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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

schlechtsfolge" dienen), sondern auch für ihn ist der schwarze Rock alö rigusur
(fiir Pariser Dinge ist wohl ein französischer Ausdruck erlaubt?). Auch er
trügt Handschuhe und gesteifte Manschetten; auch er trägt eine Talmiuhrkette
und eine Talmibnsennndel. Auch er beschenkt seine Freunde und seinen Schatz
mit der Photographie seines geistreichen Antlitzes. Auch er hält sich sür ver¬
pflichtet, die schöne Gotteswelt mit dem Qualmseiner Stinkadores zu verpesten.
Und das geht nun so durch alle Schichten hindurch, bis zu deu Korpsstudenten
hinauf, die sich für "verpflichtet" halten, auf der Eisenbahn erster Klasse zu
fahren. Sommer wie Winter neue "Saisvnanzüge" sür Manu, Frau und
sämtliche Kinder, die Saisondamenhüte, die um so teurer sind, je weniger
daran ist (dieses Jahr soll es eine Sorte geben, die nur noch aus einem gar-
nirten Loche besteht), die Photographien jedes einzelnen Familiengliedes mit
zeitweiligen Gruppenaufnahmen, die Visitenkarten, ohne die selbst der zwölf¬
jährige Schuljunge nicht mehr bestehen kann, die Handschuhe, ohne die kein
fünfjähriges Mädchen mehr über die Straße geht, die ebenso teuern als un¬
nützen und zum Teil schädliche" Spielwnre" sür die kleineren Kinder; alles das
und verschiednes andre, was den Lesern aus dem Leben, aus ernsthaften Straf¬
predigten und illustrirten Witzblättern zur Genüge bekannt ist, fängt schon in
den Beamten- und Handwerkerfamilien mit 720 Mark Einkommen an. Kein
Wunder, daß die Butterschnitten immer kleiner und magerer werden, daß ein
ordentlicher Braten niemals ans den Tisch kommt, und daß die Familie
trotzdem bis über die Ohren in Schulden steckt. Etwas höher hinauf finden
wir die berüchtigte, mit tausenderlei geschmacklosen Raritätenkram angefüllte
"gute Stube," der zuliebe die Familie sich beim Schlafen in ein ungesundes
Loch zusammendrängt; dazu dann den Wirtshausbesuch, unnötige Badereisen,
die Vereinsfexerei und den Skat des Mannes u. s. w. Mit einem Worte:
niemand reicht mehr mit seinem Einkommen aus, weil ihn die Mode zwingt,
oder weil er sich einbildet, daß die Mode ihn zwinge, einen beträchtlichen Teil
seiner Einnahmen auf unnütze Dinge zu verwende".

Und nun beachte man, wie gewaltig und wohlthätig eine Umkehr von
dieser verhängnisvollen Geschmacksverirrung noch nach drei andern Seiten hi"
wirken würde! Zuvörderst würden alle die, die bisher um des Überflüssigem
Willen auf das Notwendige verzichtet haben, nicht bloß ihre Finanzen in
^rdnnng bringen, sondern auch gesünder und schöner, ein wenig mehr
^"Xoxä-s^ol werden. Man würde seine Erholung im Freien und nicht in
Räumen suchen, die durch Tabaksqualm und Alkvholdünste verpestet sind. Mai-
Würde die größten und schönsten Zimmer zum Wohnen und Schlafen benutze",
^le Frauen würden sich nicht mehr schnüren und nicht bald mit den Umriß-
linien eines Vogel Strauß, bald als wandelnde Doppelholzkegel mit dazwischen-
geschvbemm Viereck in der Öffentlichkeit erscheinen. (Seit einigen Jahren wird
^ Parallelogrammfvrm des großen Kragens dnrch die zwei Hörnchen auf den


Die soziale Frage

schlechtsfolge» dienen), sondern auch für ihn ist der schwarze Rock alö rigusur
(fiir Pariser Dinge ist wohl ein französischer Ausdruck erlaubt?). Auch er
trügt Handschuhe und gesteifte Manschetten; auch er trägt eine Talmiuhrkette
und eine Talmibnsennndel. Auch er beschenkt seine Freunde und seinen Schatz
mit der Photographie seines geistreichen Antlitzes. Auch er hält sich sür ver¬
pflichtet, die schöne Gotteswelt mit dem Qualmseiner Stinkadores zu verpesten.
Und das geht nun so durch alle Schichten hindurch, bis zu deu Korpsstudenten
hinauf, die sich für „verpflichtet" halten, auf der Eisenbahn erster Klasse zu
fahren. Sommer wie Winter neue „Saisvnanzüge" sür Manu, Frau und
sämtliche Kinder, die Saisondamenhüte, die um so teurer sind, je weniger
daran ist (dieses Jahr soll es eine Sorte geben, die nur noch aus einem gar-
nirten Loche besteht), die Photographien jedes einzelnen Familiengliedes mit
zeitweiligen Gruppenaufnahmen, die Visitenkarten, ohne die selbst der zwölf¬
jährige Schuljunge nicht mehr bestehen kann, die Handschuhe, ohne die kein
fünfjähriges Mädchen mehr über die Straße geht, die ebenso teuern als un¬
nützen und zum Teil schädliche» Spielwnre» sür die kleineren Kinder; alles das
und verschiednes andre, was den Lesern aus dem Leben, aus ernsthaften Straf¬
predigten und illustrirten Witzblättern zur Genüge bekannt ist, fängt schon in
den Beamten- und Handwerkerfamilien mit 720 Mark Einkommen an. Kein
Wunder, daß die Butterschnitten immer kleiner und magerer werden, daß ein
ordentlicher Braten niemals ans den Tisch kommt, und daß die Familie
trotzdem bis über die Ohren in Schulden steckt. Etwas höher hinauf finden
wir die berüchtigte, mit tausenderlei geschmacklosen Raritätenkram angefüllte
„gute Stube," der zuliebe die Familie sich beim Schlafen in ein ungesundes
Loch zusammendrängt; dazu dann den Wirtshausbesuch, unnötige Badereisen,
die Vereinsfexerei und den Skat des Mannes u. s. w. Mit einem Worte:
niemand reicht mehr mit seinem Einkommen aus, weil ihn die Mode zwingt,
oder weil er sich einbildet, daß die Mode ihn zwinge, einen beträchtlichen Teil
seiner Einnahmen auf unnütze Dinge zu verwende».

