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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

Schultern unterbrochen, was zwar den streng geometrischen Umriß der Figur
aufhebt, aber weder zur Verschönerung dient, noch dazu, den wandelnden Holz¬
kegel der Menschengestalt ähnlicher zu machen.) Niemand würde mehr durch
spitzschnäblige Hakenschuhe auf Verkuppelung seiner Füße hinarbeiten. Man
würde der ürmern Jngend nicht mehr verbieten, im Sommer barfuß zur Schule
zu kommen, vielmehr auch die Kinder der Reichen anhalten, beim sommerlichen
Spiel im Freien die Fußbekleidung abzulegen, weil nur durch zeitweiliges
Varfußgehen der Fuß völlig gesund und wohlgebildet erhalten werden kann.
Endlich würde es weder an warmer Winterkleidung noch an hinreichender
Nahrung fehlen.

Zweitens sind es gerade jene überflüssigen Dinge, bei deren Herstellung
die Arbeiter verkümmern, während die Gewerbe, die sich mit der Erzeugung
des notwendigen beschäftigen, größtenteils gesund sind. Gesunde Gewerbe sind
die Landwirtschaft, die Gärtnerei, die Baugewerbe, die Wagenbcmerei (in einer
Gesellschaft von Handwerksgesellen erkennt man die Zimmerleute und Stell¬
macher schon am schönen Wuchse), die Maschinenbauerei und die meisten der
übrigen Eisenindustrien (sofern nicht durch Überanstrengung Schwindsucht und
andre Leiden erzeugt werden), die Tischlerei, die Gerberei, die Sattlerei, die
Fleischerei und die übrigen Nahruugsmittelgewerbe mit Ausnahme der Bäckerei.
Zugleich werden in diesen Gewerben die höchsten Löhne gezahlt, mit Ausnahme
der Landwirtschaft, wo jedoch die Geringfügigkeit des Lohnes durch kräftige
Naturalverpflegung, gesunde Lebensweise und Bedürfnislosigkeit leicht aus¬
geglichen werden kann und bisher auch meist ausgeglichen wurde. Fast nur
eins giebt es unter den großen und notwendigen Gewerben, das ungesund ist
und schlecht bezahlt wird, die Schneiderei. Die Schühmacherarbeit wird eben¬
falls schlecht bezahlt, ist aber nicht in demselben Grade ungesund. Die Hand¬
weberei rechnen wir nicht, weil ihr Weiterbetrieb unter den gegenwärtigen
Umstünden keinen Sinn mehr hat. Dagegen sind die mit Herstellung des
unnützen Flitterkrams beschäftigten Gewerbe die ungesundesten und zugleich
gerade die, in denen Hungerlöhne die Regel bilden. So z. B. wurde vor ein
paar Jahren in Breslau amtlich ermittelt, daß die Spulerinnen und Maschinen-
dreherinnen in der Posamentenfabrikation, die Strvhhntnäherinnen, die Pack¬
mädchen in den Zigarettenfabriken, die Arbeiterinnen in der Vuntpapier-
fnbrikation auch bei übermüßig langen Arbeitsschichten nicht höher als auf
drei bis fünf Mark Wochenlohn kommen. In vielen Zweigen der Luxus¬
industrie werden giftige Stoffe verwendet und wird anhaltendes Sitzen in
schlechter Luft erfordert. Das Elend der verschiednen Klassen der Weber ist
allgemein bekannt; die englischen Bandweber und Strumpfwirker marschirten
immer an der Spitze jener Arbeiterklassen, deren Lage schon vor achtzig Jahren
die Menschenfreunde zur Erörterung der Frage nötigte, ob der Fortschritt der
Industrie wirklich ein Segen und nicht vielmehr ein Fluch sei. Die Gewebe


Die soziale Frage

Schultern unterbrochen, was zwar den streng geometrischen Umriß der Figur
aufhebt, aber weder zur Verschönerung dient, noch dazu, den wandelnden Holz¬
kegel der Menschengestalt ähnlicher zu machen.) Niemand würde mehr durch
spitzschnäblige Hakenschuhe auf Verkuppelung seiner Füße hinarbeiten. Man
würde der ürmern Jngend nicht mehr verbieten, im Sommer barfuß zur Schule
zu kommen, vielmehr auch die Kinder der Reichen anhalten, beim sommerlichen
Spiel im Freien die Fußbekleidung abzulegen, weil nur durch zeitweiliges
Varfußgehen der Fuß völlig gesund und wohlgebildet erhalten werden kann.
Endlich würde es weder an warmer Winterkleidung noch an hinreichender
Nahrung fehlen.

