie viel nötiger brauchen als die
südlichen Völker. Wie armselig sind unsre großen Städte mit Kinderspiel¬
plätzen ausgestattet! Wie viel tausend Kinder sind auf die Straße angewiesen,
Wenn sie die Polizei dort duldet, lind nun gar im Winter! Namentlich bei
Regenwetter; denn wenn Schnee liegt und die — für Ärmere freilich meist
unerschwinglich terre — Eisbahn geöffnet ist, da geht es ja. Und was machen
Wir Erwachsenen bei Regenwetter? Wir kriechen in Spelunken, deren Luft und
Behaglichkeit für Sträflinge gerade gut genug wäre, und hocken dort beim
Biere, oder wenn es gar zu naßkalt ist, bei wärmendem aber dafür teureren
Getränken, nach denen wir keine Sehnsucht empfinden würden, wenn wir uns


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[0449] Die soziale Frage sind freilich an sich kein Luxus, Wohl aber ist es ihre Überfülle. Gelänge es nun, einen erheblichen Teil des Volkes aus diesen ungesunden und kärglich bezahlten Luxusgewerben in die gesundem und besser bezahlten Bedarf»is- gewerbe überzuleiten, so würde damit für diesen Teil die körperliche, geistige und wirtschaftliche Gesundheit zurückerobert sein. Aber könnten denn mehr Arbeiter als bisher in den Bedürfnisgewcrben Verwendung finden bei der herrschenden Überproduktion? Und ob! An Über¬ produktion, damit kommeu wir zur dritten Seite des Gegenstandes, leiden ja nur eben dieselben Luxusgewerbe, die ihrer wirtschaftlichen und Gcsnndheits- schädlichkeit wegen verlassen werden sollten. An allen notwendigen Dingen dagegen leiden wir, das Volk im ganzen, immer noch Mangel. Wir haben zwar viel zu viel Krimskrams, Flitterstaat, Taschentücher mit Bildern, das Stück für drei Pfennige, Abziehbildchen und andre Spielereien, Zeitungen, Schundlitteratur auf elendem Papier in elenden Einbänden, Fusel und Tabak. Aber wir haben viel zu wenig Brot. Fleisch, Fische (durch die Abwässer der Fabriken werden die Bäche in stinkende schwarze Höllenströme verwandelt und die Fische darin getötet), gute Milch und Butter, gutes Gemüse und Obst, viel zu wenig geräumige und gesunde Wohnungen, viel zu wenig bequemes und nützliches Hansgerät und nützliche Maschinen; viel zu wenig gute Bilder und gute, gut ausgestattete Bücher in guten Einbänden (im Buchladen stecken sie wohl, aber dem Einzelnen, der sie braucht, sind sie meist unerreichbar); viel zu wenig Gärten, viel zu wenig Luft, Wasser und Reinlichkeit. Luft und Reinlichkeit kosten nämlich in größern Städten weit mehr Geld, als neun Zehntel der Einwohner dranzuwenden haben, um bei Tag und bei Nacht gesunde Luft atmen zu können, muß der Großstädter auf Wohnung mindestens vierhundert Thaler ausgeben. Und Reinlichkeit ist im Norden ohne einen gewissen Wäschvorrat, ohne häufige Anwendung von heißem Wasser und Seife und die damit verbundene mühselige, unangenehme und nicht ganz billige Arbeit nicht möglich. Was uns endlich ganz fehlt, das sind öffentliche Ge¬ bäude, wie sie die alten Griechen und Römer in ihren Gymnasien, Stoen und Bädern besaßen, und zu deren Einrichtung unsre vielgerllhmte Kultur sich noch uiuner nicht aufgeschwungen hat, obwohl wir sie viel nötiger brauchen als die südlichen Völker. Wie armselig sind unsre großen Städte mit Kinderspiel¬ plätzen ausgestattet! Wie viel tausend Kinder sind auf die Straße angewiesen, Wenn sie die Polizei dort duldet, lind nun gar im Winter! Namentlich bei Regenwetter; denn wenn Schnee liegt und die — für Ärmere freilich meist unerschwinglich terre — Eisbahn geöffnet ist, da geht es ja. Und was machen Wir Erwachsenen bei Regenwetter? Wir kriechen in Spelunken, deren Luft und Behaglichkeit für Sträflinge gerade gut genug wäre, und hocken dort beim Biere, oder wenn es gar zu naßkalt ist, bei wärmendem aber dafür teureren Getränken, nach denen wir keine Sehnsucht empfinden würden, wenn wir uns GreiizbiUen II 1M0 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/449>, abgerufen am 30.06.2024.