Und nun beachte man, wie gewaltig und wohlthätig eine Umkehr von
dieser verhängnisvollen Geschmacksverirrung noch nach drei andern Seiten hi»
wirken würde! Zuvörderst würden alle die, die bisher um des Überflüssigem
Willen auf das Notwendige verzichtet haben, nicht bloß ihre Finanzen in
^rdnnng bringen, sondern auch gesünder und schöner, ein wenig mehr
^«Xoxä-s^ol werden. Man würde seine Erholung im Freien und nicht in
Räumen suchen, die durch Tabaksqualm und Alkvholdünste verpestet sind. Mai-
Würde die größten und schönsten Zimmer zum Wohnen und Schlafen benutze»,
^le Frauen würden sich nicht mehr schnüren und nicht bald mit den Umriß-
linien eines Vogel Strauß, bald als wandelnde Doppelholzkegel mit dazwischen-
geschvbemm Viereck in der Öffentlichkeit erscheinen. (Seit einigen Jahren wird
^ Parallelogrammfvrm des großen Kragens dnrch die zwei Hörnchen auf den


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[0447] Die soziale Frage schlechtsfolge» dienen), sondern auch für ihn ist der schwarze Rock alö rigusur (fiir Pariser Dinge ist wohl ein französischer Ausdruck erlaubt?). Auch er trügt Handschuhe und gesteifte Manschetten; auch er trägt eine Talmiuhrkette und eine Talmibnsennndel. Auch er beschenkt seine Freunde und seinen Schatz mit der Photographie seines geistreichen Antlitzes. Auch er hält sich sür ver¬ pflichtet, die schöne Gotteswelt mit dem Qualmseiner Stinkadores zu verpesten. Und das geht nun so durch alle Schichten hindurch, bis zu deu Korpsstudenten hinauf, die sich für „verpflichtet" halten, auf der Eisenbahn erster Klasse zu fahren. Sommer wie Winter neue „Saisvnanzüge" sür Manu, Frau und sämtliche Kinder, die Saisondamenhüte, die um so teurer sind, je weniger daran ist (dieses Jahr soll es eine Sorte geben, die nur noch aus einem gar- nirten Loche besteht), die Photographien jedes einzelnen Familiengliedes mit zeitweiligen Gruppenaufnahmen, die Visitenkarten, ohne die selbst der zwölf¬ jährige Schuljunge nicht mehr bestehen kann, die Handschuhe, ohne die kein fünfjähriges Mädchen mehr über die Straße geht, die ebenso teuern als un¬ nützen und zum Teil schädliche» Spielwnre» sür die kleineren Kinder; alles das und verschiednes andre, was den Lesern aus dem Leben, aus ernsthaften Straf¬ predigten und illustrirten Witzblättern zur Genüge bekannt ist, fängt schon in den Beamten- und Handwerkerfamilien mit 720 Mark Einkommen an. Kein Wunder, daß die Butterschnitten immer kleiner und magerer werden, daß ein ordentlicher Braten niemals ans den Tisch kommt, und daß die Familie trotzdem bis über die Ohren in Schulden steckt. Etwas höher hinauf finden wir die berüchtigte, mit tausenderlei geschmacklosen Raritätenkram angefüllte „gute Stube," der zuliebe die Familie sich beim Schlafen in ein ungesundes Loch zusammendrängt; dazu dann den Wirtshausbesuch, unnötige Badereisen, die Vereinsfexerei und den Skat des Mannes u. s. w. Mit einem Worte: niemand reicht mehr mit seinem Einkommen aus, weil ihn die Mode zwingt, oder weil er sich einbildet, daß die Mode ihn zwinge, einen beträchtlichen Teil seiner Einnahmen auf unnütze Dinge zu verwende». Und nun beachte man, wie gewaltig und wohlthätig eine Umkehr von dieser verhängnisvollen Geschmacksverirrung noch nach drei andern Seiten hi» wirken würde! Zuvörderst würden alle die, die bisher um des Überflüssigem Willen auf das Notwendige verzichtet haben, nicht bloß ihre Finanzen in ^rdnnng bringen, sondern auch gesünder und schöner, ein wenig mehr ^«Xoxä-s^ol werden. Man würde seine Erholung im Freien und nicht in Räumen suchen, die durch Tabaksqualm und Alkvholdünste verpestet sind. Mai- Würde die größten und schönsten Zimmer zum Wohnen und Schlafen benutze», ^le Frauen würden sich nicht mehr schnüren und nicht bald mit den Umriß- linien eines Vogel Strauß, bald als wandelnde Doppelholzkegel mit dazwischen- geschvbemm Viereck in der Öffentlichkeit erscheinen. (Seit einigen Jahren wird ^ Parallelogrammfvrm des großen Kragens dnrch die zwei Hörnchen auf den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/447>, abgerufen am 21.06.2024.