Zweitens sind es gerade jene überflüssigen Dinge, bei deren Herstellung
die Arbeiter verkümmern, während die Gewerbe, die sich mit der Erzeugung
des notwendigen beschäftigen, größtenteils gesund sind. Gesunde Gewerbe sind
die Landwirtschaft, die Gärtnerei, die Baugewerbe, die Wagenbcmerei (in einer
Gesellschaft von Handwerksgesellen erkennt man die Zimmerleute und Stell¬
macher schon am schönen Wuchse), die Maschinenbauerei und die meisten der
übrigen Eisenindustrien (sofern nicht durch Überanstrengung Schwindsucht und
andre Leiden erzeugt werden), die Tischlerei, die Gerberei, die Sattlerei, die
Fleischerei und die übrigen Nahruugsmittelgewerbe mit Ausnahme der Bäckerei.
Zugleich werden in diesen Gewerben die höchsten Löhne gezahlt, mit Ausnahme
der Landwirtschaft, wo jedoch die Geringfügigkeit des Lohnes durch kräftige
Naturalverpflegung, gesunde Lebensweise und Bedürfnislosigkeit leicht aus¬
geglichen werden kann und bisher auch meist ausgeglichen wurde. Fast nur
eins giebt es unter den großen und notwendigen Gewerben, das ungesund ist
und schlecht bezahlt wird, die Schneiderei. Die Schühmacherarbeit wird eben¬
falls schlecht bezahlt, ist aber nicht in demselben Grade ungesund. Die Hand¬
weberei rechnen wir nicht, weil ihr Weiterbetrieb unter den gegenwärtigen
Umstünden keinen Sinn mehr hat. Dagegen sind die mit Herstellung des
unnützen Flitterkrams beschäftigten Gewerbe die ungesundesten und zugleich
gerade die, in denen Hungerlöhne die Regel bilden. So z. B. wurde vor ein
paar Jahren in Breslau amtlich ermittelt, daß die Spulerinnen und Maschinen-
dreherinnen in der Posamentenfabrikation, die Strvhhntnäherinnen, die Pack¬
mädchen in den Zigarettenfabriken, die Arbeiterinnen in der Vuntpapier-
fnbrikation auch bei übermüßig langen Arbeitsschichten nicht höher als auf
drei bis fünf Mark Wochenlohn kommen. In vielen Zweigen der Luxus¬
industrie werden giftige Stoffe verwendet und wird anhaltendes Sitzen in
schlechter Luft erfordert. Das Elend der verschiednen Klassen der Weber ist
allgemein bekannt; die englischen Bandweber und Strumpfwirker marschirten
immer an der Spitze jener Arbeiterklassen, deren Lage schon vor achtzig Jahren
die Menschenfreunde zur Erörterung der Frage nötigte, ob der Fortschritt der
Industrie wirklich ein Segen und nicht vielmehr ein Fluch sei. Die Gewebe


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[0448] Die soziale Frage Schultern unterbrochen, was zwar den streng geometrischen Umriß der Figur aufhebt, aber weder zur Verschönerung dient, noch dazu, den wandelnden Holz¬ kegel der Menschengestalt ähnlicher zu machen.) Niemand würde mehr durch spitzschnäblige Hakenschuhe auf Verkuppelung seiner Füße hinarbeiten. Man würde der ürmern Jngend nicht mehr verbieten, im Sommer barfuß zur Schule zu kommen, vielmehr auch die Kinder der Reichen anhalten, beim sommerlichen Spiel im Freien die Fußbekleidung abzulegen, weil nur durch zeitweiliges Varfußgehen der Fuß völlig gesund und wohlgebildet erhalten werden kann. Endlich würde es weder an warmer Winterkleidung noch an hinreichender Nahrung fehlen. Zweitens sind es gerade jene überflüssigen Dinge, bei deren Herstellung die Arbeiter verkümmern, während die Gewerbe, die sich mit der Erzeugung des notwendigen beschäftigen, größtenteils gesund sind. Gesunde Gewerbe sind die Landwirtschaft, die Gärtnerei, die Baugewerbe, die Wagenbcmerei (in einer Gesellschaft von Handwerksgesellen erkennt man die Zimmerleute und Stell¬ macher schon am schönen Wuchse), die Maschinenbauerei und die meisten der übrigen Eisenindustrien (sofern nicht durch Überanstrengung Schwindsucht und andre Leiden erzeugt werden), die Tischlerei, die Gerberei, die Sattlerei, die Fleischerei und die übrigen Nahruugsmittelgewerbe mit Ausnahme der Bäckerei. Zugleich werden in diesen Gewerben die höchsten Löhne gezahlt, mit Ausnahme der Landwirtschaft, wo jedoch die Geringfügigkeit des Lohnes durch kräftige Naturalverpflegung, gesunde Lebensweise und Bedürfnislosigkeit leicht aus¬ geglichen werden kann und bisher auch meist ausgeglichen wurde. Fast nur eins giebt es unter den großen und notwendigen Gewerben, das ungesund ist und schlecht bezahlt wird, die Schneiderei. Die Schühmacherarbeit wird eben¬ falls schlecht bezahlt, ist aber nicht in demselben Grade ungesund. Die Hand¬ weberei rechnen wir nicht, weil ihr Weiterbetrieb unter den gegenwärtigen Umstünden keinen Sinn mehr hat. Dagegen sind die mit Herstellung des unnützen Flitterkrams beschäftigten Gewerbe die ungesundesten und zugleich gerade die, in denen Hungerlöhne die Regel bilden. So z. B. wurde vor ein paar Jahren in Breslau amtlich ermittelt, daß die Spulerinnen und Maschinen- dreherinnen in der Posamentenfabrikation, die Strvhhntnäherinnen, die Pack¬ mädchen in den Zigarettenfabriken, die Arbeiterinnen in der Vuntpapier- fnbrikation auch bei übermüßig langen Arbeitsschichten nicht höher als auf drei bis fünf Mark Wochenlohn kommen. In vielen Zweigen der Luxus¬ industrie werden giftige Stoffe verwendet und wird anhaltendes Sitzen in schlechter Luft erfordert. Das Elend der verschiednen Klassen der Weber ist allgemein bekannt; die englischen Bandweber und Strumpfwirker marschirten immer an der Spitze jener Arbeiterklassen, deren Lage schon vor achtzig Jahren die Menschenfreunde zur Erörterung der Frage nötigte, ob der Fortschritt der Industrie wirklich ein Segen und nicht vielmehr ein Fluch sei. Die Gewebe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/448>, abgerufen am 28.12.2024.